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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

40–43

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, u. Christiane Tietz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die politische Aufgabe von Religion. Perspektiven der drei monotheistischen Religionen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 433 S. m. Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Beihefte, 87. Geb. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-10113-1.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

Dass moderne Gesellschaften gut daran tun, sich dafür zu interessieren, welches Verhältnis in ihnen domizilierte Religionsgemeinschaften zum Politischen einnehmen bzw. einnehmen sollten, ist keine neue Einsicht. Sie ist im Grunde dem modernen Staat und den mo­dernen Staatstheorien seit Rousseau, Locke oder Kant in die Wiege gelegt. Dabei dominierten zunächst außenperspektivisch-normative Modelle. Seit spätestens Ernst Troeltschs »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« (1911/12) ist die Aufgabe erkannt, diese Sichtweise durch empirisch-historische Analysen der religiösen Bin­nenperspektive zu unterfüttern. Dabei war zunächst noch relativ ausschließlich das Christentum im Blick. Mit dem religiösen Pluralisierungsschub, den die europäischen Gesellschaften in den letzten 40 Jahren zunehmend erlebten, wurde eine vergleichende Öffnung dieser Forschung nötig. Diese fand seit den 1980er Jahren vor allem als Erforschung des religiösen »Fundamentalismus« statt. Erstaunlicherweise war es wohl der bislang dramatischste Ausbruch solchen »Fundamentalismus«, also »9/11«, der diesbezüglich zunächst eine Intensivierung dieser konfliktorientierten Betrachtungsweise und in der zweiten Stufe dann gewissermaßen eine metakritische Wende einleitete. Seit etwa fünf Jahren ›schießen‹, könnte man fast schon sagen, an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum, so zuerst in der Schweiz (ZRWP Basel-Luzern-Zürich) und in Berlin, dann in Münster und Wien Forschungscluster aus dem Boden, die sich mit dem Verhältnis von Religion und bzw. zu Politik in einem bewusst weiteren Sinn beschäftigen.
Auf diesem neuen fruchtbaren Feld wurde nun auch in Mainz ein schmuckes Bäumchen gepflanzt in Gestalt einer, u. a. von der DFG geförderten, Tagung von 2009, deren ausgearbeitete Beiträge im vorliegenden Band versammelt sind. Dessen Konzept ist vergleichsweise schlicht, aber gerade angesichts der teilweise hoch- und vielleicht überkomplexen Methodologiediskussionen, die an­dernorts zum Thema geführt werden, durchaus produktiv. Denn einen Band, der einfach einmal »die politische Aufgabe von Religion« anhand verschiedener für Europa relevanter Religionsgemeinschaften thematisiert hat, haben jene Cluster bislang, soweit ich sehe, noch nicht hervorgebracht.
Der Band versteht sich, in bestimmter Weise durchaus zu Recht, als eine Ersterkundung und erlaubt sich darum auch eine gewisse Toleranz gegenüber der Problematik der Auslegungskompetenz der Eigenperspektiven der Religionsgemeinschaften. Autoren sind neben theologischen native speakers Religions- und Sozialwissenschaftler; und mit Ausnahme des Eröffnungsreferenten Yehoyada Amir aus Israel und von John D. Roth aus den USA sind alle Autoren und Autorinnen Vertreter des westlichen, näherhin des deutschen Wissenschaftssystems. Dass die jeweils hauseigenen Reflexionen der genannten Religionsgemeinschaften über ihr Politikverständnis demgegenüber tatsächlich höchst unterschiedlich institutionalisiert und entwickelt sind und dass deren Nähe zum modernen Wissenschaftssystem eine sehr unterschiedliche ist, kommt so nur indirekt in den Blick.
Trotz der in der Auswahl der Autoren liegenden tendenziellen Homogenisierung der Wissenschaftsperspektiven sind die 21 Beiträge (drei zum Judentum, vier zum Islam, je zwei zum römisch-katholischen, orthodoxen, lutherischen und reformierten, drei zum freikirchlichen Christentum und abschließend drei politik- bzw. rechtswissenschaftliche Beiträge) relativ divergent hinsichtlich Inhalt, Themenzuschnitt, Deutungsperspektive und mitunter auch Reflexionsniveau. Darum wäre vielleicht eine bündelnde Herausgebereinleitung hilfreich gewesen, in der man auch gerne etwas über die auf der Mainzer Tagung zumindest wissenschaftlich simulierte Horizontverschmelzung jener an sich selbst so unterschiedlichen religiösen Reflexionskulturen des Politischen erfahren hätte. So sei hier auf eigene Faust eine Kurzsynthese versucht.
Besonders erhellend für die Gesamtthematik ist m. E. der Einführungsbeitrag von Yehoyada Amir, aus dem sich – wohl nicht umsonst am Beispiel des Judentums – entnehmen lässt, dass und inwiefern das Politikverständnis religiöser Gemeinschaft von Religion in der Moderne sich am besten aus seinem Kontakt und Umgang mit den Grundeinsichten der Aufklärung erschließt. Zu fragen ist eigentlich nach den jeweiligen Formen, Facetten, Ge­schwindigkeiten bzw. Ver- und Behinderungsgründen der religiösen – hier der jüdischen – »Secularization«. Hieraus erkläre sich auch ein Großteil der inneren Spannungen, ja Zerreißproben, de­nen sich der moderne Staat Israel ausgesetzt sieht. Die Fallstudien von Andreas Lehnardt zur osteuropäischen Haskala und von Steffen Ha­gemann zur religiösen Siedlerbewegung in den von Israel be­setzten Gebieten Israels bestätigen und vertiefen diesen Befund.
