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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

83–86

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XVIII, 676 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 67. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150771-7.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Diese Monographie bietet ergänzend zu Thomas Kaufmanns zahlreichen bisher vorliegenden Arbeiten zur Reformationsgeschichte eine vertiefende Ergänzung, besonders zu seiner »Geschichte der Reformation« sowie zu der Darstellung »Das Ende der Reformation«. K. vereinigt in diesem Band seine bisher zur frühreformatorischen Bewegung vorgelegten Studien mit dem Ziel, Sinn und Bedeutung von Einzelphänomenen der frühen Reformationsgeschichte sowie der Vorgeschichte der Reformation aus ihren »engeren und weiteren Kontexten« zu erheben.
Das Werk ist in drei Teile bzw. 16 Paragraphen gegliedert, von denen der erste (§ 1 Prolegomena) in fünf Abschnitten eine »historiographische Standortbestimmung« entfaltet. Dabei kommt es K. in der theoretischen Grundlegung darauf an, Reformation als einen dynamischen Prozess »literarisch-publizistischer bzw. aktional-inszenatorischer Interaktionen« erscheinen zu lassen, dessen Mobilitätsmomente kaum mehr sichtbar zu machen sind. Ohne die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für das Verständnis der Reformation als Einheit – nicht zuletzt in Würdigung der bisherigen kirchenhistorischen Forschung – zu leugnen, betont K. die Wichtigkeit der spätmittelalterlichen Kontexte, die Luther als Zentralfigur der frühreformatorischen Bewegung nicht nur durch die Rezeption seiner zentralen theologischen Anliegen erscheinen lassen, sondern durch die Verwendung als Projektionsfläche »vielfältiger Sehnsüchte, Hoffnungen, Feind- und Traumbilder.« In diesem Rahmen sah Luther wohl zunehmend die Aufgabe der Sicherung seiner Reformation durch Zurückdrängung der nach und nach störenden Kontexte.
In § 2 (Häresiologie: Jan Hus und die reformatorische Bewegung) stellt K. zunächst die frühe Auseinandersetzung Luthers mit Hus dar. Für Luther enthielt die Kirchenkritik der Hussiten Be­rechtigtes, war jedoch insgesamt zu sehr von superbia geprägt. Luther vergleicht sie mit Mohammed. Doch wendet sich Luthers Einstellung zu Hus vor und in Folge der Leipziger Disputation ins Positive bis zur selbstinszenierenden Interpretation von Hus als seinem Vorläufer. Dabei ist die Resonanz im Umfeld keineswegs so negativ wie die der Schultheologen vom Schlage eines Tetzel oder Eck.
Das Kapitel »Bibeltheologie: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium« (§ 3) beschreibt das wachsende Be­dürfnis an Laienbibeln im Verein mit zunehmender Lesefähigkeit als Kontext der frühen Reformationsgeschichte. Dabei werden eine ganze Reihe sonst wenig beachteter Quellen analysiert, bevor K. auf die zentrale Rolle von Erasmus für die biblische Grundlegung reformatorischer Theologie eingeht. Dabei musste sich Erasmus als »publizistisch einflussreichster Propagandist der volkssprachlichen Verbreitung der Bibel« mit Traditionalisten und Schul­-theo­logen auseinandersetzen wie mit Marten Dorp. So sehr gerade Erasmus für die biblische Theologie der Reformation und die phi­lologische Beschäftigung der Reformatoren mit dem griechischen Text des Neuen Testaments Grundlagen schuf, so wenig wurde er, der den völligen Bruch mit der kirchlichen Tradition scheute und auch Differenzen zu Luthers Rechtfertigungslehre aufwies, zum Anhänger der Reformation. Dem mit den Worten »Am Anfang war Erasmus« eingeleiteten Abschnitt stellt K. nun einen gegenüber, den er mit »Am Anfang war Luther« einleitet. Luther bildet nach K. den Anfang »eines schlechterdings neuen, in der bisherigen Kirchen- und Christentumsgeschichte analogielo sen Zugangs zum Verständnis und zur Auslegung der Heiligen Schrift«. K. belegt diese These ausführlich. Hervorzuheben ist in diesem Zusam­men­hang etwa Luthers neue Anordnung der Vulgata, in der er den Hebräerbrief aus dem Corpus Paulinum heraustrennte und mit dem Jakobus- und Judasbrief an den Schluss rückte, außerdem die Druckseiten so einrichtete, dass eine dem Leser hilfreiche Randglossierung möglich war. K. entfaltet in dieser Darstellung auch Luthers unterschiedliche Wertung der kanonischen Schriften des Neuen Testaments, die das Johannesevangelium, die Paulusbriefe, den 1. Petrusbrief und besonders den Römerbrief als den »recht Kern und Mark unter allen Büchern« des Neuen Testaments bezeichnet.
