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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

44–46

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lienemann-Perrin, Christine, u. Wolfgang Lienemann [Hrsg./ Eds.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Grenzüberschreitungen/Crossing Religious Borders. Studien zu Bekehrung, Konfessions- und Religionswechsel/Studies on Conversion and Religious Belonging.

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz 2012. X, 956 S. m. Abb. u. Tab. = Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika), 20. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-447-06795-9.

Rezensent:

Michael Biehl

Der Band versammelt 27 deutsche und 16 englische Beiträge eines internationalen Forschungsprojektes an der Universität Basel (2009–2011), darunter hilfreiche Zwischenüberblicke und gegenseitige Kommentierungen. Die Herausgeber wollen mit dem Band dem Bedarf an deutschsprachiger Literatur zum Thema nachkommen und sie durch englische Zusammenfassungen und Übersetzung einiger Beiträge dem englischen Diskurs zugänglich machen.
W. Lienemann skizziert zur Einführung den dem Projekt zu­grundeliegenden Bezugsrahmen: Im Kontext einer Weltgesellschaft treten Religionsgemeinschaften notwendigerweise in Kontakt, und Wechsel werden »unter allen interreligiösen Konfliktursachen als wahrscheinlich größte Bedrohung des Bestandes und der Identität von Religionsgemeinschaften wahrgenommen« (5). Bekehrung, verstanden als Veränderung der religiösen Identität eines Mensche, und Konversion als binnenchristliche Mobilität und Religionswechsel zwischen religiösen Gemeinschaften betreffen nicht nur Individuen, sondern mehrere Religionsgemeinschaften und vollziehen sich innerhalb der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Gesellschaften. Die Selbstinterpretation der Konvertiten ist wichtig, doch Konversionen sind länger andauernde Kommunikationsprozesse und »Transformationen kleinerer und größerer individueller und kollektiver Systeme in einem umfassenderen sozialen und religiösen Feld«, das von gesellschaftlichen Machtstrukturen bestimmt wird (14). Das Feld hat zudem kultu­relle und historische Tiefendimensionen, die den Rahmen für die Beurteilungen von Konversionen liefern und gleichzeitig von ihnen verändert werden. Konversionen waren historisch zunächst Kristallisationspunkte für die Klärung und Abgrenzung des eigenen Konfessionsverständnisses – hier: römisch-katholisch, orthodox, protestantisch – und später des eigenen Missionsverständnisses in Bezug auf andere Religionen, insbesondere zum Islam. Konversionsprozesse »weisen oft typische Abläufe auf, zeichnen sich durch historisch und kulturell sehr unterschiedliche sprachlich-rhetorische Muster (Codes), soziale Übergangsformen (Riten) und spezifische Kommunikationsweisen (Medien) aus« und beeinflus sen das Ethos und kognitive Auffassungen (26). Solche Prozesse werden in diachroner wie synchroner Perspektive untersucht. Mehrere Beiträge unterstreichen die kreativen Züge von Konversionen, die zur Klärung der Grenzen zwischen den Gemeinschaften beitragen, zu Neubewertungen der alten Gemeinschaft führen und der neuen neue Interpretationen hinzufügen.
Teil 1 verhandelt »Identität und Konversion im Lebenslauf« an­hand von Fallstudien zu Konversionen zwischen verschiedenen Religionen als individuelle Grenzüberschreitung, bis hin zu »vertikaler K.« (140 ff.150 ff.) als Vertiefung des spirituellen Selbstverständnisses oder zur Ausbildung religiöser Mehrfachzugehörigkeit. Teil 2 entwickelt mit einem Schwerpunkt in der Antike und frühen Neuzeit eine Historisierung und eine kulturelle Relativierung der Begrifflichkeit in der Nachzeichnung, wie Konversionsfelder historisch entstanden sind. Konversion stelle eher eine so­-ziolinguistische Redeweise dar, die im frühen Europa unter poli­- tischem Druck der Obrigkeiten auf Kollektive und dem Zwang zur gegenseitigen Abgrenzung (Antike, Konfessionalisierung in der frühen Neuzeit) geformt wurde (263).