Auch die vier dem Islam gewidmeten Studien nehmen, wenn auch eher implizit, das Ergebnis und Produkt der Aufklärung, nämlich den modernen, grundsätzlich religionsneutralen Verfassungsstaat westlicher Prägung zum Bezugspunkt ihrer Analysen. Das normative Potential dieses Bezugs kommt am deutlichsten wiederum im Eröffnungsbeitrag dieser Sektion von Lutz Richter-Bernburg zur Darstellung, der das Verhältnis von Staat und Religion im Islam durch die permanente »Versuchung des Integris­mus« – gemeint ist eine mangelhafte oder fehlende Differenzierung von Religion und Politik – bestimmt sieht. Eine in­teressante Erweiterung und potentielle Vertiefung dieser Gesamtperspektive bietet Raja Sakrani, die, eine Grundidee des von ihr vertretenen Bonner Forschungsclusters »Recht als Kultur« auf das Thema applizierend, die – Webersche – Frage nach der Legitimitätsbegründung des Rechts und damit den religiös-rechtlichen Schnittmengenbegriff des Gesetzes ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. – Auf eine spezifische Institutionalisierung dieser Schnittstelle, nämlich auf das »Präsidium für religiöse Angelegenheit der türkischen Republik«, in dem sich die besonderen Probleme einer rigorosen Säkularisierung von oben exemplarisch bündeln, bezieht sich die Studie von Aysun Yasar. – Dass unter den verschiedenen neueren islamischen Staatstheorien ausgerechnet derjenigen des Ägypters Hasan al-Banna (1906–1949) die größte Modernitätskompatibilität zu be­scheinigen sei, ist das Ergebnis des Beitrags von Tonia Schüler – derzeit besonders frappant, denn der Be­sagte ist Gründer der Muslimbruderschaft.
Um essentialistische Kurzschlüsse zu vermeiden, sollte die Mo­dernitäts- bzw. Säkularisierungsperspektive in eine historische Phasenstudie überführt werden, wie Dominik Burkhard am römischen Katholizismus demonstriert. Nach Friedhelm Hengsbach ist darüber hinaus eine soziologische Betrachtungsweise hilfreich, welche die Politikliaison religiöser Gemeinschaften bzw. deren Mitglieder milieutheoretisch aufzuschlüsseln sucht.
Welche formative Kraft die politischen Rahmenbedingungen in Kombination mit einer dem westlichen Wissenschaftssystem relativ fernstehenden Theologie und schwach ausgebildeten religiös fermentierten Zivilgesellschaften haben können, zeigen die Untersuchungen des griechisch- bzw. russisch-orthodoxen Christentums mit seinem tendenziell antimodernen Politikverständnis von Karl Pinggéra und Vasilios N. Makrides.
Sobald sich religiöse Gemeinschaften wissenschaftliche Theologien leisten, ist die Leitfrage nur noch im Rahmen sich explizit ausweisender Beiträge zu sich historisch-systematisch reflektierenden und zugleich religiös zuordnenden Forschungsdiskursen erörterbar. Das demonstrieren je auf ihre Weise die Studien von Volker Leppin und Christiane Tietz zur lutherischen Zwei-Reiche-Lehre bzw. von Judith Becker und Günter Thomas zur reformierten Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi. Diese Beiträge markieren darum auch den Höhepunkt theologischer Differenzierungskunst des Bandes.
In den westlich-christlichen Freikirchen ist dieser Anschluss ans Wissenschaftssystem in der Regel weniger gegeben. Dafür (doch nicht deswegen!) ist aber seine moralische Schubkraft unter Umständen sehr viel höher als bei den Staats-, Landes- oder Volkskirchen. In dem auch als performative Aktion eindrucksvollsten Beitrag des Bandes zeigt John D. Roth dies am Beispiel des Pazifismus (einiger) amerikanischer Freikirchen. An den Freikirchen in der DDR und im Gegenüber zum Nationalsozialismus (Andreas Liese, Erich Geldbach) lässt sich allerdings auch erkennen, dass die freikirchliche Haltung zum Politischen in der Moderne nicht selten zwischen Zivilcourage und quietistischem Opportunismus oszillierte.
Die drei abschließenden politik- bzw. rechtstheoretischen Studien machen – im eingangs beschriebenen Sinn – auf die in der Öffentlichkeit (auch in der wissenschaftlichen!) oft unterbelichteten, konfliktbremsenden Momente von Religion (z. B. die Muslime im Ruanda-Gemetzel!, Markus Weingardt) sowie ergänzend auf die Bedeutung von Religion als »Wertelieferant« für die mo­dernen Verfassungsstaaten (Michael Droege) aufmerksam, und – einmal mehr, aber keineswegs überflüssig – darauf, dass zur Vermeidung essentialistischer Kurzschlüsse am besten historische Analysen – durchaus vorzugsweise des diesbezüglich besonders ergiebigen Christentums (Hans Maier) – geeignet sind. Gerade darum aber wären in Zukunft verstärkt analytische Ursachenforschungen und darüber hinaus komparative Auswertungen solcher Analysen hilfreich und eine begleitende intensive, interdisziplinäre Diskussion darüber, wie man solche Studien methodisch kontrolliert durchführt.