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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

56–57

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Judith

Titel/Untertitel:

Die Geschichtspsalmen. Eine Studie zu den Psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 als hermeneutische Schlüsseltexte im Psalter.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XIV, 439 S. = Forschungen zum Alten Testament, 84. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-151903-1.

Rezensent:

Christoph Rösel

Mit ihrer im Wintersemester 2011/12 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommenen Habilitationsschrift legt Judith Gärtner eine beeindruckende und umfassende Studie zu den Geschichts­-psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 vor. Diese späten Psalmen sind da­durch gekennzeichnet, dass sie die grundlegenden Erzählungen der Geschichte JHWHs mit Israel aufnehmen. Nach G. kommt dabei »der fundierenden Heilsgeschichte die Funktion zu, die eigene Gegenwart im Lichte der Psalmen neu zu deuten. Dadurch entsteht eine relecture der Tora in poetischer Form« (1). Im Anschluss an E. Voegelin sieht sie in diesen Texten eine paradigmatische Darstellung der Geschichte, eine »sinnstiftende Geschichte, in der die historischen Geschehnisse in einem transzendenten Bezugsrahmen gedeutet werden« (12). In einem solchen Geschichtsverständnis sei die Notwendigkeit einer ständigen Neuinterpretation bereits eingeschlossen, »da die paradigmatische Essenz der Ereignisse nur von einem gegenwärtigen Standpunkt aus bestimmt und nur für diesen ausgesagt werden kann« (14). Durch den Vollzug dieser identitätsstiftenden Geschichtskonstruktion im Mo­dus des Psalmenbetens ergibt sich für G. zugleich ein Bezug zur kulturwissenschaftlichen Debatte um das kulturelle Gedächtnis: »Indem die Geschichtspsalmen […] den Erinnerungsprozess selbst zum Thema erheben, werden sie ihrerseits zum Paradigma kollektiver Gedächtnisse« (29). Darüber hinaus müssen diese Texte als späte Psalmen außerdem auch auf ihre psalterkompositorische und psalterredaktionelle Funktion hin untersucht werden.
Im Hauptteil der Arbeit behandelt G. die Geschichtspsalmen in ihrer kanonischen Reihenfolge. Die Psalmen 105/106 und 135/136 sind dabei wegen der engen Bezüge zueinander jeweils in ein Kapitel zusammengefasst.
Im Blick auf das paradigmatische Verständnis von Geschichte beschreibt G. für jeden der Psalmen ein spezifisches Profil. Ps 78 deutet die Geschichte JHWHs mit Israel als eine Geschichte der göttlichen Barmherzigkeit trotz menschlicher Schuld. Eine Be­sonderheit des Psalms ist neben dem Proömium mit seinem »geschichtshermeneutischen Prolog« (36) der doppelte Durchgang durch die Geschichte, der JHWH zunächst als Schöpfer, dann als Weltenherrscher erkennbar werden lässt. Auch in Ps 105/106 ist zunächst die Barmherzigkeit Gottes die wichtigste geschichts­-hermeneutische Kategorie. Dabei dominiert in Ps 105 die Güte JHWHs, der Israel seinen Heilsbund zusagt. Ps 106 wiederum entfaltet die Bedeutung seiner Güte als Grenze des Zorns angesichts der Schuld Israels. Im Unterschied dazu beschreibt Ps 135 vor allem die Entfaltung der Herrschaft JHWHs in Schöpfung und Geschichte und stellt seine Exklusivität gegenüber anderen Göttern heraus. Ps 136 schließlich verdichtet die Erzählungen des Pentateuchs zu Be­kenntnissätzen, sodass die Wundertaten das einleitende monotheistische Bekenntnis (136,1–3) entfalten. Doch auch hier ist »die Güte Jhwhs die entscheidende geschichtshermeneutische Deutekategorie […], durch die die Exklusivität Jhwhs in Schöpfung und Geschichte entfaltet wird« (375). Die Geschichtspsalmen stellen für G. »somit eine Vielfalt der Ausdrucksformen für den einen Typ von paradigmatischer Erinnerung dar« (381). Darin sieht sie zugleich die Zusammenstellung dieser Texte zu einer Psalmengruppe be­stätigt, die nicht durch gattungskritische Kriterien, sondern durch thematische Übereinstimmungen begründet wird, »weil sie in ihrer jeweiligen spezifischen Art und Weise das paradigmatische der fundierenden Ereignisse selbst zum Thema erheben« (381).