Teil 3 fokussiert auf den Umgang christlicher Kirchen in verschiedenen Regionen der Welt mit dem Wechsel der Zugehörigkeit, und unterstreicht, dass der normative Blick der verlassenen und der aufnehmenden Kirche sich unterscheidet: Was für die zweite eine Bekehrung ist, kann für die erste Apostasie oder das Ergebnis unlauterer Manipulation sein. Wechsel finden statt als öku­-menisch relativ unproblematisches switching wie in den USA, als Proselytismus (Verständnis des »kanonischen Territoriums« der Orthodoxie) bis zu den stark abgrenzenden Bewertungen eines Wechsels bei Pfingstlern in Lateinamerika und Afrika – alles in Ge­sellschaften, die sich als säkular verstehen bzw. eine weltanschauliche Neutralität des Staates festgeschrieben haben (538).
Teil 4 enthält Fallstudien aus Ländern mit hoher gesellschaftlicher Dynamik zwischen religiösen Minderheiten und dominanten Mehrheiten (Israel-Palästina, der Türkei, Indien, China). Für die Dy­namik spielt eine Rolle, ob es sich dabei um Gemeinschaften handelt, die selbst offene Mission betreiben oder nicht. Hier zeigt sich, dass ein an europäischen Beispielen gewonnener Idealtypus von Konversion und die daran entwickelte Begrifflichkeit wenig austrägt.
Teil 5 bietet Studien zu außereuropäischen Konversionsfeldern (Pakistan, Indonesien, Malaysia, Indien, Algerien, Uganda, Nigeria) und unterstreicht die Folgen von vorhandener oder abwesender staatlicher Religionsgesetzgebung oder ihrem unterschiedlichen Verständnis: Während Christen z. B. in Indien Religionsfreiheit als Freiheit zur Mission und Konversion verstehen, bedeutet sie für Hindus, vor der aggressiven Missionstätigkeit anderer Religionen geschützt zu werden. Zugleich belegen die Studien, dass gesellschaftliche Konflikte oft gezielt religiös aufgeheizt werden oder religiöse Überzeugungen sekundär von Parteien in den Konflikt eingebracht werden.
Die multiperspektivische Ausleuchtung von Konversion und Religionswechsel in diachroner und synchroner Betrachtung ma­chen den Beitrag dieses beeindruckenden und umfassenden Forschungsprojektes aus, dessen interdisziplinärer Ansatz zu neuen Einsichten führt. Autoren unterschiedlicher religiöser Prägungen waren beteiligt, und es finden sich Hinweise, dass die Gewinnung noch weiterer Autoren aus anderen Gemeinschaften er­wünscht war, aber angesichts der Strittigkeit des Themenfeldes nicht ge­lang. Vier teilweise kontroverse Beiträge zu Indien aus christlich-theologischer, hinduistischer und eher soziologischer Sicht bilden dazu einen eigenen aufschlussreichen Diskussionsstrang ebenso wie die zu Wechseln von und zum Islam und in islamisch geprägten Ländern. Konversionen bleiben als Grenzüberschreitungen höchst strittige Phänomene der interreligiösen und sozialen Kommunikation, die nicht nur religiösen, sondern eben auch politischen und rechtlichen Bedingungen unterliegen, und das betrifft offensichtlich auch ihre Erforschung.
Die Herausgeber formulieren abschließend Verhaltensempfehlungen für Religionsgemeinschaften (923–947, die konkreten Empfehlungen auch in englischer Sprache). Über die Studienergebnisse hinaus sind sie der Versuch, in einem strittigen Feld Kollektive aufzufordern, ihre Motive, Beurteilungen und Handlungen kritisch zu überdenken. Gemeinschaften, die missionieren, werden aufgefordert, ihre Werbung als transparente Kommunikation zu inszenieren und keinen Druck auf andere auszuüben. Dem Recht wird dabei eine wichtige Rolle zugedacht – eine Forderung, die in den untersuchten komplexen Prozessen selbst zu einem umstrittenen Anspruch wird.