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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

39–41

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Seitz, Christopher R.

Titel/Untertitel:

Word Without End. The Old Testament as Abiding Theological Witness.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 1998. XI, 355 S. gr.8. Kart. $ 28.-. ISBN 0-8028-4322-0.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Christopher Seitz, Professor für Altes Testament an der Yale Divinity School und ein Schüler von Brevard S. Childs (vgl. u.), hat dieses Buch aus einer Reihe ursprünglich voneinander unabhängiger Vorträge und Essays komponiert, die zu verschiedenen Anlässen entstanden sind, aber nun ein Ganzes bilden, das durch die Grundintentionen des Vf.s zusammengehalten wird. Gegliedert ist es in drei Hauptabschnitte: "Biblische Theologie", "Exegese" und "Praxis", die jeweils thematisch zusammengehörige Kapitel umfassen. Der erste Hauptabschnitt enthält die theologisch-hermeneutischen Grundlagen, der zweite ihre exegetische Anwendung am Jesajabuch (eine zusammenhängende Reihe von Vorlesungen), der dritte unterschiedliche, jeweils recht anregende kritische Bemerkungen zu praktisch-theologischen Tagesfragen.

Der Band ist deshalb von besonderem Interesse auch für europäische Leser, weil der an einer der traditionsreichsten theologischen Ausbildungsstätten der USA wirkende Vf. in ihm versucht, den vor allem von B. S. Childs inaugurierten (vgl. 27) sog. "kanonischen" Ansatz auf das theologische Verständnis des Alten Testaments anzuwenden ("to bring the canonical approach to bear on the exegesis and exposition of scripture", 84) und dabei seine Motive und Konsequenzen weiterführend zu diskutieren. Dabei kann man streckenweise auch das Ringen des Vf.s um mehr Klarheit in der Problemerfassung mitverfolgen.

Praktisch-theologische Probleme sind jeweils der Ausgangspunkt der Diskussion. So beginnt der biblisch-theologische Abschnitt mit der Frage: "What is the place of Old Testament studies within a divinity school curriculum?" (3). In dem Eingangskapitel (3-12), das dem Buch den Titel liefert und zusammen mit Kap. 2 als programmatisch für das Ganze gelten soll (4), wird sie mit der Forderung nach einer biblischen Theologie beantwortet, die in einer Bewegung vom Alten zum Neuen und vom Neuen zum Alten Testament (12) die Schrift auf ihr "Zeugnis von Gott in Israel und in Christus" (10) hin befragt. Wohin das zielt, wird in der Forderung deutlich, nicht mehr zu erforschen, wie Israel, das Neue Testament und wir selbst über sich selbst und Gott denken, sondern: "How does the God we confess raised Jesus from the dead think about Israel and the world?" (8). Es ist ein von vornherein christliches (22) gläubiges Hören, das einer "rule of faith" (11) folgt und dem Ruhme Gottes dient ("This book was written to the glory of God", XI). Das Ziel ist: "biblical studies to be more theological and theological studies to be more biblical" (25). Es wird dann bald gesagt, daß der Vf. eine "kanonische" Exegese anstrebt (14). "Erwählung" und "Offenbarung" sind die Stichworte, unter denen die in Altem und Neuem Testament zusammengehörige Schrift aufgeschlossen werden soll, wobei uns Gott als der andere, heilige (Kap. 2, 13-27) durch die Offenbarung in Christus nahe gekommen ist. Das alttestamentliche Zeugnis per se bleibt dabei voll in Kraft.

Der Vf. erklärt von vornherein, daß für ihn dieser Zugang alle anderen (wie "Gottes mächtige Taten in der Geschichte" [G. E. Wright], die religiöse Bedeutung eines Propheten, die Theologie des Jahwisten) ausschließe (21). Von daher übt er Kritik an G. von Rad (Kap. 3, 28-40), dem er mit einigem Recht vorwirft, keine Brücke zwischen seiner traditionshistorisch voranschreitenden Darstellung alttestamentlicher Themen und dem typologisch-christologischen Ansatz im Schlußteil seiner "Theologie" gefunden zu haben, außerdem an der Alternative des Zugangs mittels einer Hermeneutik der "Zustimmung" (Stuhlmacher) anstelle des "Verdachts" - da beide von außen fragten (Kap. 4, 41-50). Die Formel "nach der Schrift" (1Kor 15) und ihre Aufnahme im Credo dient als Aufhänger für die Ablehnung der Frage nach dem "historischen Jesus", wie sie das sog. "Jesus-Seminar" stellt, da es die in der Schrift vorgegebene Verbindung Jesu mit Gott ignoriere (Kap. 5, 51-60). Von dem biblisch-theologischen Ausgangspunkt her ergibt sich auch eine klare Ablehnung der theologischen Verwendung der Bezeichnung "hebräische Bibel", da die Zusammengehörigkeit mit dem Neuen Testament für Christen zwingend den Begriff "Altes Testament" fordere (Kap. 6, 61-74).

