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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

51–53

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kauhanen, Tuukka

Titel/Untertitel:

The Proto-Lucianic Problem in 1 Samuel.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 240 S. = De Septuaginta Investigationes, 3. Lw. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-53459-5.

Rezensent:

Michael Pietsch

Der Untersuchung liegt die überarbeitete Dissertation des Vf.s aus dem Jahr 2011 zugrunde, die unter der Ägide von A. Aejmelaeus an der Universität Helsinki angefertigt wurde. Sie wendet sich einem Spezialproblem der Septuagintaforschung zu, das jedoch angesichts der jüngsten Debatten über den textkritischen Wert und das theologische Profil besonders der sogenannten lukianischen (oder besser: antiochenischen) Textform der Septuaginta in den Samuel- und Königsbüchern auf erhöhte Aufmerksamkeit rechnen darf.
Die klar und konzise geschriebene Studie nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem hinlänglich bekannten Problem, dass der antiochenische Text bzw. einzelne Lesarten dieser Textform, die nach der altkirchlichen Überlieferung auf die Revision eines älteren griechischen Textes durch den antiochenischen Bischof Lukian (gest. 311/312 n. Chr.) zurückgehen soll, bereits in Textzeugen be­legt sind, die der lukianischen Rezensionsarbeit zeitlich voraus­liegen, mithin ein älteres Textstadium bezeugen. Hierzu zählen neben der altlateinischen Bibelübersetzung (Vetus Latina), den biblischen Referenzen im Werk des Josephus und den Parallelen in den Bibelhandschriften aus Qumran (besonders 4QSama), vor allem die Bibelzitate oder Anspielungen bei den Kirchenvätern Irenäus, Tertullian, Hippolyt und Cyprian. Das Ziel der Untersuchung besteht in einer detaillierten Analyse sämtlicher sogenannter protolukianischer Lesarten, die für den Textbereich des ersten Buches Samuel bislang bekannt sind, und der näheren Bestimmung ihres literarischen Charakters sowie ihres textgeschichtlichen Wertes.
Nach einer kurzen Einleitung, in der K. zunächst das Problem knapp skizziert, bevor er seine Untersuchung in den breiteren forschungsgeschichtlichen Diskurs einordnet und abschließend einige bedenkenswerte methodische Vorüberlegungen zur textgeschichtlichen Urteilsbildung anführt, bietet der Hauptteil der Arbeit eine nach den Textzeugen gegliederte Durchsicht aller Einzelbelege, die jeweils mit einer textgeschichtlichen Gesamtbewertung beschlossen wird, die sowohl den literarischen Charakter der Textzeugen als auch ihre äußere Überlieferung berücksichtigt. Abgeschlossen wird die Studie durch eine knappe Bündelung und textgeschichtliche Auswertung der wichtigsten Ergebnisse. Ein Verzeichnis der biblischen und antiken Stellen leistet hilfreiche Dienste bei der Erschließung des materialreichen Werkes.
In der Einleitung vollzieht K. die entscheidenden methodischen Weichenstellungen für die nachfolgende Analyse des Textmaterials. Ein erster, längerer Abschnitt behandelt die wesentlichen Epochen und Ergebnisse der bisherigen Forschung zum lukianischen resp. antiochenischen Text. Dabei liegt der Fokus auf der kontroversen Diskussion über den rezensionalen Charakter der sogenannten proto-lukianischen Lesarten.
F. M. Cross hatte bekanntlich aufgrund seiner Untersuchung der Qumranhandschriften (vgl. 4QSama) gegen D. Barthélemy die Auffassung vertreten, dass bereits die sogenannten proto-lukianischen Lesarten unter dem Einfluss einer hebraisierenden Bearbeitung stünden. Diese Annahme ging mit der Vorstellung dreier lokal unterschiedener Texttypen einher, die durch die masoretische Textform, die Qumranhandschriften und die Septuaginta repräsentiert würden. Gegen Cross und seine Schüler hat A. Aejmelaeus (im Anschluss an Beobachtungen von E. Tov) am entschiedensten den rezensionalen Charakter der sogenannten proto-lukianischen Lesarten (und zugleich die Theorie dreier lokaler Texttypen) bestritten und die hebraisierenden und hexaplarischen Einflüsse stattdessen als »sporadic corrections« bzw. als »inner-Greek corruptions« zu erklären versucht. Hier setzt K.s Untersuchung ein, die erstmals eine systematische Durchsicht und Überprüfung aller sogenannten proto-lukianischen Lesarten für den Textbereich des ersten Buches Samuel unternimmt, um eine begründete Entscheidung in dieser Debatte zu erreichen.
