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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

564–567

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gutmann, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1998. 258 S. 8. Kart. DM 48,-, ISBN 3-579-00407-7.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Das Buch des Paderborner Religionspädagogen mit dem interessanten Titel ist in drei Kapitel gegliedert: I) Die einleitende "Bestandsaufnahme" (11-38) prüft kritisch die gegenwärtig verbreitete Rede von Traditionsabbruch und Symbolverlust, vom Ende der Meta-Erzählungen, von Individualisierung und Post-Moderne und behauptet demgegenüber die Grenzen der Individualisierung und die fortbestehende Macht der Symbole, die sich lediglich in den Bereich populärer Kultur verschoben habe. II) Die den Hauptteil des Buches ausmachenden, umfangreichen und z. T. sehr aktuellen "Interpretationen" (39-174) zeigen den vielseitigen Zusammenhang von "populärer Kultur" und "Religion" u. a. in Pop-Musik, Film ("König der Löwen"), modernem Mythos ("Prinzessin der Herzen"), Kino ("Titanic") und der "Liturgie der Tagesschau" auf. III) Das abschließende Kapitel "Religion lehren" (175-255) zieht Konsequenzen hinsichtlich Religionsunterricht, Jugendkulturen, populärer Kultur und Kirche. Ein Namensregister schließt den Band ab.

In I.1. "Was ist dran an der Individualisierungsthese?" (11-25) wird das Theorem zunächst in seinen zutreffenden Aspekten (u. a. Zerfall religiöser Symbolwelten, Abbrucherfahrungen in der institutionalisierten Religion) und einigen Vertretern (G. Schulze, U. Beck, W. Welsch, J.-F. Lyotard, W. Heitmeyer, D. Baacke) skizziert, bevor I.2. "Die Gegenrede: Von der Macht der Symbole und den Grenzen der Individualisierung" (25-38) die Geltung des Theorems bestreitet: - Fraglich ist die historische Implikation der Post-Moderne-These, derzufolge unsere heutige Situation etwas unvergleichlich Neues beinhalte; schon das 19. Jh. kannte ähnliche Prozesse (26f.) - auch die Post-Moderne benötigt die zentralen Symbole der religiösen Tradition; sie sind nicht verloren, sondern nur verschoben (in die Massenmedien und die populäre Kultur) (27 f.), - "untergründig wirken ... die traditionellen Zugehörigkeiten zu Klasse, Schicht, Milieu und Geschlecht auch in der individualisierten Gesellschaft weiter" (34). Diese Kritik wird genährt nicht nur durch das Theorem an sich, sondern weil für den Vf. die Risiken des Individualisierungsprozesses bei weitem überwiegen (35): Vereinheitlichung der Lebensräume als Kehrseite der Individualisierung (21) (A. Mitscherlich), Individualisierung bedeutet zugleich Zentralisierung (21 f.) (N. Elias). Der Vf. spricht von den "zerstörerischen Wirkungen der Individualisierung auf die Schüler/Schülerinnen" (36) und möchte "ein Gegengewicht gegen die Individualisierungstendenzen in der Lebenswelt der Kinder ... finden" (37). "Die Aufgabe der religionspädagogischen Arbeit ... angesichts des Abbruchs in der Verbindlichkeit religiöser Symbole, oder besser: angesichts der Veränderung und Verschiebung traditioneller religiöser Symbole - liegt im langfristigen Aufbau helfender ... innerer Bilder, in der Wahrnehmung und Entfaltung des emotionalen Gehalts von Symbolen ..." (38).

II. "Interpretationen" wird programmatisch eingeleitet: "Es ist in meinen Augen schlichter Unfug, wenn religionspädagogisch auf das Absterben der religiösen Symbole mit dem Blick des Kaninchens auf die Schlange geguckt wird, während in der Werbung, in den massenwirksamen Kinofilmen, in der populären Musikkultur die biblischen Erzählungen und Gestalten, die religiösen Rituale ... immer von neuem erzählt und durchgespielt werden" (38). Die populäre Kultur übernimmt damit traditionelle Aufgaben der Religion "und zugleich kann sie das nicht tun, ohne auf die ausgearbeitete Gestalt der Religion immer wieder zurückzugreifen" (39).