Die drei letzten Kapitel in diesem Abschnitt beschäftigen sich direkter mit dem "kanonischen Ansatz" von B. S. Childs. Kap. 7 (75-82) fragt nach den - heute in der Lehre weithin fehlenden- Voraussetzungen für das Verständnis seines Weges durch die historisch-kritische Analyse zum kanonischen Ansatz, insbesondere in dem Aspekt der "Intentionen des Autors": Der eine Autor der Schrift wird verdrängt durch die Vielfalt der Autoren. Kap. 8 (83-101) nimmt die "Baltimore Declaration" der anglikanischen Kirche von 19911 zum Anlaß, um die Legitimität des sog. "dreifüßigen Hockers" (Schrift, Vernunft, Tradition) als Auslegungsprinzip der Schrift zu hinterfragen. Abgesehen von dem nützlichen Hinweis, daß der in der Baltimore Declaration (und auch sonst in kirchlichen Papieren!) erneut anzutreffende Gebrauch der Schrift zur Verifizierung dogmatischer Sätze in das 16./17. Jh. zurückwirft, ist der Beitrag wichtig durch explizite Äußerungen des Vf.s zur historischen Bibelkritik. Der Satz: "In my view, historical criticism plays no positive theological role whatsoever" (97) ist allerdings zu qualifizieren durch die anschließende Feststellung, sie habe eine vorbereitende Funktion, nämlich die Komplexität des biblischen Textes im Wortlaut deutlich zu machen, sei aber nicht mit ethischer oder theologischer (=homiletischer?) Auslegung zu verwechseln (99).

Eine direkte Würdigung des Ansatzes von B. S. Childs bringt Kap. 9 (102-109), ausgehend von dessen Sentenz: "Wir sind nicht Propheten und Apostel". Damit wird ein Durchbruch durch die Endform des schriftlichen Bibeltextes für den heutigen Leser abgelehnt. Seitz folgt dieser Position, zweifelt aber an den Chancen ihrer breiteren Akzeptanz.

Der zweite Hauptabschnitt "Exegese" (insgesamt sieben Kapitel: 10 bis 16) ist von besonderem Interesse, weil der Vf. in ihm die Anwendung seines Ansatzes versucht. Charakteristischerweise beschäftigen sich sechs davon mit dem Jesajabuch, konkret mit Jes 40-66. Auf den Grundsatzbeitrag "Isaiah and the Search for a New Paradigm" (Kap. 10, 113-130) mit dem Untertitel "Authorship and Inspiration" - er betont, daß eine einheitliche "jesajanische" Perspektive bei aller Verschiedenheit der Aspekte und allmählichem Wachstum das Gesamtbuch durchziehe - folgt ein Vergleich zwischen Jes 40 ff. und Kgl (Kap. 11, 130-149) - in beiden steht das Leiden Zions im Mittelpunkt, und Jes 40 ff. stellen so etwas wie eine Antwort auf die Vorgabe des Zion-Themas durch (Proto-)Jesaja dar2. Einen entsprechenden Vergleich zwischen Jes und Ps bringt Kap. 12 (150-167). Kap. 13 (168-191) nimmt die Thematik "How Is the Prophet Isaiah Present in the Latter Half of the Book?" und beantwortet sie: "in word in chs. 40-48 and in person in chs. 49ff." (189). Mit letzterem ist der "Knecht" gemeint, der im übrigen als "an actual historical figure" angesehen wird (190), von dem wiederum eine genetische Beziehung zu dem "Knecht" in Jes 61,1-7 ausgehe (ebd.). Welche Form von "Einheit" in Jes gemeint ist, wird hinreichend deutlich. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit der Rolle des Lesers biblischer Texte (14; Beispiel: Jes), mit Jes im Neuen Testament, im Lektionar, auf der Kanzel (15), schließlich mit Ex 3,1-4,17 und 6,2-9 zur Frage von Quellenscheidung und Gottesnamen (16). Die Unterscheidung zwischen einer Lesung des Alten Testaments per se und eines in novo receptum (vgl. bes. 194) erinnert an Hans Hübner, dessen Werke3 dem Vf. allerdings nicht bekannt sind. Die Quellenscheidung verwirft der Vf. nicht grundsätzlich, rechnet aber mit einer "synthetischen" Arbeit der Quellenverfasser an einer vorgegebenen Tradition (246).

