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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

35–38

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Boos-Nünning, Ursula, Bultmann, Christoph, u. Bülent Ucar[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Gülen-Bewegung – zwischen Predigt und Praxis.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2011. 349 S. m. Abb. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-402-12898-5.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Seit knapp 20 Jahren erlebt die Gülen-Bewegung ausgehend von der Gründung lokaler Bildungsträger in Deutschland einen dynamischen Entwicklungsprozess. Fethullah Gülen, ein islamischer Prediger aus der Türkei, der derzeit in den USA lebt, gilt Teilen der Islamwissenschaft als hervorragender Gelehrter mit interreligiösen Dialogabsichten, Kritiker allerdings werfen ihm Nationalismus und Islamismus vor.
2009 fand in Potsdam die erste große Tagung zur Gülen-Bewegung an einer deutschen Universität statt (vgl. W. Homolka [et al. ed.], Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen, Freiburg i. Br. 2010). Die zweite folgte 2010 in Bochum. Sie ist in dem hier anzuzeigenden Sammelband dokumentiert. Inzwischen hat sich der Herder Verlag mit weiteren Publikationen indirekt zum Sprachrohr der Gülen-Bewegung gemacht (vgl. Helen R. Ebaugh, Die Gülen-Bewegung. Eine empirische Studie, deutsche Ausgabe 2012; Jochen Thies, Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Einblicke in die Bildungsinitiativen der Gülen-Bewegung, 2013). Diesen und weiteren Veröffentlichungen ist gemeinsam, dass in ihnen Darstellung und Selbstdarstellung der Hizmet-(Dienst)-Bewegung, wie sie sich selbst nennt, ineinanderfließen und Aspekte, die andernorts Gegenstand kontroverser Debatten sind, weitgehend ausgeblendet bleiben. Die von Vereinen der Gülen-Bewegung initiierten Konferenzveranstaltungen und gesponserten Autorenreisen sind eher im Zusammenhang der seit 2009 breit angelegten Werbung der Gülen-Bewegung für eine größere öffentliche Akzeptanz als in wissenschaftlichen Dis­kursen zu sehen. Dazu passt, dass an den Projekten auffallend wenig Fachleute für Islamwissenschaften und Türkeistudien be­teiligt sind, vielmehr neben Akteuren der Gülen-Bewegung mehr heitlich Vertreterinnen und Vertreter z. B. der christlichen (teilweise jüdischen) Theologie(n), der Geschichte und Philosophie sowie der Erziehungs- und Sozialwissenschaften bemüht sind, die positiven Seiten der GB herauszustreichen.
So auch hier. In vier Blöcken (Blick auf die Situation in Nord-rhein-Westfalen; Gülen als Prediger; Kontexte; Themen im inter­-religiösen Dialog) werden 20 Beiträge geboten, davon drei bzw. vier von islam- oder türkeikundlich ausgewiesenen Fachleuten. Ebenso viele Texte stammen von Vertretern der Gülen-Bewegung, die versuchen, die Ideen Gülens in den deutschen und akademischen Kontext zu übersetzen. Ist thematische Heterogenität häufig Kennzeichen eines Tagungsbandes, so überrascht doch, dass gleich mehrere Beiträge »Gülen« allenfalls dekorativ benutzen oder schlicht keinen Bezug zum Thema erkennen lassen. Besonders eklatant ist dies der Fall bei der – in sich interessanten und aussagekräftigen – Präsentation einer Studie zur positiven Haltung jugendlicher Schülerinnen und Schüler zum Religionsunterricht in Europa (Th. Knauth) oder auch bei den (wem auch immer verständlichen) Einlassungen zur einzig dialogrettenden Besinnung auf »die fundamental-kreative Kraft« aus der »Tiefe des Seins« von K. Otte.
Informative und hilfreiche Artikel zum Thema sind beispielsweise die Einführung von T. Specker (ein Nachdruck, ursprünglich nicht Teil der Tagung) und die faktenreiche Darstellung der Arbeit der Gülen-Bewegung in Nordrhein-Westfalen von Gülen-Experte B. Agai (auch wenn diese zwar zutreffend, aber zu einseitig Defi­zite hiesiger Bildungspolitik als Folie nimmt und nicht auf die interne Expansionslogik der Gülen-Bewegung eingeht). D. Müllers Untersuchung deutschsprachiger Medien der Gülen-Bewegung (insbesondere »Fontäne«) gibt Aufschluss über die scharfe Distanzierung vom »Darwinismus« zugunsten eines spezifisch geprägten Kreationismus, die in der Gülen-Bewegung verbreitet ist und in einer Spannung zu dem als zentral propagierten Anliegen steht, Religion und Wissenschaft widerspruchslos zu versöhnen. Von hier aus hätte man sich eine tiefergehende Analyse der Bedeutung der litera­listischen Koranlektüre Gülens für sein Wissenschafts- und Bildungsverständnis gewünscht. Der Beitrag von M. Hieronimus fügt diesem Desiderat noch einen weiteren Gesichtspunkt hinzu, in­dem er neben gedanklichen Übereinstimmungen von westlichen Intellektuellen mit Gülen die Themen Evolution und Athe­ismus in der rigiden Auslegung Gülens als eminente Hindernisse für eine Verständigung betrachtet. Kritik wird am Rande auch am allzu einseitig optimistischen Menschenbild Gülens bei I. Wunn laut – die allerdings selbst mit allzu oberflächlichen Begriffen von »Sufis­mus« und »Humanismus« (Stoa) operiert.
