Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

60–62

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kratz, Reinhard G., u. Hermann Spieckermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsgeschichtliche, theologische und philosophische Perspektiven.

Verlag:

Berlin u. a.: de Gruyter 2009. VIII, 360 S. m. Abb. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 390. Lw. EUR 104,95. ISBN 978-3-11-020577-0.

Rezensent:

Johannes Schnocks

Der Sammelband dokumentiert die Vorträge eines Symposiums im Rahmen des Göttinger Graduiertenkollegs »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike« aus dem Jahr 2007. Die Beiträge sind in die Abteilungen »Alter Orient«, »Griechische Philosophie«, »Altes Testament und jü­dische Tradition«, »Neues Testament und christliche Tradition« und »Koran und islamische Tradition« eingeordnet, wobei jeweils drei – in der Koransektion zwei – Aufsätze auf jeden Teil entfallen. Die Herausgeber betonen: »Ganz bewusst wurde der Versuchung künstlicher Brückenschläge widerstanden und stattdessen den un­terschiedlichen Stimmen der einzelnen Kulturen und der sie erforschenden Disziplinen Raum gegeben. Die Querbeziehungen erge­ben sich entweder von selbst oder bedürfen der weiteren Erforschung, die nur in seriösen Fallstudien eine solide Grundlage findet.« (V)

