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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

81–82

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gehrt, Daniel

Titel/Untertitel:

Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 694 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 34. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-374-02857-3.

Rezensent:

Vera von der Osten-Sacken

Zu den Protagonisten sächsischer, speziell ernestinischer Religionspolitik der Generationen nach Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen wurde in letzter Zeit nicht viel publiziert. Der vorliegende Band – es handelt sich um die Dissertation Daniel Gehrts, das Projekt wurde von dem Jenaer Frühneuzeithistoriker Georg Schmidt betreut – setzt an einer wichtigen Stelle an, um zum Verständnis nachreformatorischer lutherischer Konfessionsbildung im Ursprungsgebiet des Luthertums beizutragen. Auch dem steigenden Interesse an der lange Zeit als reine Epigonen vernachlässigten zweiten und dritten Generation protestantischer Theologen trägt er Rechnung und dürfte für Allgemein-, Landes- und Kirchenhistoriker gleichermaßen interessant sein.
Nach einem sehr knapp berichteten Forschungsstand reflektiert G. die Begriffe »Gnesiolutheraner«, »Flacianer« und »Philippis­ten« und nimmt sich vor, die geläufige Vorstellung eines Gegenübers von irenischen philosophisch interessierten Melanchthonschülern und streitlustigen streng lutherischen Flacianern kritisch zu hinterfragen. Sodann stellt er das Konfessionalisierungsparadigma und dessen bisherige Forschungsgeschichte vor. Im An­schluss an Thomas Kaufmann (Universität und lutherische Konfessionalisierung, QFRG 66 [1997], 26–29) weist er auf die »frühe intensive Konfessionsbildung in einzelnen lutherischen Territorien« (26 f.) hin, die nicht erst mit der Konkordienformel weitgehend abgeschlossen worden sei (so Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich, in: HZ 246 [1988], 21). Mit seiner Studie will G. einen »grundlegenden Beitrag zur Konfessionsbildung im ernestinischen Thüringen zwischen 1548 und 1577« (27) bieten.
Beide Kriterien der chronologischen Abgrenzung, das Interim (1548) und die Einführung der Konkordienformel (1577), sind vor allem religionsgeschichtlich bedeutsam. Tatsächlich setzt die Darstellung der Ernestiner in Kapitel II (35–97) – Kapitel I enthält die Einleitung – jedoch nach dem Schmalkaldischen Krieg mit dem Verlust der Kurwürde und wichtiger Gebiete und Privilegien sowie der Gründung der Hohen Schule in Jena ein, die den Verlust der Leucorea kompensieren und zur, auch konfessionellen, Konsoli­dierung des Gebietes und seines neuen Herrschaftszentrums beitragen sollte. In Kapitel III (98–215) arbeitet G. den konfessionspo­litischen Kurs Johann Friedrichs II. bis 1561 heraus, der mit der Berufung des M. Flacius Illyricus und anderer streng lutherisch ge­sinnter Theologen nach Jena eine eigenständige Option favorisierte, die innerevangelische Einigungsversuche im Reich jedoch nicht beförderte und auch im ernestinischen Gebiet Kontroversen aus-­lös­te, so dass eine einheitliche Lehrnorm und innere Stabilität nicht zu erreichen waren bzw. immer wieder in Gefahr gerieten. 1561 wurden alle amtierenden Professoren der Theologischen Fa­kultät entlassen, was die Situation vorläufig entspannte. Kapitel IV (216–286) schildert das Bemühen Johann Friedrichs II. um konfessionelle Konsolidierung, inklusive einer Visitation im Jahre 1562, und um die Sicherung des Fortbestandes der Universität Jena als eine Phase von innerem konfessions- und machtpolitischem Streit. Die seit 1565 zu dritt regierenden Herzöge Johann Friedrich II., Johann Wilhelm und Johann Friedrich III. konnten sich nicht auf eine gemein same Konfessionspolitik einigen. Nachdem Johann Friedrich III. 1665 gestorben und Johann Friedrich II. 1567 in