Dafür gibt der Vf. auf ca. 140 S. umfassendes, vielfältiges und aktuelles Belegmaterial: II.1 "Zugänge" (42-56) betont: "Ohne Partizipation verschließt sich der Gegenstand vollständig" (42), was die Arbeiten von A. Greeley, Religion in der Popkultur, 1993 ("Sympathie ohne Partizipation") und H. Albrecht, Die Religion der Massenmedien, 1993 ("Genauer Blick ohne Sympathie") belegen (II.1.1). Dann beschreibt der Vf. in II.1.2. eigene Erfahrungen mit populärer Musik in seiner Lebensgeschichte (vgl. schon: H.-M. Gutmann, Popularmusik als Gegenstand ästhetischer Praxis. Zu einem vernachlässigten Thema der Religionspädagogik, in: Pastoraltheologie 83, 1994, 285-302).

II.2 thematisiert "Rituale" (57-74): 1. Konfirmation: "Passageritus ohne Passage" (58), 2. Musikkultur: "Erfahrungen, Wünsche, Sehnsüchte von Jugendlichen, die selber vorsprachlich sind, suchen sich ihre Sprache in den Symbolen der Religion, und zwar vornehmlich der jüdisch-christlichen Symboltradition" (66), 3. Kino - Gewalt im Film: "Die Faszination der Symbolik des Bösen in den Gewalt- und Horrorfilmen erscheint so als Spiegel der Ängste, die durch die gesellschaftliche Wirklichkeit provoziert werden" (74).

II.3. "Mythen und Symbole" (75-122) interpretiert in II.3.1. die Walt Disney Produktion "König der Löwen" (USA 1994) (vgl. dazu auch: G. Seeßlen, König der Juden oder König der Löwen. Religiöse Zitate und Muster im populären Film, EZW-Texte 134, Berlin 1996) und den modernen Mythos um den Tod von Prinzessin Lady Diana. Wiederum bestätigt sich die zentrale These des Vf.s: "Die gegenwärtig sehr verbreitete religionssoziologische Meinung, daß im Kontext des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses von einem dominierenden Symbolverfall ... gesprochen werden müsse, sollte ... noch einmal überprüft werden" (84). Strukturell liegen hier "Standardmythen" (Rolf Sistermann) bzw. Opfer-Mythen vor, die den Vf. seit langem beschäftigen (vgl. H.-M. Gutmann, Die tödlichen Spiele der Erwachsenen. Moderne Opfermythen in Religion, Politik und Kultur. Freiburg i. Br. 1995). Einen Opfer-Mythos findet der Vf. auch im Fall Klaus Geyer (II.3.2.): "der Opfer-Mythos um Pastor Geyer ist eine dunkle Seite des Opfer-Mythos um Lady Diana. Anders als im Fall der britischen Prinzessin ist dieses Opfer keines, das ... Erlösung von Schuld und Besserung von Sünden verspräche ... es ermöglicht Frieden bestenfalls durch Trennung und Ausgrenzung und nicht durch Identifizierung" (99). Der Vf. entdeckt Symbole des Bösen und Guten in II.3.3. "Saurier, Batman, Dracula & Co" und II.3.4. "Die symbolische Ordnung des Bösen und das Gesicht des Anderen: ,Sieben’."

