Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

66–68

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Die Johannesbriefe.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. XXII, 224 S. = Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, 17. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02756-9.

Rezensent:

Michael Theobald

Dieser Kommentar von Udo Schnelle liegt nicht im Mainstream der Forschung. Er verwirft die gut etablierte Überzeugung, dass die drei Johannesbriefe in die Nachgeschichte des Johannesevangeliums gehören und ein späteres Stadium der sogenannten »johanneischen Schule« repräsentieren, und kehrt die Reihenfolge der Schreiben um (womit der Vf. in der Tradition seines Lehrers G. Strecker steht): Die beiden kleinen Briefe mit ihrer »rudimentären« Theologie seien die ältesten Dokumente, wobei 2Joh die zeitliche Priorität zustehe. Der große Brief folge, weil er »auf allen Themenfeldern deutlich ein fortgeschritteneres Stadium der johanneischen Theologiebildung« dokumentiere, mit dem das johanneische Denken erstmals »Systemqualität« erreiche (7.188). Das Evangelium sei der »End- und Höhepunkt der johanneischen Theologie (zwischen 100–110 n. Chr.)«. Der Vf. datiert 2Joh auf 90 n. Chr., 3Joh nicht allzu lange danach, während 1Joh »vor dem Johannesevangelium, aber auch gleichzeitig oder später [als dieses] geschrieben worden sein« könnte.
Für diese Schriften seien drei unterschiedliche Autoren anzunehmen. »Sprache, theologische Vorstellungswelt und die unterschiedliche Situation lassen vermuten, dass der 1Joh und das Evangelium verschiedene Verfasser haben« (8). Auch sei der Verfasser des 1Joh nicht mit dem der beiden älteren kleinen Briefe identisch, der sich als »der Presbyter« vorstellt. »Wahrscheinlich« sei dieser »der Gründer der johanneischen Schule« gewesen und »als solcher ein hervorgehobener Träger der johanneischen Tradition mit einem umfassenden Anspruch. Er genoss ein hohes Ansehen, denn nur so lassen sich die Erhaltung und die Übernahme des 2/3Joh in den Kanon erklären« (6). Nichts spräche im Übrigen dagegen, ihn mit dem »Presbyter Johannes« aus den Papias-Zeugnissen zu identifizieren. Der Vf. vertraut auch sonst der kleinasiatischen Johannes­tradition und plädiert deshalb für Ephesus als »Sitz der johanneischen Schule«: »In und um Ephesus herum gab es verschiedene Ge­meinden (vgl. 2/3Joh), wobei die Hauptgemeinde in der Stadt Ephesus angesiedelt war.« (4) Auf dem Stand des 1Joh, der mit seinem »Wir« (1,1–4) bereits »eine Mehrzahl von Lehrern« voraussetze (188), sei der Gemeindeverband stark angewachsen. Erste Verwerfungen angesichts doketischer Falschlehrer gebe bereits 2Joh zu er­kennen, ein regelrechtes Schisma aufgrund dieser Irrlehre setze dann 1Joh voraus (vgl. 2,19). Das Evangelium bearbeite dies alles von ho­her Warte in einem zusammenfassenden narrativen Entwurf.
Die Argumentation, mit der der Kommentar sein Konzept in der Auseinandersetzung mit gegenläufigen Thesen entwickelt, sieht in groben Strichen so aus:
