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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

43–44

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Khorchide, Mouhanad

Titel/Untertitel:

Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2012 (2. Aufl. 2013). 220 S. Geb. EUR 18,99. ISBN 978-3-451-30572-6.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Der Münsteraner Islamprofessor Mouhanad Khorchide plädiert leidenschaftlich für ein Islamverständnis, das die »Botschaft der Barmherzigkeit, die von einem absolut barmherzigen Gott ausgeht« in den Mittelpunkt stellt (27). Die Beziehung zwischen Gott und Mensch soll nicht auf Angst und Gehorsam gründen, sondern wie die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind auf Liebe und Respekt. Der Sohn palästinensischer Flüchtlinge, der in Saudi-Arabien aufwuchs und in Österreich Soziologie sowie in Beirut (am Al Imam Al Ouzai College for Islamic Studies) islamische Theo­logie studierte, löste damit erneut Kontroversen aus. Hatte schon seine kritische Dissertation zur Situation des islamischen Religionsunterrichts in Österreich (Der islamische Religionsunterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft. Einstellungen der islamischen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen, Wiesbaden 2009) für Aufregung gesorgt, so gingen jetzt Vertreter hiesiger islamischer Verbände auf die Barrikaden. Sie fürchten um die solide islamische Ausbildung ihrer Kinder.
In der Tat setzt das Buch neue Impulse. Und es verbirgt die biographischen Anteile nicht, die dazu geführt haben. In mancher Hinsicht liegt damit ein wirklich neuer Vorstoß in Sachen Islam vor, der indes vieles infrage stellt, was vielen Muslimen bislang als unumstößlich erschien. K. zeigt sich überzeugt, dass sich eine wahre Gottesbeziehung nicht an der Frage der Pflichterfüllung von Regeln entscheiden könne, sondern nur am lebendigen Gegenüber zu Gott, an Handlungen und Haltungen, an der Liebe zwischen Gott und Mensch. Dies bedeutet, dass es einen »Islam« bzw. ein »Muslimsein« unabhängig von der konkreten Religion Islam gibt, nämlich als »Annahme von Gottes Liebe und Barmherzigkeit und deren Verwirklichung im Handeln, sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber Gottes Schöpfung« (87). Muslim sei nicht nur »jeder, der Ja zu Gottes Liebe und Barmherzigkeit sagt« (85), vielmehr »ist jeder, der sich zu Liebe und Barmherzigkeit bekennt und dies durch sein Handeln bezeugt, ein Muslim, auch wenn er nicht an Gott glaubt, denn Gott geht es nicht um die Überschriften ›gläubig‹ oder ›nichtgläubig‹« (88). Konsequent ist der Islam als verfasste Religion nur ein »Weg zur Gottesgemeinschaft«, neben dem es »noch viele andere gibt« (ebd.).
K. rezipiert moderne literaturwissenschaftliche und hermeneutische Ansätze der Koraninterpretation und ist ganz offenkundig vor allem auch mit Christen intensiv im Gespräch. Anders ist schwer zu erklären, dass und wie er von der »Selbstmitteilung Gottes« im Koran (109 ff.) oder auch vom Gottesdienst als »Dienst am Menschen« sprechen kann (114 f.). Denn aus dem Koran geht nach allem, wie er bisher mehrheitlich verstanden wird, die Selbstmitteilung Gottes gerade nicht hervor (109). In K.s Theologie hat sie eine wichtige Funktion, um von einem instruktionstheoretischen Offenbarungsbegriff wegzukommen. K. fokussiert sein Anliegen in einem Begriff, den er für seinen ganzen Entwurf in Anspruch nimmt: humanistische Koranhermeneutik (167–171). Er selbst erklärt den Ansatz (s)einer humanistischen Koranhermeneutik so: »Eine Koranhermeneutik, die diesen Gedanken Rechnung tragen will, sieht im Menschen ein Subjekt und kein Objekt der koranischen Offenbarung. Im Koran geht es um den Menschen, nicht um Gott. […] Gott und Mensch kooperieren Seite an Seite, um Liebe und Barmherzigkeit als gelebte Wirklichkeit zu gestalten.« (169 f.) Der Mensch als Subjekt der Offenbarung, der Mensch als Medium der Offenbarung etwa auch in der Vergebungsbereitschaft bis hin zur Feindesliebe (113)! Fast möchte man sagen: Gott wird Mensch. Die produktive Auseinandersetzung K.s mit christlicher Theologie ist an vielen Stellen zu spüren.
Demgegenüber nehmen sich die anderen Themen des Buches – in den zehn Kapiteln wird über Gott, Mensch, Scharia, Koranverständnis und ethische Fragen bis hin zu Forderungen an die islamische Theologie heute gehandelt – wie Nebenschauplätze aus. Himmel und Hölle etwa sind für K. Bilder, die übergeordnete Prinzipien und Aussagen transportieren. Die Scharia steht für ihn als juristisches System im Widerspruch zum Islam selbst (!), denn sie ist ein »menschliches Konstrukt« (142). K. ist sich der Brisanz durchaus bewusst, wenn er »die Angst vor einer historischen Kontextualisierung des Koran« offensiv thematisiert (145–150). Allein aus dieser Perspektive verwundert es nicht, dass islamische Vertreter K. unter anderem öffentlich aufforderten, Reue (arab. tauba) für seine Thesen zu zeigen »und sich wie ein Muslim zu verhalten« – ein allerdings unerhörter und bislang einmaliger Vorgang, der in der islamischen Tradition eng mit der Apostasiefrage verbunden ist.
K. geht – leider, muss man sagen – zudem das Risiko ein, seine aus der Sicht konservativer Muslime dramatisch weitreichenden Thesen mit (allzu) wenigen Belegen zu unterfüttern. Dies brachte ihm auch Kritik von wissenschaftlicher Seite ein. Die gewichtigen Inhalte hätten durchaus einer intensiveren Diskussion bedurft, wie auch Literaturangaben und Register dem Bändchen gut zu Gesicht gestanden hätten. Das kann man bedauern, denn K. kommt das Verdienst zu, erstmals einen so pointierten und damit diskutierbaren Entwurf einer neuen, reformerischen Theologie vorgelegt zu haben, der sich sowohl an Muslime wie auch an Nichtmuslime wendet. Nicht sollte man ihm jedoch den besserwisserischen Vorwurf machen, doch gar keine islamische Theologie ge­schrieben zu haben. Darüber zu befinden und sich damit – auch produktiv – auseinanderzusetzen, sollte Muslimen überlassen bleiben. Nichts ist mehr zu wünschen als eine konstruktive Aufnahme der Thesen K.s vor allem unter den Musliminnen und Muslimen der jungen Generation, die akademisch gebildet und zur kritischen Reflexion der eigenen Glaubenstraditionen bereit sind.