Der Beitrag von Ina Hegenbarth-Reichardt »Von Zeiten und Räumen. Oder: Wie unendlich ist die altägyptische Ewigkeit« (3–28) bietet eine Zusammenfassung ihrer Dissertation »Der Raum der Zeit. Eine Untersuchung zu den altägyptischen Vorstellungen von Zeit und Raum anhand des Unterweltbuches Amduat« von 2006. Der Aufsatz setzt mit einer begrifflichen Bestimmung von Zeit und Raum und der Differenzierung von ḏt. und nḥḥ im Altägyptischen ein, was gleichzeitig in die entsprechende Fachdebatte einführt. Nach einer Analyse der sogenannten Titelei und des Schlusstitels sowie einiger weiterer ausgewählter Texte des Amduat kommt die Vfn. zu dem Schluss, dass der nächtliche Teil des Sonnenlaufes der Bedeutung von ḏt. und nh.h. entspricht. Der umstrittene Ausdruck ḏt. sei »als ›der Raum der Zeit‹ zu begreifen und zu übersetzen.« (26)
Eva Cancik-Kirschbaum beginnt ihren Beitrag »Zeit und Ewigkeit: ein Versuch zu altorientalischen Konzeptionen« (29–51) mit frühesten Aufzeichnungen der Wirtschaftsverwaltung, wo das Zeichen für »Tag« im Zusammenhang der Arbeit als »Arbeitstag« bzw. als entsprechende »Ge­treideration« begegnet. Gewissermaßen das Konzept einer Raum-Zeit entsteht dann durch die Verbindung eines idealisierten Norm-Jahres von 360 Tagen mit den Kreisbewegungen der Gestirne und den obersten Göttern. Die Planung der Zukunft aus der Vergangenheit zeigt das Konzept einer linearen Zeit, während die Vorstellung der Dauerhaftigkeit die Vergangenheit und die Zukunft umfasst. Bei den Göttern verbindet sich »die zählbare Zeit mit dem Prinzip der Dauerhaftigkeit« (47).
Alan Williams diskutiert in »The Theological Significance of Dualism in the Three Times of Zoroastrian Eschatology« (53–66) zoroastrische Zeitkonzepte, wobei er die Arbeiten von Mary Boyce aufnimmt und mit dem dritten Buch des Dēnkard aus dem 9. Jh. n. Chr. ins Gespräch bringt.
Walter Meschs Beitrag »Zeit und Ewigkeit in Platons Timaios. Eine Untersuchung des demiurgischen Modells« (69–97) ist eine Analyse der voraussetzungsreichen Passage über die Herstellung der Zeit durch den Demiurgen (Timaios 37c-e), in der sie als Abbild der Ewigkeit bezeichnet wird. Mesch fasst zusammen: »Folgt man dem Timaios, ist der Kosmos Abbild […] eines lebendigen Ideenganzen. Die Zeit ist im selben Sinne Abbild wie der gesamte Kosmos. […] Dabei ist die Zeit jene Struktur, durch die der Kosmos seinem idealen Vorbild insgesamt am nächsten kommt. […] Es handelt sich um ein beständiges Voranschreiten bzw. Vergehen der Gegenwart, das im Rückgriff auf die Bewegung der Himmelskörper und auf abstrakte Zahlen gemessen werden kann. […] Zeit ist Abbild der Ewigkeit, weil ihr Voranschreiten bzw. Vergehen bleibende Zeiteinheiten wiederholt.« (96)
In seinem Aufsatz »Ewige Zeit, räumliche Bewegung und göttliches Tätigsein bei Aristoteles« (99–121) analysiert Thomas Brunotte drei Passagen aus Metaphysik XII.6, Physik VIII.1 und De generatione et corruptione II.10. Die Überlegungen dieser Texte haben die Konsequenz, dass sich Aristoteles vom Konzept des Selbstbewegers als Ursache der ewigen und kontinuierlichen Bewegung distanziert und stattdessen nach dem Prinzip des unbewegten Bewegers sucht. Er beschreibt ihn »als göttlichen Nous, der reines Denken ist und dessen Substanz reine Wirklichkeit ist.« (120)
Nach Platon und Aristoteles bringt Jula Wildberger stoische Zeitkonzepte und stoische Theologie in die Debatte ein: »Time and the Activities of God in Stoicism« (123–152). Der Aufsatz analysiert vor allem die in Arius Didymus’ Frg. 26 referierten Positionen. Wildberger macht hier eine Entwicklung aus: Während die frühen Stoiker Zeit in Abhängigkeit von bewegten Körpern dachten (Zenon) und die Definition oder Qualifikation von Zeit als Gegenwart der Aktivität Gottes zuschrieben (Chrysipp), führten die Vertreter der mittleren Stoa (Posidonius) die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Zeit und das Konzept eines Jetzt ein. Entsprechend wird nun göttliche Aktivität von einer zeitlichen Dimension strukturiert, die nicht mehr von Gott selbst abhängig ist.
Die biblischen Sektionen werden – höchst sachgerecht! – mit einem Beitrag zu »Zeit und Ewigkeit in Psalm 90« (155–185) von Matthias Köckert eröffnet. Im Blick auf andere Beiträge ist aus dieser reichhaltigen und gut begründeten Auslegung von Ps 90 (und einiger Verse aus Ps 102) hervorzuheben, was Köckert über das Zeit- und Raumverständnis des Psalms herausarbeitet, nämlich den »Kontrast zwischen Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit und der Kurzlebigkeit der Menschen« (167). Dabei zielt der in dieser Hinsicht zentrale V. 4 »nicht auf einen quantitativen, sondern auf den qualitativen Unterschied zwischen den Menschen, gebunden an Zeit und Raum, und Gott als Schöpfer von Zeit und Raum. Der Qualitätsunterschied ist ein Unterschied der Relation zu Zeit und Raum. Der Mensch lebt in Zeit und Raum, Gott aber hat Raum und Zeit geschaffen, steht ihnen also immer auch gegenüber. Gott ist in dieser Hinsicht geradezu die Negation von Zeit und Raum, die werden und vergehen.« (172)
Mareike V. Blischke diskutiert in ihrem Aufsatz »›Die Gerechten aber werden ewig leben (Sap 5,17)‹ [!]. Begrenzte und entgrenzte Zeit in der Sapientia Salomonis« (187–212) die eschatologische Entgrenzung der grundsätzlich als für das Diesseits festgesetzt gedachten Zeit.
Günter Stemberger setzt sich in »Zeit, Geschichte, Ewigkeit im rabbinischen Judentum« (213–230) kritisch abwägend mit den Thesen von Sacha Stern, »Time and Process in Ancient Judaism« auseinander.
Thomas Söding, »Der Kairos der Basileia. Die Geschichte Jesu als Ende und Wende« (233–252), analysiert das neutestamentliche Geschichtsverständnis und macht hier Akzentverschiebungen aus: »Der ewige Gott ist nicht der unbewegte Beweger. Die Ewigkeit ist nicht die Negation der Zeit. Der ewige Gott handelt in der Zeit, um die Welt zu erschaffen, zu erhalten und zu erlösen. […] Die Zeit ist von Gottes Ewigkeit umfangen und für sie geöffnet.« (251)
Charlotte Köckert behandelt dann in ihrem umfangreichen Beitrag »Gott, Welt, Zeit und Ewigkeit bei Origenes« (253–297). Sie diskutiert Texte, »in denen Origenes ausgehend von biblischen Textpassagen Gottes Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit skizziert.« (253). Die Ergebnisse sind komplex und präsentieren einen großen Theologen, der verschiedene Konzepte nebeneinander stehen lässt oder in einem doppelten Sinn von »Ewigkeit« sprechen kann, um Bibelauslegung und philosophisch-theologische Spekulation zu verbinden.
Der Beitrag Eberhard Jüngels, »Anteilgeben an der Ewigkeit. Erwägungen zu einem christlichen Ewigkeitsbegriff« (299–316), ist insofern eine Ausnahme in dem Band, als hier »das literarische Genus einer theologischen Meditation gewählt« (300) wird. Er hat aber auch dadurch eine Sonderstellung, weil er ge­radezu virtuos in Auseinandersetzung mit einer Wolke von Zeugen – von Ho­mer und Parmenides bis zu Ingeborg Bachmann und Wolfhart Pannenberg – über eine Bestimmung des ewigen Lebens nachdenkt und so immerhin einen Teil der in anderen Beiträgen behandelten Kulturkreise aufeinander bezieht.
Einen Brückenschlag – nämlich zur Psalmenexegese – stellt auch der Beitrag von Angelika Neuwirth über »Zeit und Ewigkeit in den Psalmen und im Koran (Ps 136 und Sure 55)« (319–341) dar. Der Beitrag stellt zunächst das neue Forschungsfeld der Psalmenreminiszenzen im Koran vor und vergleicht dann besonders Ps 136 und Sure 55 miteinander. Dabei markiert die koranische Neulektüre des Psalms »eine Umkehrung der Stoßrichtung von Geschichte und innerweltlicher Zeit zu Eschatologie und Ewigkeit« (338).
Bärbel Beinhauer-Köhler bearbeitet in »›Und für alle Zeit erschien aus ihrer Mitte das Alleräußerste Licht‹. Zeit und Ewigkeit im populären Islam der häretischen Schia Mesopotamiens« (343–355) Zeitvorstellungen im Umm al-Kitāb.
Ein Sachregister (357–360) schließt den Band ab, dessen Lektüre viel mehr an hochinteressanten Bezügen zwischen den Beiträgen zu Tage fördert, als die anfangs zitierte Bemerkung der Herausgeber vermuten lässt.