Gebunden an die biblische Tradition sind auch die Antworten, die Seitz in Hauptabschnitt 3 zu praktischen Fragen gibt. Es sind aktuelle Diskussionen, die hier den Ausgangspunkt bilden, wie die, ob ausschließlich männliche Attribute für Gott weiterhin angemessen seien (Kap. 17, 251-262). Antwort: Ja, denn "Vater, Sohn und Heiliger Geist" sind mit einer speziellen Erwählungsgeschichte eng verbunden (ähnlich auch in Kap. 20, 292-299, zur sog. "inklusiven" Sprache). Mit der Frage der Sexualität beschäftigen sich zwei Kapitel (18, 263-275 [die human c sondition als die der gefallenen Menschheit; das Miteinander von Mann und Frau als nach Gen 2, 24 dennoch gottgewollt und "in Christus" realisierbar]; 22, 319-339 [Homosexualität als nicht schriftgemäß für Kirchenmitglieder nicht zu tolerieren]). Kap. 21 (300-318) plädiert für eine Verbindung jeweils eines alt- und neutestamentlichen Abschnittes, die zusammengehören, in der gottesdienstlichen Lesung. Dieses Kapitel zeigt noch einmal die praktisch-theologische Motivation des Vf.s.

Das Verdienst des Bandes ist es, das theologische Anliegen des "kanonischen" Ansatzes umfassend deutlich gemacht zu haben. Der Rez. teilt dieses wie das biblisch-theologische Interesse. Gleichwohl bleibt eine entscheidende Frage: Ist die historisch-kritische Analyse tatsächlich theologisch belanglos und als bloße Vorbereitung zu einer auf den Endtext bezogenen "Auslegung" im eigentlichen, allein relevanten Sinne zu werten? Seitz nennt einige bereits geäußerte Einwände (122), besonders den gegen die theologische Privilegierung des Endtextes. Die Bedenken greifen aber tiefer: Der Ansatz macht das Christentum zu einer reinen Buchreligion - wie es auch der Islam von eigenem Beispiel ausgehend versteht. Es ist aber das Zeugnis von einem geschichtlichen Handeln Gottes, jeweils aus dem Mund und der Feder von geschichtlichen Zeugen. Daraus ergibt sich eine "heilsgeschichtliche" Perspektive, die sich je und dann (Hebr 1,1) in den Worten von Propheten und den durch sie verkündigten Taten Gottes ereignet, dann aber auch früher oder später in Texten niedergeschlagen hat, die von diesem Wortgeschehen berichten. Dadurch gewinnt der Endtext eine Tiefenschärfe, die dem Koran abgeht. Die Weiterarbeit innerhalb des Jesajabuches, auf die der Vf. eingeht, ist selbst ein Zeugnis derartiger Vorgänge. Die historisch-kritische Exegese gewinnt, indem sie vor der Endfassung liegende Stufen dieses Zeugnisses herausarbeitet, selbst theologische Relevanz.4 Auch in der Predigt über eine bestimmte Perikope kommt der ganze Reichtum dieses Zeugnisses erst zum Vorschein, wenn seine historische Tiefe in den Blick genommen wird. Wenn er in der Aktualität lebendig wird, fügt sich eine neue geschichtliche Dimension hinzu.

Es muß im Rahmen einer Rezension bei diesen Andeutungen bleiben. Sie verdienen aber weiter diskutiert zu werden.

Fussnoten:

1) Vgl. E. Radner/G. Sumner, eds., Reclaiming Faith: Essays on Orthodoxy in the Episcopal Church and the Baltimore Declaration. Grand Rapids 1993, 276-283.

2) Vgl. C. R. Seitz, Zion’s Final Destiny: The Development of the Book of Isaiah. Minneapolis 1991.

3) Vor allem H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. 3 Bde. Göttingen 1990-1993.

4) Freilich hat sie oft genau darauf verzichtet und damit die schon von K. Barth geäußerte Kritik selbst verschuldet.