Im zweiten Teil der Einleitung erinnert K. an einige wichtige hermeneutische Differenzierungen, die nicht nur bei der textgeschichtlichen Beurteilung alttestamentlicher Bibelzitate in den Werken der Kirchenväter resp. bei Josephus zu beachten sind. K. unterscheidet zwischen eindeutig markierten Zitaten, sogenannten Adaptionen (dabei handelt es sich um »Zitate«, die keine eigene Zitateinführung besitzen und syntaktisch wie argumentativ an den literarischen Kontext angepasst werden), Paraphrasen, Anspielungen und einem biblisch geprägten Sprachstil des jeweiligen Autors, und macht mit Recht darauf aufmerksam, dass der textkritische Wert einer Lesart je nach ihrer kategorialen Bestimmung differenziert zu beurteilen ist. Bei den Werken des Irenäus und des Hippolyt, die ihrerseits nur in Übersetzungen erhalten geblieben sind, ist zudem mit Textänderungen zu rechnen, die sich den sprachlichen und konzeptionellen Eigenheiten der Übersetzer verdanken und einen Rückschluss auf die ursprüngliche Lesart erheblich erschweren.
K.s vergleichende Untersuchung der Übereinstimmungen zwischen dem lukianischen (bzw. antiochenischen) Text und den sogenannten proto-lukianischen Lesarten im ersten Buch Samuel gelangt zu einem doppelten Ergebnis: Einerseits bestätigt er den hohen textgeschichtlichen Wert der lukianischen Handschriftengruppe als Zeugen einer eigenständigen Textform, die in vielen Fällen den ältesten Septuagintatext repräsentiere (selbst in den Partien, in denen der Codex Vaticanus nicht durch die sogenannte καίγε-Revision korrumpiert wurde), andererseits seien die sogenannten proto-lukianischen Lesarten nicht das Resultat einer älteren Revisionsarbeit, sondern bezeugten dieselbe Textform wie die späteren, lukianischen Handschriften (Rahlfs Nr. 19, 82, 93, 108 und 127). Mehr als die Hälfte der angeblich proto-lukianischen Lesarten wiesen bei genauerer Betrachtung gar keine oder höchstens zufällige, textgeschichtlich nicht signifikante Übereinstimmungen mit dem lukianischen Text auf. In 19 Fällen zeige der gemeinsame Text keine Spuren rezensionaler Bearbeitung, repräsentiere also die ältere griechische Textgrundlage der lukianischen Revision. Lediglich »in about 20 instances there is an indisputable agreement in a se­-cond­ary reading.« (191, Hervorhebung M. P.) Diese könnten jedoch überwiegend als unabhängige stilistische oder syntaktische Varianten erklärt werden, die keinen Rückschluss auf eine systema­tische Bearbeitung erlaubten.
Aufschlussreich ist zudem der Nachweis K.s, dass die von Cross behaupteten Gemeinsamkeiten zwischen den Qumranhandschriften und der lukianischen Textform für den hier untersuchten Textbestand nicht nachweisbar sind. Ähnlich verhält es sich mit den Schriftzitaten bei Josephus: »His agreements with L are few and are mostly only apparent or, at best, coincidental.« (189)
K.s Studie stellt einen wichtigen Beitrag zur Textgeschichte der Septuaginta, besonders des sogenannten lukianischen Textes dar, die man nicht nur für die Diskussion der Textgeschichte des ersten Buches Samuel gerne konsultieren wird. Ob das Problem der proto-lukianischen Lesarten damit abschließend geklärt ist, bedarf nicht zuletzt der Überprüfung der Ergebnisse anhand weiterer Textbereiche der griechischen Bücher der Könige. Vielleicht wird man für den sogenannten lukianischen Text statt mit einer großen Revision eher mit einer Vielzahl kleinerer und nicht notwendig durchgehender, rezensionaler Bearbeitungen rechnen müssen, die über einen längeren Zeitraum hinweg und mit teilweise ähnlicher Tendenz erfolgten. Dies könnte mindestens die charakteristische literarische Gestalt des sogenannten lukianischen Textes von seiner ältesten Bezeugung an erklären.