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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

53–55

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nehring, Andreas, u. Simon Tielesch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2013. 360 S. = ReligionsKulturen, 11. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022552-7.

Rezensent:

Ulrike Auga

Mit ihrer ausgewogenen und herausfordernden Zusammenstellung ermöglichen Andreas Nehring und Simon Tielesch einen sinnvollen Zugang zu zentralen Texten postkolonialer Theologien, die sie ins Deutsche übertragen ließen. Postkoloniale Theologien verstehen die Autoren als eine kritische Weiterführung der Befreiungstheologien. Wegen ihres kreativen und konstruktiven Beitrages für das Theologisieren, lohne es sich, diese zu fördern, denn anstatt in theoretisch abstrahierender Distanz zu bleiben, werde die Verwobenheit von politischer Praxis und theologischer Reflexion betont.
Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Auf eine Hinführung folgen Essays, die sich theoretisch mit biblischen Perspektiven befassen. Der zweite Teil fasst Beiträge unter den Gesichtspunkten »Identität – Hybridität – Diaspora« zusammen und fokussiert globale Phänomene von Grenzziehungen, postkolonialen Kontaktzonen und Zwischenräumen als Paradigma für das theologische Arbeiten. Der finale Teil »Option für die Ränder« widmet sich Neuentwicklungen der »Option für die Armen«.
Der kursorische Überblick stellt Kernthemen dar und konzentriert sich vor allem auf das »Triumvirat« der postkolonialen Theorie: auf Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha. Darüber hinaus dient vor allem Stuart Hall als Gesprächspartner aus den Cultural Studies. Obwohl die postkolonialen Theorien und Theologien im deutschen Kontext bisher wenig rezipiert wurden, was die Dringlichkeit dieses Buches unterstreicht, ist die Debatte seit Dekaden in Bewegung. Daher wäre hier die Aufnahme der Kritik, etwa an Bhabhas Hybriditätskonzept, oder von Weiterentwicklungen, etwa von Spivaks Repräsentationsverständnis, hilfreich gewesen.
Im ersten Beitrag bespricht R. S. Sugirtharajah Ansätze, die mit der Funktion des Textes der Bibel als Maßgabe postkolonialer Theologie ringen. Sugirtharajah stellt die binäre Struktur des befreiungshermeneutischen struggles und die postmoderne Tendenz heraus, eine Theologie der Befreiung der Armen über eine Befreiung durch die Armen zu stellen. Eine Allianz von Postkolonialismus und Befreiungshermeneutik könne dennoch helfen, eine »Homogenisierung der Armen«, »Biblizismen« (69) und religiösen Exklusivismus zu überwinden.
Fernando F. Segovia erarbeitet anhand von Definitionen und Transformationsprozessen christlicher Diaspora deren Relevanz für die Exegese. In seiner »Hermeneutik des Andersseins und des Engagements« fokussiert er die Produktion von Texten, Interpretationen und Lesenden als ›andere‹, die durch ihre ›Polyglossie‹ und Vielfältigkeit ideologischer Vereinnahmung widerstehen können.
Musa W. Dube stellt die mehrfach-marginalisierte Erfahrung von Frauen in postkolonialen Räumen der Zwei-Drittel-Welt, auch mit Universalisierungen eines wohlmeinenden ›weiß‹-›westlichen‹ Mittelklasse-Feminismus heraus. Dubes Überblick über postkoloniale feministische Autorinnen zeigt die Notwendigkeit intersektionaler Analyse von Mehrfachdiskriminierungen in­digener, kolonialer und postkolonialer Patriarchalismen.
Ein Interview mit Kwok Pui Lan zeichnet die Bewegung von einer farbcodierten »Ursprünglichkeits-Besessenheit« der Jesus-Forschung hin zu einem diasporischen Bibelparadigma nach.
Ein weiterer Beitrag von R. S. Sugirtharajah setzt sich mit den kolonialen Verflechtungen insbesondere der neutestamentlichen Forschung auseinander. Er betont praktisch-politisches Engagement als Ansatzpunkt für exegetische Arbeit, um nicht nur spielerisches Entertainment für das Interpretations-Establishment zu bieten.