II.4. "Lebensgefühl" (123-146) deutet "1. Apokalypse in populärkulturellen Filmen" (u. a. "Independence Day", "Terminator 1", "Twelve Monkeys", "Jurassic Parc", "Waterworld"). Hier findet sich weitgehend der Standard-Mythos, der mit dem schuldigen Opfer operiert: "Am Anfang steht die ursprüngliche, paradiesische Ordnung ... es kommt zum Einbruch des Bösen ... Auftritt: Die Gestalt des Retters ... Schließlich kommt das notwendige Opfer und die Ausrottung des Bösen ..." (128). Entgegen der vorherrschenden Filmkritik, die annimmt, die Erzählung verschwinde als vorherrschendes Gestaltungsmuster des Films, und entgegen der Post-Moderne-These Lyotards vom Ende der Meta-Erzählungen nehmen nach Meinung des Vf.s die Apokalypse-Filme die lebensbedrohenden Krisen unserer Gegenwart wahr und stellen sie symbolisch dar: "Ich möchte dafür werben, den Realitätsgehalt der Apokalypse-Filme nicht von vornherein zu diskreditieren. Sie geben einem Lebensgefühl Ausdruck ..." (137). Auch in James Cameron’s "Titanic" (USA 1997) entdeckt der Vf. eine Meta-Erzählung, diesmal als "gebrochener Mythos", der an die evangelische Opfer-Erzählung anknüpft und vom unschuldigen Opfer ausgeht (133 ff.).

In II.5. "Zivilreligion" (147-174) folgen noch zwei Interpretationen, 1. der Tagesschau-Liturgie, die wiederum von der Opfer-Theorie (René Girards) her gedeutet wird (die Gewalt-Bilder der Tagesschau stellen die verzerrte Wiederkehr des archaischen Opfers in einem zivilreligiösen Ritual dar, 158, "Die ,Liturgie der Tagesschau’ ist das in seiner Wirksamkeit höchst zweifelhafte Befriedungsritual einer friedlosen Gesellschaft", 161) und 2. des Internet ("Die Kommunikation des Internet ... ist potentiell das Risiko der Zerstörung für die alltäglich-lebensweltliche Kommunikation", 169). Der Vf. wendet sich gegen ein rein funktionales Religionsverständnis und das Konzept einer "civil religion". "Es geht darum, die Inhaltlichkeit theologischer Aussagen unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen wiederzugewinnen" (149). "Meine These ist: Die beteiligte und aus Partizipation gespeiste Interpretation von Werken und Manifestationen der ,populären Kultur’ muß sich genau an der Stelle in Kritik und Widerspruch verwandeln, wo diese - im Sinne einer gesamtgesellschaftlich integrierenden ,civil religion’- die heil- und hilflose Befriedung einer strukturell ungerechten und unfriedlichen Gesellschaft besorgen sollen" (149).

In III.1. geht es um "Standhalten, nicht flüchten" (175-202): "Für die Aufgabenbestimmung des Religionsunterrichtes heute ist die gegenwärtig sehr eingespielte und einflußreiche Rede vom Traditionsabbruch und Symbolverlust nicht hilfreich. Vielmehr soll als Ziel bestimmt werden, die faktische Macht von Symbolen und Ritualen wahrzunehmen und mit den Schüler und Schülerinnen am langfristigen Aufbau hilfreicher innerer Bilder zu arbeiten" (176). Dabei haben Religionslehrer und -lehrerinnen die "Aufgabe, Religion in das persönliche Selbstkonzept zu integrieren" und eine "Überflutung mit Rollenerwartungen" abzulehnen (191).

III.2. "Jugendkulturen" (203-217) zieht das Fazit: "Die Reichweite der ,Individualisierungsthese’ ist begrenzt, nämlich auf den Bereich kultureller Lebensstile; unter und in der zunehmend erfahrenen Individualisierung setzen sich die alten, die überwunden geglaubten Schranken von Klasse, Schicht, Geschlecht und Nation weiterhin - und in jüngster Zeit verstärkt wieder durch" (214). Kritisch sieht der Vf. auch die Bemühungen der Religionspädagogik um Identitätsgewinnung (im Anschluß an Erik H. Erikson) im Rahmen der Individualisierungsthese; denn (mit Henning Luther) "Identität gibt es nur als Fiktion, nie als zu sichernden Sachverhalt" (215) und: "Höchst problematisch wird das Konzept ,Identitätssicherung’ - wie Lebenslauf-Konzepte stufenweiser Höherentwicklung der Individuen überhaupt - dann und deshalb, weil die Zerstörung und Atomisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeblendet und den Individuen zugemutet wird, in ihrem jeweils eigenen Lebensvollzug das zu erreichen, was in gesamtgesellschaftlicher Perspektive scheitert: Eine Versöhnung von Individualität und Sozialität" (215).