Im Kapitel »Religionshermeneutik: Spätmittelalterliche und re­formatorische Wahrnehmung des Islams« greift K. relativ stark auf seine Publikation »Türckenbüchlein« zurück. Das Läuten der »Türkenglocke« und das Gebet gegen den »Erb- und Erzfeind gemeiner Christenheit«, den Türken, konnte gemeinsam mit den Katholiken erfolgen, wenn das Gebet nicht in den Zusammenhang von Ablass und Heiligenverehrung gestellt würde. Die Entwicklung dieser Einstellung zu den Türken stellt K. anhand vorreformatorischer Quellen dar wie des »Libellus de ritu et moribus turcorum« des Georgius de Hungaria, das Luther mit einem eigenen Vorwort neu herausgab, um es polemisch gegen das Papsttum auszulegen. Im Zusammenhang der Darstellung verschiedener Wahrnehmungsmuster türkischer Religion und unterschiedlicher Ab­wehrstrategien bleibt festzustellen, dass die Reformation überlebt hat, weil der Druck der Türken auf die Habsburger Karl V. zu Kompromissen mit den protestantischen Fürsten nötigte.
In einem weiteren Kapitel (§ 5) beschäftigt sich K. mit »Theokratischen Konzeptionen in der spätmittelalterlichen Reformliteratur und in der Radikalen Reformation«. Auch in diesem Teil ist die Präsentation wenig bekannter Quellen als außerordentlich instruktiv hervorzuheben wie die einer Schrift des Nürnberger Kanzleischreibers Georg Frölich, der im Rahmen einer Toleranzdiskussion von 1530 eine plurale Gesellschaft als lebensfähig bezeichnete und damit den vorherrschenden Gedanken einer religiös normierten, Alternativen ausschließenden Gesellschaft häretisch kon­terka­rier­te. Zur Darstellung kommen vor allem antiklerikale Konzepte und ihre theoretische Grundlegung. Theokratische Konzeptionen kre­ierten Bilder einer besseren Welt und verdienen Beachtung im Rahmen einer politischen Ideengeschichte des späten Mittelalters und der Reformation. Im Abschnitt »die verwirklichte Ordnung Gottes in Münster« wird ein konkretes Beispiel gegeben.
Im zweiten Teil seiner Monographie widmet sich K. in fünf Paragraphen den Kommunikationsdynamiken. In § 6 widmet er sich zunächst mit den 95 Thesen dem »Ausgangsszenario« der Re­formation, nicht ohne einleitend auf die »mythopolitische« Belas­tung eines historischen Verständnisses der 95 Thesen durch die »Wirkungsmacht der Reformationsmemoria« hinzuweisen. Zu dem wünschenswerten historischen Verständnis trägt K. dann im Folgenden durch die Entfaltung des historischen Kontextes bei, wobei vor allem auch der Abschnitt über den medienhistorischen Kontext besondere Beachtung verdient ebenso wie der folgende einige Spannung entfaltende § 7 »Aktionale Aneignungen: Die studen­tische Reformation«. Hier werden auch Unruhen sowie Re­formbestrebungen der frühen Jahre der Reformation aus den Quellen dargestellt. Der Heroisierung Luthers in Wort und Bild widmet sich ein weiterer Paragraph. So wird Luther in zeitgenössischen Quellen mit dem Propheten Daniel oder mit Herkules, der den Augiasstall ausmistet, verglichen. Heroisierende Bilder werden in Reproduktionen gezeigt und interpretiert. Bucers Bericht von der Heidelberger Disputation von 1518 ist ein eigener Paragraph ge­widmet. Wichtig ist, dass K. hier plausibel macht, dass die Rezeption dieses Berichts in der Forschung den tatsächlichen Disputationsverlauf zu wenig beachtet und damit zu falschen Wertungen im Bezug auf Bucers Verständnis des frühen Luther – besonders die theologia crucis betreffend – kommt. Sehr instruktiv ist auch das folgende Kapitel (§ 10) über »Anonyme Flugschriften der frühen Reformation«, deren Wirkung besonders in den oberdeutschen städtischen Reformationsorten für die Verbreitung und Durchsetzung reformatorischen Gedankenguts kaum zu überschätzen ist. Dabei ist interessant, dass solche anonymen Schriften nicht selten bekannten Theologen zuzuordnen waren, die Anonymität jedoch den Eindruck von Allgemeingültigkeit fördern sollte. Dabei werden auch gegen Luther gerichtete Publikationen berücksichtigt sowie deren Widerlegung (Murner und Karsthans).