1. Verhältnis von Joh und 1Joh: Die Annahme, 1Joh mit seiner eher traditionellen Eschatologie sei später als das Evangelium an­zusetzen, führt der Vf. auf Bultmann zurück, dessen Interpretationsmodell heute überholt sei. Das mag stimmen, doch die Überzeugung, 1Joh sei als Lesehilfe zum Evangelium gedacht (R. Brown, H.-J. Klauck, K. Wengst, J. Becker u. a.), ist keineswegs nur eine »Variante der ›Verkirchlichungs- bzw. Traditionstheorie‹«, wie der Vf. meint (10), und deshalb mit den höchst problematischen Thesen Bultmanns zu 1Joh auch nicht erledigt. Wahrscheinlich kam es zu dem (auch für die Konzeption des Vf.s wichtigen) Schisma der johanneischen Gemeinden über der Interpretation des Evangeliums. Die einen lasen das Buch im Sinne einer »Trennungschristologie« – Jesus sei erst aus Anlass seiner Taufe durch die Herabkunft des Geistes zum Christus geworden, der Geist habe ihn im Sterben auch wieder verlassen; das Heil sei, vermittelt durch die Taufe, ganz gegenwärtig zu denken etc.; die anderen, deren literarische Hinterlassenschaft uns in den drei Johannesbriefen, aber auch in der das Evangelium nachträglich absichernden Redaktion erhalten ist, beharrten auf der Fleischwerdung des Wortes in Jesus Christus und auf dem heilbringenden Charakter seines Todes als »Sühne« für unsere Sünden (Stichwort »Blut«: vgl. 1Joh 1,7; 5,6; vgl. auch 2,2) etc. Im Kampf um die Interpretationshoheit über das Evangelium spielt 1Joh die entscheidende Rolle, nämlich ein bestimmtes Verständnis des Gemeindebuchs vorzugeben, ohne in der Funktion eines »Kommentars« aufzugehen.
Gegen dieses Auslegungsmodell nennt der Vf. zwei Argumente. Das erste: »Es findet sich kein einziges Zitat aus dem Evangelium im 1. Johannesbrief« (10), was unbestritten ist. Doch Interpretation geschieht nicht nur durch Zitat samt Kommentar, sondern auch durch Relecture von Passagen, deren Verständnis durch neue Ak­zentsetzungen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen (Paradebeispiel ist das Proömium von 1Joh als Wiederaufnahme des Evangelienprologs, jetzt mit besonderem Akzent auf der Fleisch­werdung). Das zweite Argument lautet: »Als ›Lesehilfe‹ für das Evangelium ist der 1Joh gerade nicht geeignet, denn er weist einerseits zahlreiche Parallelen zum Evangelium auf, andererseits er­reicht er aber bei weitem nicht die theologische Vielfalt und Tiefe des Evangeliums«. Der große Brief böte ein »eigenständiges Zeugnis johanneischer Theologie vor der Abfassung des Evangeliums« (11). Wenn sein Proömium die »Leiblichkeit des Logos, Gottessohnes und Retters Jesus Christus in seiner irdischen wie himmlischen Existenz« gegen die Doketisten betone, sei dieses Thema »dem 1Joh völlig unabhängig vom Evangelium vorgegeben, nämlich durch den Konflikt mit den Falschlehrern« (64). Genau diese Behauptung: »völlig unabhängig«! ist aber einer der Streitpunkte gegenwärtiger Forschung, ein anderer, ob man im Blick auf die gegnerische Lehre überhaupt von »Doketismus« oder nicht besser von einer »Trennungschristologie« reden soll.
2. Zur Entwicklung johanneischer Theologie: Ein wichtiges Argument ergibt sich für den Vf. aus dem Vergleich der theologischen Profile der johanneischen Schriften aufgrund statistischer Beobachtungen (11–13), die er dahingehend auswertet, dass 2/3Joh nur eine »rudimentäre Christologie« besäßen, 1Joh zwar deren »Entfaltung« böte, der Brief aber »bei weitem« nicht an das Evangelium heranreiche. Wer 2/3 Joh dem Evangelium zeitlich nachordne, so der Vf., müsse die »radikale Ent-Christologisierung« der kleinen Briefe erklären (13). Auch im Blick auf 1Joh gälte dann, dass »der johanneische Gemeindeverband gerade dann sprachlos geworden« wäre und »die theologischen Argumentationsmodelle des Evangeliums nicht genutzt« hätte, »als er in seine tiefste Krise geriet! Vor allem dem Presbyter des 2/3Joh müsste eine massive theologische Inkompetenz vorgeworfen werden, denn er hätte das Reservoir des Johannesevangelium (und des 1Joh) gerade in einer akuten Konfliktsituation nicht aufgegriffen« (14). Abgesehen davon, dass 1Joh nun wahrlich keine »Sprachlosigkeit« bezeugt, ist doch fraglich, ob ein derartiges Entwicklungsmodell von rudimentärer hin zu einer voll ausgebildeten Christologie angesichts der gattungskritisch sehr unterschiedlich zu beurteilenden Schriften (hier ein Evangelium, dort ein theologischer Brief bzw. zwei kleine Gelegenheitsschreiben) sich überhaupt halten lässt. Letztere sind viel zu kurz, um derart weit reichende Schlüsse zuzulassen.
