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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

58–60

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hendel, Ronald

Titel/Untertitel:

The Book ofGenesis. A Biography.

Verlag:

Princeton u.a.: Princeton University Press 2012. 293 S. = Lives of Great Religious Books. Lw. US$ 24,95. ISBN 978-0-69114012-4.

Rezensent:

Jakob Wöhrle

Das Buch Genesis ist in der neueren alttestamentlichen Forschung Gegenstand umfassender Diskussion. Die Entstehung der Genesis im Rahmen des Pentateuch, die Hintergründe der in der Urgeschichte versammelten Traditionen, die politische Bedeutung der Vätererzählungen – dies und vieles andere wird derzeit intensiv debattiert.
Die von Ronald Hendel, Professor of Hebrew Bible an der University of Berkeley, vorgelegte und für eine breite Leserschaft verfasste Studie geht nun gewissermaßen hinter die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Genesis zurück und zeigt auf, wie dieses Buch in seiner über 2000-jährigen Auslegungsgeschichte schon immer Gegenstand unterschiedlicher, ja widerstreitender Interpretationen war. Die besondere Gestalt dieses Buches – die oft sehr reduzierte Erzählweise, das durch die Entstehung des Buches bedingte Nebeneinander verschiedener Traditionen sowie dessen religiöser Inhalt – ließ seiner Darstellung nach von Beginn an die erklärende Interpretation der Genesis notwendig werden und führte zu ganz verschiedenen Zugängen zu diesem Buch. Die Pluralität der über die Jahrhunderte vorgetragenen Auslegungen der Genesis ist, so die These H.s, in diesem Buch selbst angelegt.
Konsequenterweise setzt daher die von ihm vorgelegte »Biographie der Genesis«, in der er Leben und Nachleben dieses Buches beschreiben will, bei der Entstehung des Buches ein. In der Genesis haben sich seiner Ansicht nach zahlreiche ältere Traditionen erhalten. Die älteste Überlieferung liegt in dem in Gen 49 belegten Jakobssegen vor, der noch auf die Zeit der Stämmegesellschaft zurückgeht. Die einzelnen Überlieferungen flossen dann – entsprechend der klassischen Quellentheorie – zunächst in drei unabhängig voneinander überlieferte Erzählwerke ein, den Jahwisten, den Elohisten und die Priesterschrift. Aus der Vereinigung dieser Quellen wurde schließlich die vorliegende Genesis mit der dieses Buch prägenden, überaus komplexen Gestalt geschaffen.
Dass die Genesis, wie überhaupt der vorliegende Pentateuch, wohl nicht zuletzt angesichts dieser, von ihrer Entstehung her bedingten Gestalt schon immer der interpretierenden Auslegung bedurfte, zeigt sich nun nach H. schon im Alten Testament selbst. Denn bereits bei der in Neh 8 belegten Darstellung der von Esra initiierten Tora-Lesung wird die Tora nicht nur gelesen, sondern auch Stück für Stück erklärt. Das widersprüchliche Nebeneinander der verschiedenen Traditionen – zusammen mit der Frage nach der Relevanz dieser Traditionen für die eigene Gegenwart – erforderte also von Beginn an die erklärende Interpretation dieser Texte.
Die widersprüchliche Gestalt der Genesis und die Frage nach der Relevanz dieser Texte ließ dann nach den weiteren Ausführungen des Verfassers schon bald allegorisch-symbolische Auslegungen aufkommen. Dabei unterscheidet H. insbesondere zwei Typen: die apokalyptischen Auslegungen und die von der platonischen Philosophie bestimmten Auslegungen.
Die apokalyptische Auslegung der in der Genesis belegten Überlieferungen beginnt nach H. schon in den alttestamentlichen Schriften selbst. So wird in Ez 47,6–8 der künftige, endzeitliche Tempel unter Aufnahme der in Gen 2,10–14 erwähnten Paradiesströme als Zentrum eines wiederhergestellten Paradieses beschrieben. Apokalyptische Auslegungen finden sich sodann auch in Qumran, wo etwa das in Gen 49,10 im Rahmen des Jakobsegens belegte Wort vom Zepter Judas auf das Kommen des Messias bezogen wird. In eine vergleichbare Linie gehört schließlich auch die bei Paulus in 1Kor 15,45–49 belegte Darstellung Christi als neuer Adam.
Von der platonischen Philosophie mit ihrem Dualismus der vorfindlichen, sichtbaren Welt der Dinge und der hinter dieser stehenden unsichtbaren Welt der Ideen beeinflusste Auslegungen zeigen sich nach H. schon in der Septuaginta, bei der etwa im ersten Schöpfungsbericht Gen 1,1–2,4a terminologische Anlehnungen an das platonische Weltbild erkennbar sind. Seine bedeutendste Ausführung fand dieser Auslegungstyp dann bei Philo von Alexandrien, der etwa das Nebeneinander der beiden Schöpfungsberichte in Gen 1–2 so erklärte, dass der erste Bericht die Erschaffung der Welt der Ideen, der zweite aber die vorfindliche Welt der Dinge beschreibt.
Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen beschreibt H. nun, wie in den folgenden Jahrhunderten – zunächst neben und sodann an Stelle der allegorisch-symbolischen Auslegungen – historisch-wörtliche Auslegungen Bedeutung erlangten. So hob etwa Augus­tin auf Grundlage der Lehre vom vierfachen Schriftsinn hervor, dass die in Gen 2 belegte Paradieserzählung nicht nur symbolisch auf das Leben des Gerechten oder auf die Kirche, sondern auch historisch-wörtlich auf einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu beziehen sei. Die historisch-wörtliche Auslegung wurde dann von Martin Luther als einzig legitime herausgestellt. Da­bei ergab sich nach H. aber schon zu Luthers Zeiten ein Problem der historisch-wörtlichen Auslegung, das diese bis heute be­stimmt: die Uneindeutigkeit der Schrift. Ebendieses Problem wurde schon für Luther selbst virulent, etwa in den Auseinandersetzungen zur Zeit des Bauernkrieges um die von Gen 1–2 her grundgelegte Gleichheit aller Menschen.
Ein eigenes Kapitel widmet H. der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft. So war bis an das Mittelalter die von Philo begründete Unterordnung der Naturwissenschaften unter die Theologie als nur vorläufige Wissenschaften bestimmend. Im Zuge des im Mittelalter vollzogenen Einsturzes des auch in den biblischen Überlieferungen vorausgesetzten geozentrischen Weltbilds wurde dann zunächst – so noch von Galileo Galilei selbst – versucht, die biblischen Überlieferungen mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen durch neuerliche allegorisch-symbolische Auslegungen in Einklang zu bringen. Doch letztlich bewirkten die neuen Erkenntnisse, dass Theologie und Naturwissenschaft nun als zwei getrennte, eigenständige Wissenschaften nebeneinanderstanden.
Aber mehr noch: Nach H. führte gerade die so vollzogene Trennung von Theologie und Naturwissenschaft zu einer Professionalisierung beider Disziplinen. Denn im Gegenüber zur nun eigenständigen Naturwissenschaft unterwarf sich auch die Theologie einem auf Verstand und Einsicht beruhenden Erkenntnisprozess. Dies zeigt sich nach H. insbesondere bei Baruch Spinoza und dessen Forderung, dass sich die Interpretation der Schrift nicht von der Interpretation der Natur unterscheiden dürfe und somit allein auf der Vernunft basieren müsse. So interpretierte Spinoza die Schrift vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Entstehung. Auf diese Weise erkannte und begründete er etwa, dass die Vätererzählungen der Genesis nicht schon von Mose verfasst sein können.
In einem abschließenden Kapitel geht H. schließlich auf moderne Aufnahmen und Auslegungen der Genesis ein. Er zeigt, welche Bedeutung den in Gen 1–3 belegten Aussagen über das Verhältnis von Mann und Frau in der Emanzipationsbewegung zukam. Zudem beschreibt er die Verarbeitung der in der Genesis belegten Traditionen in der neueren Literatur, etwa in Kafkas »Der Prozess«.
Mit seiner »Biographie der Genesis« hat H. ein hoch gelehrtes und ausgesprochen interessantes Buch vorgelegt. Es beeindruckt durch die tiefgreifende und doch gut zu lesende und für einen breiten Leserkreis verständliche Darstellung der Rezeptionsgeschichte der Genesis, die hier geradezu als exemplarische Ausführung einer jüdisch-christlichen Kultur- und Geistesgeschichte erscheint.
Dass bei einem solchen Werk manches kurz oder auch zu kurz kommt, liegt in der Natur der Sache und kann den großen Wert des von H. vorgelegten Buches nicht infrage stellen, sei aber doch er­wähnt.
So ist etwas misslich, dass H. in seinen Ausführungen zur Entstehung der Ge­nesis – gerade auch in einem für eine breitere Öffentlichkeit geschriebenen Buch – den falschen Anschein erweckt, dass die Quellentheorie ein Konsens gegenwärtiger Forschung wäre. Zu­dem spielen in seinen Ausführungen – der Wirkungsgeschichte der Genesis entsprechend – vor allem die beiden Schöpfungsberichte und die Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies eine Rolle. Die übrige Genesis, deren Bedeutung und Rezeption, ist dagegen kaum von Bedeutung.