Mit § 11 beginnt der dritte Teil »Lehrbildungen und Identitätsentwürfe«. »Die Ausführungen über die theologisch-philosophische Rationalität« (§ 11), die die Assoziation des bekannten Lutherwortes von der Hure Vernunft aufdrängen, gehen einleitend auf die soziale Stellung der Huren im Spätmittelalter ein, deren Duldung durch reformatorisches »Ordnungshandeln« einem Versittlichungsprogramm zum Opfer fiel. Insofern ist die Diskreditierung der Vernunft als Hure durch Luther ein vernichtendes Urteil. Kriterium für das negative Urteil Luthers bildete die Rechtfertigung allein aus Glauben, die die Vernunft so wenig zu fassen vermöge wie die Freude und den Gewissensfrieden, den Christus schaffe. Der Vernunft ordnet er die Juden zu, die aufgrund dessen aus Christus »ein Ungeheuer« machten. Gleichwohl gehört auch für Luther die Vernunft zu den guten Schöpfungsgaben, so beruft er sich auch auf dem Reichstag von Worms auf »Vernunftgründe«. Jedoch bleibt die Vernunft durch den Sündenfall »verfinstert«. Demgegenüber steht die positivere Bewertung der Vernunft durch Melanchthon, der sie insbesondere im Bereich der leges naturae als regens beschreibt. Unterschiedlich zu Luther ist auch der Rationalitätsoptimismus Zwinglis, der ihn beispielsweise dazu führt, Sokrates und Seneca in ihrer Erkenntnis des »numen unum« trotz ihrer Unkenntnis der Offenbarung frommer und heiliger als alle Franziskaner und Dominikaner einzuschätzen. Radikale Reformation, die Konfrontation der »Geistbegabten« mit den neuen »Schriftgelehrten«, die »ekklesiologische Revolution« durch die Proklamation des Priestertums der Glaubenden in der frühreformatorischen Publizistik werden in weiteren Paragraphen abgehandelt. Von besonderem Interesse sind die Abschnitte über Luthers Aufwertung des Laien und der Unterschied darin zu Karlstadt. Luther attackierte die sakralrechtlich fundamentierte Trennung zwischen Priester und Laien, die dazu geführt habe, »das pfaffen münich, leyen unterander feynder worden seyn, dan Turcken und Christenn«. Die Gleichheit aller Christen konstituiert sich bei Luther durch die Taufe und den Glauben. Während bei Luther der eigenständigen Bibellektüre des Laien keine zentrale Bedeutung bei der Begründung des Priestertum zukommt, ist dies bei Karlstadt und Pelikan anders. K. arbeitet den Unterschied präzise heraus, indem er schreibt: »Aus dem Allgemeinen Priestertum aller Glaubenden und Getauften ist [bei Karlstadt, Pelikan und in anonymen Schriften] ein allgemeines Laientum aller Christen geworden.« (547)
In den abschließenden Paragraphen beschäftigt sich K. mit Luthers Ehetheologie (§ 14), mit Erfahrungsmustern in der frühen Reformation (§ 15) sowie mit dem alten und dem jungen Luther als theologischem Problem. Deutlich wehrt K. einem Verständnis, das in der Desakralisierung der Ehe eine Abwertung sieht: »Gerade als weltliche Ordnung war die Ehe schöpfungsgemäße und insofern heilige, sakrale Ordnung« (563). In dem Kapitel »Fragmentarische Existenz: Der ›alte‹ und der ›junge‹ Luther als theologisches Problem« ist besonders auf den Abschnitt »Luthers abendmahlstheologische Entwicklung« hinzuweisen, in dem deutlich wird, dass Luthers Auffassung in der theologischen Auseinandersetzung reift. Der Abschnitt »Die Entwicklung in der Judenfrage« bleibt angesichts der 2011 erschienenen Monographie K.s zu »Luthers Judenschriften« an dieser Stelle sehr knapp.
Insgesamt liegt mit dem Band ein außerordentlich wertvoller Beitrag zur frühen Reformationsgeschichte vor, der nicht zuletzt durch intensive Arbeit mit den Quellen sowie durch ausführliche Diskussion der bisherigen Forschung beeindruckt.