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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

569–571

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Alivizatos, Hamilcar:

Titel/Untertitel:

Die Oikonomia. Die Oikonomia nach dem kanonischen Recht der Orthodoxen Kirche. Hrsg. und mit einer Einleitung von A. Belliger.

Verlag:

Frankfurt/M: Lembeck 1998. 150 S. 8. Kart. DM 44,-. ISBN 3-87476-336-6.

Rezensent:

Reinhard Slenczka

"Habent sua fata libelli" - das zeigt sich gerade an diesem kleinen, aber doch gewichtigen und wirkungsvollen Buch des griechischen Kirchenrechtlers Hamilcar Alivizatos (1887-1969). Er war einer der führenden Vertreter orthodoxer Theologie in der ökumenischen Bewegung und ein Vorbild der die europäische Kultur prägenden griechischen Bildung. Ich habe ihn noch gekannt und konnte ihn zuletzt 1968 in Athen besuchen. Wer die deutsche Übersetzung des 1949 auf griechisch erschienenen Werks liest, wird einen starken Eindruck von der breiten Bildung, dem theologischen Ernst und der Bereitschaft zu Verständigung ohne Kompromisse empfangen, auch wenn kirchenrechtliche Themen sich weder theologisch im allgemeinen noch ökumenisch im besonderen größerer Beliebtheit und tieferer Kenntnis erfreuen. Gerade darin aber liegt die Bedeutung dieser überraschenden Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung. Denn wenn schon das Buch bisher wegen der Sprache nur wenigen zugänglich war, so scheint es auch in Bibliotheken, wie die Übersetzerin bemerkt, nur schwer aufzutreiben zu sein.

Schon für die Originalveröffentlichung waren erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden. Verfaßt wurde die Schrift bereits 1938 im Auftrag des damaligen Erzbischofs von Canterbury, Cosmo Lang, zur Vorbereitung der für 1940 geplanten Lambeth Conference, die sich mit Fragen der zwischenkirchlichen Zusammenarbeit bei der pastoralen Betreuung von Gemeinden in der Diaspora beschäftigen sollte. Der zweite Weltkrieg verzögerte die Veröffentlichung, und so erschien zunächst eine englische Fassung der Abhandlung in dem Sammelband "Dispensation in Practice and Theory. London 1944. 27-43. 1949 erschien der griechische Originaltext in offenbar kleiner Auflage, später noch eine französische Fassung in "Atti dello VIII Congresso Internazionale di Studi bizantini. Vol. II. 269-276. Roma 1953.

Die Eigenart der oikomenia besteht nun darin, daß es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der zugleich eine reiche und tiefe biblische Füllung hat. In der juristischen Verwendung geht es um eine Verfahren bei der Anwendung von Gesetzen auf bestimmte Situationen, und deshalb wird er auch als epieikeia, d. h. als Nachgiebigkeit oder Billigkeit verstanden. Dafür zitiert A. als erstes Motto Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 14: "Dies ist also die Natur des Billigen, eine Korrektur des Gesetzes." Der Gegenbegriff ist die akribeia, d. h. die Strenge. Im römischen Recht entspricht der oikomenia die "aequitas" oder auch "dispensatio". Allerdings wird damit auch der Unterschied zwischen dem vom römischen Recht bestimmten kanonischen Recht des Westens und dem orientalischen Kirchenrecht deutlich. Denn die oikomenia ist nun einmal ein biblisch gefüllter Begriff, und in der kirchenrechtlichen Praxis ist daher auch meist von kat oikonomia die Rede, d. h. von einem Handeln und Verhalten, das der oikomenia entspricht bzw. folgt. Auf diese Weise ist die rechtliche Entscheidung, wie A. von Anfang an zeigt, eingefügt in die biblische Bestimmung von oikomenia, die zum einen das göttliche Heilshandeln (Eph 1,10), zum anderen den göttlichen Auftrag zur Verwaltung der Geheimnisse Gottes (vgl. 1Kor 4,1) und schließlich die dem folgende Leitung der Kirche bestimmt. Das zweite Motto ist der 3. Kanon der Trullanischen Synode: "... auf daß wir die Milde nicht zu Liederlichkeit und die Strenge zu Bedrückung verkommen lassen."

