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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

88–89

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grundtexte der neueren evangelischen Theologie. Hrsg. u. eingel. v. W. Härle. 2., verb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 496 S. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02469-8.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Die 2007 von Wilfried Härle herausgegebenen »Grundtexte der neueren evangelischen Theologie« werden in diesem Band in einer zweiten und erweiterten Auflage vorgelegt, die gegenüber der ersten Auflage um einige wichtige Texte ergänzt wurde, wobei wichtige Anregungen zu Erweiterungen aus den Gesprächen mit den Übersetzern in die baltischen Sprachen resultieren. Ergänzt wurde daraufhin ein Text von Albert Schweitzer aus seiner »Ge­schichte der Leben-Jesu-Forschung« (1906), in dem er diese »als ›eine einzigartig große Wahrhaftigkeitstat‹« (97) würdigt. Weiter wurde ein zweiter Text von Paul Althaus aus dessen Lehrbuch der Dogmatik Die christliche Wahrheit aufgenommen, der die »Notwendigkeit der Lehre von der Ur-Offenbarung« (XXXVI) erklärt, sowie als ein zweiter Text von Eberhard Jüngel dessen Aufsatz »Der menschliche Mensch« von 1985, der die reformatorische Unterscheidung von Person und Werk in ihrer Bedeutung für gegenwärtige Anthropologie erschließt.
Des Weiteren hat der Herausgeber einen Text des Philosophen Erwin Metzke über Sakrament und Metaphysik in den Band aufgenommen. Obwohl Metzke Philosoph war und der Text wenig be­kannt ist, erhellt sich der Rang dieses Textes als eines Grundtextes der neueren evangelischen Theologie gleichwohl aus der wegweisenden Interpretation der Ubiquitätslehre Martin Luthers. Denn Metzke zeigt, wie Luther gegenständlich-räumliche Vorstellungsweisen von Gottes Präsenz überwindet und ein vertieftes Verständnis eröffnet.
Schließlich ist der Herausgeber auch zwei Anregungen aus meiner Rezension der ersten Auflage (in ThLZ 134 [2009], 1361–1368) gefolgt, indem er einen Text von David Friedrich Strauß und einen von Falk Wagner aufgenommen hat. Von Strauß bietet er Passagen aus dessen letztem Werk Der alte und der neue Glaube (1872), in dem Strauß seine hegelianisch fundierte Christentumskritik »durch eine vom Materialismus und Darwinismus geprägte Weltanschauung ersetzt« (XX). Als theologischer Grundtext kann dieser in höchs­tem Maße christentums- und kirchenkritische Text insofern gelten, als er gegenüber dem von Strauß in seiner Auseinandersetzung mit den biblischen Grundlagen und der dogmatischen Auslegungstradition »errungenen Abschied von der Theologie« (ebd.) zu einer Relektüre und Neuformierung der Theologie motiviert, die denn auch auf verschiedenen Wegen im 20. Jh. stattgefunden haben. Von Falk Wagner hat der Herausgeber den Text Die Wirklichkeit Gottes als Geist von 1977 ausgewählt, in dem Wagner ausgehend von dem Widerspruch zwischen Gottes Herrschaft und Liebe (348) die Selbstbewegung Gottes bis ans Kreuz und seine Selbstauslegung als Geist als Spezifikum des christlichen Gottesgedankens (350) zur Geltung bringt. Gott konstituiere sich, indem er sich zur »Selbstexplikation im anderen« (355) bestimme, als Geist der Liebe und Freiheit. Indem der Mensch durch Gottes Selbstentfaltung nunmehr wissen könne, »was Gott als Geist ist, ist die Realisierung des Geistes in des Menschen Verantwortung gestellt« (355). Dass der späte Wagner selbst die spekulative Begründung hinter sich ließ, um die Gedanken der Freiheit und Liebe nunmehr religionswissenschaftlich und sozialethisch einzuholen (vgl. die Erklärung in der Einleitung, LVI f.), indiziert in ebenfalls lehrreicher Weise die Grenze spekulativer Selbsteinholung des Glaubens.
Gerade die Wahl dieser beiden zuletzt genannten Texte zeugt noch einmal von der großen werkgeschichtlichen Umsicht und der theologiegeschichtlichen Weitsicht, mit der die Texte des Bandes zusammengestellt sind. Die zweite Auflage gibt so einen noch gründlicheren Einblick in das Spektrum theologischer Ansätze, die in den letzten gut 200 Jahren die elementaren Begründungs- und Auslegungsaufgaben christlicher Theologie unter den Bedingungen von Aufklärung und Moderne in Angriff genommen haben.