Ansonsten wird der Gülen-Bewegung eine fugenlose Einfügung in den Rahmen zivilgesellschaftlicher sozio-kultureller Bewegungen bescheinigt (W.-D. Bukow) und die positive Wirkung der Gülen-Bewegung im Zusammenhang der prekären Bildungsbilanz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erläutert (U. Boos-Nünning). Von E. Karakoyun wird Gülen als »öffentlicher Intellektueller« vorgestellt, im Zuge dessen eine be­merkenswerte Ver­-bindungslinie zwischen »Intellektuellen« und islamischen »Ulama« gezogen und die islamisch-theologische Richtung des Kalam als »traditionelle Rhetorik« apostrophiert wird. Häufig ist zu lesen, dass Gülen sich gegen Gewalt wende und sich für Frauen einsetze (wobei Letzteres schillernd bleibt). Gülens Verständnis des Islam wird darüber hinaus »als repräsentativ für einen islamischen Humanismus« bezeichnet (B. Sambur, 124), und zwar für einen »Humanismus der Tat«. Dieser ziele nicht auf eine Gesellschaftsform oder einen religiösen Staat, sondern – viel mehr– auf die »Wandlung der Menschheit« (deshalb Humanismus!). Was gemeint ist, erläutern dabei Sätze wie: »Er [Gülen] identifiziert religiöse und menschliche Werte miteinander. Für ihn ist Religion der Weg, der lehrt, wie man ein wahrhaft menschliches Wesen sein kann.« (130) Der Gülensche Humanismus orientiert sich demgemäß nur insoweit am Menschen, als »Gott das Maß des Menschen« ist und bleibt – ein »Gott-zentrierter Humanismus« bzw. »Theo-Humanismus« (132).
Anderes ist wohl einfach gut gemeint, beruht jedoch vermutlich auf einer eher beiläufigen Kenntnisnahme von Gülen-Schriften (sicherlich in deutscher Sprache). So werden Gülen und Papst Benedikt XVI. im Blick auf eine europäische Identität als Intellektuelle auf einer Linie gesehen (D. Ansorge, der indes hauptsächlich sein Verständnis europäischer Identität skizziert) oder wird Gülen mit nachgerade entwaffnender Unbefangenheit (und zugleich nor­-mativem Anspruch!) in die Nähe christlich-hermeneutischer Er­kennt­nisse von Semler bis Bultmann und der Hermeneutik der »Ankaraner Schule« gebracht (R. Kirste). Ebenfalls von christlich- theologischer Seite kommt schließlich der Vorschlag, Gülens Zu­gang zum Koran im Vergleich mit Lessings »Nathan der Weise« zu er­schließen (Ch. Bultmann). Dies wird nicht (nur), wie der Autor meint, dadurch erschwert, dass Gülen religiös und Lessing Religionskritiker ist. Vielmehr ist die Ethisierung der Religion im Sinne eines Wahrheitserweises durch das Handeln bei Gülen – sofern sie überhaupt so beschrieben werden kann – von vornherein keinesfalls mit der Relativierung der »dogmatischen Glaubenswahrheit« verbunden, wie es bei Lessing der Fall ist.
Das Buch schließt mit der Vorstellung der Autoren und der für die Bochumer Tagung hauptverantwortlichen Gülen-Vereine so­wie einem Personenregister.
Fazit: Die Leserinnen und Leser bekommen zwar nicht die Analyse aus verschiedenen Blickwinkeln, die man sich bei dem Umfang hätte wünschen können. Dazu fehlt etwa auch eine Einordnung in die globaleren Zusammenhänge der Gülen-Bewegung, die die internen Motivationen und Impulse berücksichtigt hätte. Abgesehen von der Fülle von Einzelfakten lohnt die Lektüre aber allemal – auch schon im Blick auf die Präsentations- und Ausbreitungsstrategien der Gülen-Bewegung in Deutschland.