Die Untersuchung von A. war die erste monographische Zusammenstellung für die Bedeutung des Begriffs und die Anwendung des Verfahrens. Ein reiches Material wird in dem kleinen Bändchen zusammengestellt. In den ostkirchlichen Lehrbüchern des Kirchenrechts finden sich meist nur kurze Hinweise auf die Regel, und es sind wohl zuerst anglikanische Theologen gewesen wie J. A. Douglas, The Relations of the Anglican Church with the Eastern-Orthodox. London 1921, sowie Frank Gavin, Some Aspects of Contemporary Greek Orthodox Thought. Milwaukee-London 1923, die aus praktischen Gründen zwischenkirchlicher Zusammenarbeit in der Diaspora in diesem Verfahren eine Möglichkeit zur Verständigung gesehen haben. Mit welcher Zurückhaltung freilich die heutige Orthodoxie einer rechtlichen Fixierung dieses Prinzips gegenübersteht, mag sich daran zeigen, worauf die Herausgeberin in ihrer sehr kenntnisreichen Einführung hinweist (19), daß dieses heikle und umstrittene Thema 1976 aus der Traktandenliste des seit 1961 geplanten "Heiligen und Großen Konzils" der Orthodoxen Kirche endgültig gestrichen worden ist. Tatsächlich gibt es seit langem innerhalb der ostkirchlichen Theologie darum scharfe Gegensätze und erhebliche Kontroversen, vor allem im Blick auf die Begegnung mit heterodoxen Kirchen und die Mitarbeit in der ökumenischen Bewegung.

Um so interessanter ist nun zu sehen, wie eine römisch-katholische Theologin auf dieses Thema gestoßen ist, nämlich bei ihrer Dissertation über "Die wiederverheiratet Geschiedenen. Eine rechtsvergleichend-ökumenische Studie im Blick auf die römisch-katholische und griechisch-orthodoxe Tradition der Unauflöslichkeit der Ehe." Und sie berichtet: "Seit dem Statement des melkitischen Bischofs Zoghby auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ,geistert’ die Idee einer ,Oikonomia’-Praxis durch die katholische theologische Landschaft" (7). Auf die praktischen Probleme für das Interesse an dem ostkirchlichen Verfahren braucht nicht eigens eingegangen zu werden; sie begegnen in allen Kirchen in dem Maße, wie das gesellschaftliche Umfeld auf die Gemeinde einwirkt. Allerdings fällt zunächst auf, daß A. in seinem Abschnitt über die Anwendung der oikomenia auf das Sakrament der Ehe wohl auf die Ehehindernisse und die konfessionsverschiedene Ehe eingeht, nicht jedoch auf die Ehescheidung und die Wiederheirat Geschiedener. Dies hat aber wohl seinen Grund darin, daß diese Frage in der Ostkirche nicht als kirchenrechtliche Angelegenheit, sondern - bis in die Formulare hinein - unter dem geistlichen Aspekt der Kirchenzucht und der Buße behandelt wird. Dies schließt freilich aus, daß die Kirche, wie es weithin im Westen geschieht, den Änderungen des bürgerlichen Rechts und dem weltlichen Zerrüttungsprinzip folgt.

Am Schluß seiner Untersuchung richtet A. den Blick auf den Unterschied zwischen griechischer oikomenia und lateinischer "dispensatio" und kommt u. a. zu dem Ergebnis: "... während die erste jedesmal neu von den zuständigen kirchlichen Verantwortlichen nach freiem Urteil angewandt wird, hat die zweite den Charakter einer Ausnahme vom Gesetz oder vom Kanon, welche sehr genau festgelegt ist und als solche eine eigene rechtliche Bestimmung bildet. Während die griechische Oikonomia folglich eine sehr weite Anwendung kennt, wird die lateinische dispensatio nur in bestimmten Fällen gewährt und zwar in einer bestimmten Form, nach vorgeschriebenem Plan, durch a priori festgelegte kirchliche Organe und auf festgesetzte Art" (139). Das ist, mit anderen Worten, der Gegensatz von Rechtsentscheidung und geistlichem Urteil. Die Rechtsentscheidung wird immer auf Regeln auch für Ausnahmefälle abzielen, und das führt stets zu einer Aushöhlung der geltenden Bestimmungen, wie sich auch in den evangelischen Kirchen zeigt. Geistliche Entscheidungen, die aus der Kraft und den Mitteln des Geistes erwachsen, gehen von dem Heilswillen Gottes, also seiner oikonomia aus und zielen darauf, den Sünder durch Umkehr und Vergebung zu retten, damit er vor Gottes Gericht bestehen kann. Die Wirkung des Wortes Gottes in Gesetz und Evangelium wäre die evangelische Regel für ein entsprechendes geistliches Verfahren, bei dem dann aber nicht die Sünde durch eine antinomistische Änderung oder Aufhebung von Gesetzen gerechtfertigt, sondern der Sünder durch Umkehr und Vergebung gerettet wird.

Die Übersetzung, auch wenn sie stilistisch bisweilen etwas holprig ist, erschließt nicht nur das Werk eines bedeutenden ostkirchlichen Theologen, sondern ein theologisches Thema, das zur Klärung helfen kann in Fragen, bei denen die Gemeinschaft in den Kirchen und zwischen den Kirchen durch die Gegensätzlichkeit aus dem öffentlichen Meinungsstreit zerrissen wird, sofern nicht für die Kirche juristische Lösungen gefordert werden, sondern geistliche Einsicht geschenkt wird.