3. Die beiden kleinen Briefe: Für den Vf. ist die »Regel« wichtig, »dass jede Schrift zunächst aus sich selbst verstanden werden muss, bevor sie in größere Zusammenhänge eingeordnet wird. Die beiden kleinen Johannesbriefe können dann nicht mehr als Anhängsel des 1Joh gewissermaßen automatisch mitdatiert werden, sondern gerade bei ihnen muss gefragt werden, in welchem Verhältnis sie zum Evangelium und zum 1Joh stehen« (11). Dies ist ohne Zweifel richtig, doch die eingeschärfte Regel gilt natürlich auch für die beiden kleinen Briefe untereinander. Nach verbreiteter Anschauung bieten sie zwei unterschiedliche Momentaufnahmen aus der Geschichte der johanneischen Gemeinden, 2Joh einen Blick eher nach innen (vgl V. 7–11), 3Joh eher nach außen, sprich: auf Probleme mit Gemeinden anderer Tradition (vgl. zuletzt M. Theobald, Gastfreundschaft im Corpus Iohanneum, in: BThSt 130, 2012). Der Vf. verknüpft aber die beiden Briefe miteinander, indem er den Autor von 3Joh in V. 9 auf 2Joh Bezug nehmen sieht, Diothrephes zu einem Vertreter der Irrlehrer macht und so die beiden Briefe – eben in der Reihenfolge 2–3Joh – eine eigene Geschichte erzählen lässt. Allerdings werden Glaubensfragen in 3Joh nicht verhandelt, und es ist nach wie vor strittig, ob es hier nicht doch »nur« um un­terschiedliche Traditionen einschließlich ekklesiologischer (Leitungs-)Konzepte geht.
Das Gespräch mit dem Vf. – das sollten die voranstehenden Zeilen andeuten – kann sehr anregend sein. Er hat seine Konzeption derart geradlinig angelegt, dass sie zum Widerspruch regelrecht einlädt, womit er aber auch die Forschung voranbringt. Die Anfragen an ihn möchte ich folgendermaßen bündeln: Ist ein Evangelium nicht ein Gemeindebuch, das den Auseinandersetzungen vorausliegt? Soll es tatsächlich erst um 100/110 n. Chr. nach allen Querelen und Schismata in den johanneischen Gemeinden entstanden sein? Und worin besteht die »Lehrtradition der johanneischen Schule«, die der Verfasser des 1Joh seinen Gegnern (ganz unabhängig vom Evangelium und ihm voraus) entgegengesetzt haben soll (145), wenn er auch auf Erzählungen wie die von der Taufe Jesu und von seinem Tod rekurriert (zu 1Joh 5,5–12)? Im Übrigen reduziert sich die greifbare »Lehrtradition« auf wenige Formeln wie »Jesus ist der Christus« und »er ist im Fleisch gekommen«. Der mehrmalige Verweis: »von Anfang an«, den der Vf. für die johanneische »Lehrtradition« reklamiert, hat eine geschichtliche Perspektive und verweist eher auf Erzählzusammenhänge, wie das Evangelium sie bietet.
Abgesehen von diesen Anfragen ist dem Vf. aber zu bescheinigen, dass er einen geglückten, überschaubaren, knapp formulierten und informativen Kommentar verfasst hat – eigens genannt seien der Exkurs zum Thema »Doketismus« und die Ausführungen zu Symbolen und Riten als »zentrale[n] Kategorie[n] religiöser Sinnvermittlung« (106.168 ff.). Wer im Kommentar liest, wird so oder so bereichert werden. Auch Predigerinnen und Predigern sei er empfohlen, denn er hat das Potential, sie zu einem kreativen Um­gang mit dem Predigttext anzuregen.