III.3 "Religion lehren im Angesicht der populären Kultur" (218-225) grenzt sich von zwei religionspädagogischen Positionen ab: a) gegenüber denen, die sich gegen einen populärkulturellen Symbolgebrauch verwahren (z. B. H. Halbfas, P. Biehl), b) andererseits gegenüber denen, die im Zuge von Individualisierungs- und Postmoderne-These die Lektüre biblischer Texte und die Symbole und Rituale der jüdisch-christlichen Religionstradition letztlich für eine "aufgebbare Traditionsmasse" halten (218). Der Vf. verwahrt sich gegen die Selbstpreisgabe theologischer Inhalte zugunsten des postmodernen Lebensgefühls. Hier liegt auch die Aufgabe der Kirche: "Religion kann in der Schule nur gelehrt und gelernt werden, wenn sie außerhalb der Schule Gestalt findet" (224).

III.4. "Religion lehren als Aufgabe des Lebensvollzugs von Kirche" (226-255) fordert deshalb zunächst Partizipation kirchlicher Amtsträger an alltäglichen Lebensvollzügen und Popkul-tur (232). Dann aber auch inhaltliches "Beim-Namen-Nennen der Mächte des Bösen" (251).: "Nicht durch Blässe und Selbstverkleinerung, sondern durch die Entfaltung der Inhaltlichkeit und die Wahrnehmung der Macht der jüdisch-christlichen Symboltradition, die auf Gottes befreiendes Handeln hinweist, nimmt die Kirche ihren Ort und ihre Aufgabe in der Moderne wahr" (225).

Der Rez. würde sich wünschen, daß mehr praktische Theologen und Theologinnen, Religionspädagogen und -pädagoginnen sich so kenntnisreich, partizipierend, vielseitig und kritisch mit populärer Kultur und ihrem Verhältnis zur Religion auseinandersetzen, - wenngleich es in jüngster Zeit vielversprechende Ansätze in dieser Richtung gibt, vgl. z. B. W.-E. Failing/ H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenskultur - Alltagskultur - Religionspraxis. Stuttgart 1998. Gleichwohl bleiben Anfragen:

Zu Kap. 1: Lassen sich Individualisierungsthese und Post-Moderne so unmittelbar zu einem Theorem zusammenziehen? Und birgt dieses Theorem wirklich so viele Risiken und nicht auch Chancen (vgl. J. Kunstmann, Christentum in der Optionsgesellschaft. Postmoderne Perspektiven. Weinheim 1997)? - Läßt sich die Post-Moderne-These wirklich durch einen historischen Vergleich zum 19. Jh. relativieren? - Führt die Negativ-Beurteilung des Individualisierungsprozesses auch zur Infragestellung des Theorems, weil nicht sein kann, was nicht sein darf? - Als Gegengewicht zur Individualisierung soll die Schule als sozialer Handlungs- und Erfahrungsraum ein eigenes "Profil" entwickeln (37): Ist aber nicht gerade diese "Profilentwicklung" von Schule wiederum Ausdruck von Individualisierung?

Zu Kap. 2: Ist nicht auch die Internet-Kommunikation mittlerweile eine "alltäglich-lebensweltliche Kommuniktion"? - Wie zwingend ist die Unterscheidung von "Standardmythos" und "gebrochenem Mythos"? - Wie zwingend sind die (Girardschen) Opfer-Theorien? Und bedeutet der Verweis auf das ein für allemal geltende Opfer Christi (Hebr 9 f.) nicht auch deren Kritik? - Ist ein funktionales Religionsverständnis zwingend mit einem Konzept von "civil religion" verknüpft?

Zu Kap. 3: Wird angesichts der Schwäche institutionalisierter Religion Kirche in der Lage sein, die geforderte Gestalt-Gebung von Religion zu erfüllen? Und ist Volkskirche überhaupt willens und fähig, Inhaltlichkeit und Sperrigkeit ihres Gegenstands zu verdeutlichen?