Mayra Rivera Rivera entwickelt postkoloniale Widerstandsstrategien, Allianzen und Positionierungen von Grenzgängerinnen und Grenzgängern, die ›Identitäten‹ dekonstruieren und »als politische Taktik mobilisieren« (162).
Vitor Westhelles befasst sich mit dem ›Marktplatz‹ kolonial-postkolonialer Repräsentationen und zeigt Möglichkeiten nicht-westlicher Handlungsmacht in literarischen und biblischen Diskursen, diese Logik zu stören.
Michael Nausner bespricht in Aufnahme Paul Tillichs die Metapher des sicheren Heimatlandes (turf) gegenüber der Fremde. Gerade die Räumlichkeit des Grenzlandes als Heimat aber dekonstruiert die Vorstellung eines ›reinen‹ und ›sicheren‹ Heimes.
Namsoon Kang geht der Nivellierung der Erfahrung asiatischer Frauen auch durch ›westlich‹-feministische Diskurse mit Hilfe von Saids Orientalismus-Ansatz nach. Mit einem Wechsel von Was? zu Wer? fokussiert sie die dezentrierten und fluiden Subjektpositionen und Allianzen in Asien.
David N. Field bietet eine euro-afrikanische Perspektive auf die Option für die Armen, die hier komplexer als in den Binarismen von Zentrum – Peripherie und Kolonisator – Kolonisierte entwickelt wird.
Catherine Keller präsentiert die befreiende gegen-imperialistische Praxis der Liebe, die in der Verletzlichkeit menschlichen Lebens ihren Grund hat. Erfreulich ist Kellers Hinweis auf Embodiment- und Inkarnationstheologie: Liebe brauche immer konkrete Orte und Körper auf einem Planeten, den man in Zeiten ökologischer und sozialer Krisen selbst den Körper Gottes nennen könnte.
Mark Lewis Taylor thematisiert noch einmal die Sprachfähigkeit der Subalterne und entwickelt Praktiken fluider Solidarität (fluidarity, 291). Auch mit seiner selbstkritischen und lokalisierten Praxis der Fürsprache geht es Taylor aber nicht darum, Handlungsermächtigung und Subjektwerdung Subalterner zu thematisieren. Er verbleibt bei »berechtigter« und »authentischer« Praxis, »über die Subalternen überall zu sprechen« (292), wobei dann gar die »subalterne Stimme im Fürsprecher das Wesen des Fürsprechers zerreißt« (294) und – funktionalisiert bis in die Metaphysik – recht schnell mit der Transzendenz ›des Anderen‹ des französischen Poststrukturalismus identifiziert wird.
Marion Grau entwickelt Jesus Christus als ›göttlichen Fälscher‹ in ihrer Lesart von Gregor von Nyssa und von Luther. Das metaphorische Spiel mit dem göttlichen Wechsel und der Verweis auf Althaus-Reids originellen Einfall des sacred trickster ist erfrischend. Was in Althaus-Reids Queerer Theologie (die übrigens eine postkoloniale Linie darstellt, die im vorliegenden Band nicht dezidiert Platz fand) ein provokatives Spiel ist, bleibt bei Grau fixiert auf die ökonomische und die Prostitutionsmetapher: Wo der konkrete Lebensbezug Althaus-Reids fehlt, wird Jesus zu einer überladenen Prostituierten-Repräsentation, überfordert mit dem Bezug von commercium zu conubium (Ehe) und nicht immer glücklichen Anklängen an den Sex-Trade. Schließlich bleibt auch der ökonomische Dualismus von Investition und Ertrag im System des großen Widersachers intakt.
Im finalen Beitrag der gelungenen Zusammenstellung klärt Kwok Pui Lan das Verhältnis postkolonialer Kritik und historisch-kritischer feministischer Bibelauslegung und diskutiert Ansätze, welche die Frage nach Genderbeziehungen mit postkolonialen Ansätzen verbinden.
Das sehr empfehlenswerte Buch eignet sich für Studierende, Lehrende und die pastorale Praxis genauso wie für Interessierte in anderen Kontexten. Lediglich die Berücksichtigung neuerer Ansätze von Handlungsermächtigung jenseits von ›Identitäts‹-Fixierungen anstelle von Neuentwicklungen ›westlicher‹ Stellvertretung sowie das Einbinden von Essays, die sich dezidierter mit Einzelbüchern oder Motiven der Bibel befassen, hätten die Reichweite und das epistemologisch-kritische Potential postkolonialer Theologien deutlicher machen können.