lebenslange kaiserliche Gefangenschaft geraten war, regierte Johann Wilhelm von 1567 bis zu seinem Tod im Jahre 1573 allein (Kapitel V, 287–435). Er intensivierte die Rivalität mit den Albertinern und tendierte konfessionspolitisch wieder deutlich zum früheren ernestinischen Kurs. In diesem Zusammenhang ließ er 1569/70 eine Visitation durchführen, nahm auch Entscheidungen seiner Vorgänger zu­rück, was zu weiteren Konflikten führte, und wirkte den Konkordienbemühungen entgegen, die Jakob Andreae seit 1568 vorantrieb. Nach seinem Tod erhielt der Albertiner Kurfürst August von Sachsen die vormundschaftliche Regentschaft über das ernesti­nische Territorium, das er 1573 ebenfalls visitieren ließ. G. wendet sich nun den konfessionspolitischen Maßnahmen der Witwe von Johann Wilhelm, der Herzogin Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar zu (Kapitel VI, 436–525), die ein eigenes Glaubensbekenntnis formuliert hat, als Schutzherrin der 1573 entlassenen Theologen auftrat und in Konfrontation mit Kurfürst August nach einer Fortführung der Konfessionspolitik ihres verstorbenen Eheman nes strebte. Es verwundert ein wenig, dass die Darstellung ihrer Maßnahmen mit den Jahren 1577/78 endet, nicht 1586 mit dem Ende der vormundschaftlichen Herrschaft Augusts von Sachsen oder 1592 mit dem Tod der Herzogin, zumal G. selbst hervorhebt, dass die Ereignisse um die Konkordienformel und die – besonders nach dem Sturz der sogenannten Kryptocalvinisten in Wittenberg von August von Sachsen ausgehenden – damit verbundenen Bemühungen um innerwettinische Verständigung »die Wirkungsmöglichkeiten Dorothea Susannas wesentlich erweitert« (519) haben sollen, also eine interessante Phase ihrer konfessionspolitischen Wirksamkeit gerade nicht mehr berichtet wird.
Zum Schluss bietet der Band ein Verzeichnis der Drucke in Jena (543–620) vom Beginn der dortigen Druckproduktion (1553) bis zum Erscheinungsjahr des Konkordienbuches (1580). Arbeitsgrundlage waren hier deutsche Verbundkataloge und das Münchener Verzeichnis VD 16. Die 599 Einträge ordnet G. sieben Sach-kategorien zu, von denen sich einige überschneiden, wie z. B. »Polemik«, »Religiöse Literatur« und »Universitätsschriften«.
Ent­sprechend angreifbar sind die statistischen Auswertungen, die G. beigibt. Allerdings legt er die Zuordnungen in den Einträgen offen, so dass seine Einzelentscheidungen nachvollziehbar werden.
Die ganz große Stärke des Bandes ist die breite Quellengrund­lage, auf die G., der seit 2004 in einem DFG-geförderten Projekt zur Erschließung der Reformationshandschriften der Forschungsbibliothek Gotha arbeitet, zurückgreifen kann. Er bietet viele interessante Einzelfunde, in denen er sich tatsächlich bisweilen verzettelt, die aber auch einen Reichtum darstellen, aus dem weiterführend interessierte Leserinnen und Leser schöpfen können.
Leider hat G. in Anmerkungen und Verzeichnissen nicht immer präzise gearbeitet, so dass einigen Literaturangaben, Seitenzahlen oder Werktitel fehlen. Werke von Caspar Aquila erscheinen im Register der Drucke vor 1600 unter »A«, eine Werkausgabe Aquilas im Register der nach 1600 erschienenen Literatur unter »C«. Ärgerlich ist die Neigung G.s, möglichst viele eigene Aufsätze in den Literaturangaben unterzubringen und bestimmte Autoren mit langen Werklisten zu zitieren (z. B. 16, Anm. 10), statt einen oder zwei zentrale Beiträge zu nennen. Der Band ist jedoch vorbildlich klar und gut lesbar formuliert, was besonders hervorgehoben werden sollte, da G. US-amerikanischer Muttersprachler ist und der Sprache seiner deutschen Wahlheimat mit dem vorliegenden Band eine schöne und nicht selbstverständliche Referenz erweist.
Trotz der kleinen Mängel ist der Band eine sehr empfehlenswerte Studie, die ein reiches Quellen- und Detailwissen zur ernestinischen Konfessionspolitik zwischen Schmalkaldischem Krieg und Konkordienformel erschließt.