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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

38–40

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Decker, Doris

Titel/Untertitel:

Frauen als Trägerinnen religiösen Wissens. Konzeptionen von Frauenbildern in frühislamischen Überlieferungen bis zum 9. Jahrhundert.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 428 S. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022335-6.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Doris Decker widmet ihre religionswissenschaftliche Dissertation der Frage, inwiefern Frauen in frühislamischer Zeit in den Prozess des Lernens, der Anwendung und Weitergabe religiösen Wissens einbezogen waren: Standen sie passiv am Rande des Geschehens, waren sie lediglich Rezipientinnen religiösen Wissens oder wurde ihnen die Autorität zuerkannt, dieses Wissen eigenständig zu reflektieren, zu evaluieren und lehrend weiterzugeben?
Als ihr besonderes Anliegen bezeichnet D. es, verzerrte Wahrnehmungen von Frauen(rollen) im Islam und die »bisher eher einseitigen Betrachtungen« (17) der Überlieferungen durch ihre Studie geradezurücken. Auch wird wohl die Thematik, ob die – bisher wenigen – Vorbeterinnen und Predigerinnen an Moscheen im 21. Jh. eine größere Zahl von Nachahmerinnen finden werden, mit der Frage verbunden sein, ob sich dafür Anknüpfungspunkte in der frühislamischen Geschichte finden lassen. Von daher ist D.s Studie nicht nur von historischem Interesse.
D. wertet dafür Texte maßgeblicher Autoritäten aus frühislamischer Zeit bis zum 9. Jh. n. Chr. aus: Texte des bekanntesten Überlieferers, Buhari (gest. 870), Werke des Historiographen Tabari (gest. 923), des Muhammad-Biographen Ibn Ishaq nach der Rezension von Ibn Hisham (gest. 834), sowie der Historiker Ibn Sa’d (gest. 845) und al-Waqidi (gest. 823), die über die Einbeziehung von Frauen beim religiösen Wissenstransfer Auskunft geben. D. analysiert und interpretiert die Texte aus ihrem philologischen und kulturgeschichtlichen Kontext heraus. Dabei favorisiert sie eine gender-orientierte Betrachtungsweise, die Geschlecht als »kulturabhängig und wandelbar« versteht, als »sozial konstruiert« (35).
Die bekannte Problematik bei der Betrachtung dieser Quellen­texte ist, dass alle diese Autoren 150 bis 200 Jahre nach der Zeit Muhammads lebten, die sie in ihren Werken beschreiben, also selbst weder Augenzeugen waren noch Augenzeugen befragen konnten. Kein Wunder, dass die Zuverlässigkeit dieser Überlieferungen in der Islamwissenschaft teilweise sehr kritisch beurteilt wird; ja, manche Fachvertreter sind der Auffassung, dass letztlich keine der Überlieferungen verlässlich von den Verhältnissen zur Entstehungszeit des Islam berichtet. Von daher kann D.s Studie genaugenommen die Rolle der Frauen beim religiösen Wissenstransfer nicht bestimmen, sondern vor allem das erheben, was 150 bis 200 Jahre nach Muhammad von den Überlieferern dieser Zeit zugeschrieben wurde. Inwiefern deren Beschreibungen mit der frühislamischen Wirklichkeit deckungsgleich sind, ist schwer abzuschätzen. Das aber wäre hinsichtlich des Textbefundes, der Frauen teilweise als sehr selbstbewusste Gesprächspartnerinnen, Lernende und Lehrende darstellt, natürlich das eigentlich Interessante.
Weil diese Frage letztlich nicht beantwortet werden kann, ist die Gefahr, bei einer solchen Studie das eigene Selbstverständnis auf den Forschungsgegenstand als historischen Sachverhalt zu projizieren, entsprechend groß. D. räumt einen »gewissen Grad an Subjektivität« (27) ein, strebt jedoch eine »ideologiefreie Quellensichtung« an (20).
In den ersten drei Einleitungskapiteln behandelt D. sehr grundsätzlich Definitionen von »Religion« und »Wissen« im soziokulturellen Kontext des Frühislam und erläutert Inhalt und Stellenwert des ausgewählten Textkorpus. In den folgenden drei Kernkapiteln analysiert und interpretiert sie die Texte, die unterschiedliche Aktivitäten von Frauen als Lernende und Lehrende schildern:
Erstens behandelt sie Texte, die von der Rezeption religiösen Wissens durch Frauen berichten (etwa durch Zuhören, Fragen, Diskutieren). Frauen werden als interessiert an der Botschaft des Islam gezeichnet, als Teilnehmerinnen bei Versammlungen, Predigten und Gebeten und als Interessierte an Unterweisungen in Bezug auf einzelne Riten wie z. B. die Waschungen vor dem Gebet.
Zweitens analysiert D. Texte, die eine Reflexion und Applikation religiösen Wissens durch Frauen beschreiben. Hier geht es etwa um Gespräche Muhammads mit Frauen, die von den Frauen intendiert und von Muhammad bereitwillig geführt wurden. Frauen richteten sachkundige Fragen an Muhammad, die einen vorherigen Er­werb an Wissen – etwa über religiöse Praktiken oder einzelne Glaubensauffassungen – sowie eine eigenständige Reflexion, Deutung und Applikation des Diskussionsgegenstandes erforderten. Frauen forderten Rechtsentscheidungen von Muhammad, oder im Falle seiner Ehefrau Aisha, auch Begründungen für einzelne Offenbarungen, die sie sich nach Berichten der Überlieferungen in manchen Fällen nicht scheute, kritisch zu bewerten.
Drittens werden Texte behandelt, die den Transfer religiösen Wissens durch Anwendung und Lehre durch Frauen schildern. Diese (insgesamt wenigen) Texte berichten, dass Frauen auch von Männern aufgesucht und zu religiösen Inhalten befragt wurden und Antworten erteilten (lehrten); dies jedoch wohl vor allem spontan und informell, nicht strukturiert und systematisch. Einige Überlieferungen berichten, dass sich Männer vor allem mit Fragen zur Gebetspraxis Muhammads an Aisha wandten, die als verständnisvoll, entschlossen, klug, gebildet und selbstbewusst gezeichnet wird. Sie und weitere Ehefrauen Muhammads wurden in manchen Fällen auch von Männern als Lehrautoritäten sowie als Auslegerinnen von Koranversen und Vermittlerinnen von Ritualen (wie der Ganzkörperwaschung) betrachtet. Andere Überlieferungen berichten, dass Frauen das Gebet leiteten. Unklar bleibt, ob sie regelrecht Vorbeterinnen für eine gemischte Gemeinschaft waren; vermutlich jedoch ausschließlich für Frauen.
In D.s Studie entsteht so ein facettenreiches Bild religiös interessierter, selbstbewusst und selbständig handelnder Frauen aus frühislamischer Zeit, die erst später, etwa unter der Dynastie der Abbasiden ab 750 n. Chr., mehr und mehr zurückgedrängt wurden. D. kommt zu der Auffassung, dass Frauen »im sich formierenden islamischen Wissenschaftsbetrieb […] keineswegs eine unbedeutende Rolle« spielten (316) und als Autoritäten und Expertinnen für religiöses Wissen galten.
Verständlicherweise beantwortet D. nicht, was ein solcher Textbefund für die islamische Theologie insgesamt bedeuten könnte. Der umfangreiche Korpus an Überlieferungen weist gleichzeitig zahlreiche Texte auf, die Frauen hinsichtlich ihrer Urteilskraft, ihrer Einsicht, ihres Verstandes und ihrer Religionsausübung herabsetzen und die zu Teilen Grundlage des bis zum 10. Jh. ausformulierten Schariarechts wurden. Hat sich also die islamische Theologie mit der Entwicklung des Schariarechts von ihrer ur­sprünglichen Texttradition entfernt? Bilden die Texte, die selbstbewusste Frauen als religiös Lernende und Lehrende charakterisieren, eine Realität ab – sei es eine Realität zur Zeit Muhammads oder zur Zeit der Abfassung der Überlieferungstexte – oder bilden die sie herabsetzenden Texte die Realität ab – oder gar beides? D., die die Frage der Historizität der Texte immer wieder problematisiert, weist am Schluss ihrer Studie darauf hin, dass aufgrund der Vielfältigkeit der Überlieferungstexte sehr unterschiedliche Schlüsse und Handlungsanweisungen daraus abgeleitet werden können. – Leider ist mehr Eindeutigkeit mit dem derzeit verfügbaren Quellenmaterial nicht herzustellen.