In psalterkompositorischer und -redaktioneller Hinsicht ha­ben die fünf Geschichtspsalmen nach G. jeweils eine ganz unterschiedliche Funktion. Ps 78 ist ein redaktioneller Reflexionstext im Rahmen der Asafpsalmen, der insbesondere für Ps 74–79 von Bedeutung ist. Der Doppelpsalm 105/106 bildet den Abschluss der nach und nach entstandenen Sammlung Ps 101-106 und damit zugleich auch des vierten Psalmenbuches. Ps 136 war nach G. einmal der Ab­schlusspsalm einer Sammlung Ps 2–136*, der vor der Einfügung sowohl der Wallfahrtspsalmen als auch des Tora-Psalms 119 zu­nächst direkt auf Ps 118 folgte. Ps 135 wiederum erweist sich für G. als »ein redaktioneller Text mit Kompilations­charakter« (386), der die durch die Einfügung der Wallfahrtspsalmen gestörten Bezüge von Ps 136 zum Anfang des fünften Psalmenbuches wiederherstellt und zugleich auf die nach Ps 136 folgenden Texte verweist. Die Geschichtspsalmen stehen demnach jeder für sich bzw. 105/106 als Doppelpsalm kompositorisch und redaktionell an Scharnierstellen, als Gruppe gehören sie jedoch nicht zu einer bestimmten Redaktionsstufe. Da vier der fünf Texte im vierten und fünften Psalmenbuch stehen, geht G. davon aus, dass »die Reflexion der paradigmatischen Geschichte, die zugleich auf ein Bekenntnis zu dem einen Gott in Schöpfung und Geschichte zielt« (389), für diesen Teil des Psalters von besonderer Bedeutung ist.
Den in diesen Psalmen vollzogenen Rezeptionsprozess der in der Tora beschriebenen Geschichte JHWHs mit Israel sieht G. dann zugleich als Beispiel für die Entstehung kollektiver Gedächtnisse. Als besondere Kennzeichen hebt sie die poetische Form der Ge­schichtserzählung und die Reflexion des Prozesses selbst, etwa in Ps 78,1–11, hervor.
Im abschließenden Ausblick nennt G. drei weiterführende Perspektiven: Da alle Geschichtspsalmen von einem monotheistischen Gottesbild ausgehen, stellt sich die Frage, »inwieweit sich diese Perspektive einer monotheistischen Theologie der Psalmen auch noch in weiteren späteren Psalmen niedergeschlagen hat bzw. inwieweit diese für die Theologie der späten Psalmen leitend ist« (390). Als zweites wäre nach G. zu prüfen, ob es von den Ge­schichts­psalmen noch weitere makrostrukturelle Verbindungslinien in den Gesamtpsalter hinein gibt. Und schließlich entsteht durch den Bezug der Geschichtspsalmen zum Pentateuch »ein innerbiblischer Fragehorizont nach der Rezeption und der Interpretation der fundierenden Ereignisse aus der Frühgeschichte und ihrer Bedeutung für die alttestamentliche Theologie« (391).
Nach dem Literaturverzeichnis wird das Buch durch je ein Register zu Bibelstellen und zu Namen und Sachen abgerundet.
G. bietet mit dieser Studie eine sehr lesenswerte und theologisch ertragreiche Auslegung der Geschichtspsalmen, die eine um­sichtige Auslegung der einzelnen Psalmen jeweils mit einer präzisen Einordnung in die Kompositions- und Redaktionsgeschichte des Psalters verbindet. Sie zeigt sehr überzeugend, dass die Ge­schichts­psalmen für ihren unmittelbaren Kontext hermeneutische Schlüsseltexte sind. Ob das in gleicher Weise auch für den Psalter insgesamt gilt, muss die weitere Diskussion zeigen.