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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

136–145

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Birgit Stolt

Titel/Untertitel:

Luthers beliebte Tischreden und Probleme ihrer Neuausgabe

Das herannahende Reformationsjubiläum macht sich im Rahmen der Buchveröffentlichungen bemerkbar an einem gesteigerten Lutherinteresse, u. a. mit der Herausgabe von Luthers »Tischreden«. Diese sind sehr beliebt und werden häufig zitiert. Nirgendwo meint man dem Reformator menschlich so nahe zu kommen – aber als Textsorte sind sie problematisch und umstritten wie kein anderer Luthertext und daher Gegenstand umfangreicher Forschung. Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Bücher mit diesem Titel: »Luthers Tischreden«, hrsg. von Reinhardt Dithmar (Eisenach 2010), und »Martin Luthers Tischreden«, hrsg. von Katharina Bärenfänger, Volker Leppin und Stefan Michel (Tübingen 2013).* Erfahrungen mit ihrer Lektüre und kritische Gesichtspunkte bilden den Inhalt der folgenden Ausführungen. Zu dem Verständnis der Problematik muss allerdings zunächst etwas an Vorkenntnissen vorausgeschickt werden.

Zunächst einmal: Was sind »Tischreden« eigentlich für Texte? Es handelt sich um keine heute gebräuchliche Textsorte, und auch der Terminus ist wechselhaft: Tischreden oder Tischgespräche, dicta, colloquia, condimenta mensae und andere Bezeichnungen kommen vor. Darunter finden sich auch Texte, die nicht bei Tisch nachgeschrieben sind, sondern im Garten, auf Reisen oder am Bett des erkrankten Luther. Mitunter haben die Sammler auch Stellen aus Briefen oder Predigten Luthers eingefügt, wenn sie ungefähr zum gleichen Zeitpunkt über das aktuelle Thema geschrieben bzw. gehalten worden sind. »Man darf auch den Begriff der Tischreden nicht zu sehr pressen«, meint der Herausgeber der Weimarer Ausgabe Ernst Kroker (s. WATR 1,X).

Zeitlich fallen sie in die 1530er Jahre, als Luther von seinem Kurfürsten das ehemalige Schwarze Kloster als Wohnung für sich und seinen Haushalt bekommen hatte. Es hatte sich zu einer Art Internat für Studenten bzw. Pensionat für gelehrte Gäste entwickelt. Man rechnet damit, dass etwa 20 bis 30 Personen zu Luthers Haushalt gehörten: Frau und Kinder – zum Schluss sechs eigene und dazu mindestens sechs Kinder von zwei verstorbenen Schwestern Luthers –, Knechte und Mägde, dazu regelmäßig eine Reihe von Theologen und andere Gäste. Wer dies alles zusammenhalten musste, war Käthe, und sie war für das Führen eines Großhaushalts sehr gut geeignet, war sie doch selbst in einem Klosterinternat aufgewachsen. Sie schätzte die Möglichkeit, dadurch zur Ökonomie der Familie beitragen zu können. Als der Kurfürst Luther eine an­dere, ruhigere Wohnmöglichkeit anbot, weigerte sich Käthe. Es liegt eine anschauliche Schilderung davon vor, wie es bei einer solchen Mahlzeit zugehen konnte. Sie stammt von Johannes Mathesius, der 1546 dort wohnte:

»Ob aber wol unser Doctor offtmals schwere und tiefe gedancken mit sich an den Tisch nam, auch bißweylen die gantze malzeyt sein alt Klostersilentium hielt, das kein wort am tische gefiel, doch ließ er sich zu gelegener zeyt sehr lustig hören, wie wir denn sein reden Condimenta mensae pflegten zu nennen, die uns lieber waren denn alle würtze und köstliche speyse.

Wenn er uns wolte rede abgewinnen, pfleget er ein anwurff zu thun: Was höret man newes? die erste vermanung liessen wir fürüber gehen. Wenn er wider anhielt: Ir Prelaten, was newes im lande? Da fiengen die alten am tische an zu reden. Doctor Wolff Severus, so der Römischen Königlichen Majestat Preceptor gewesen, saß oben an, der bracht was auff die ban, wenn niemand frembdes verhanden, als ein gewanderter Hofman.

Wens gedöber, doch mit gebürlicher zucht, und ehrerbietigkeyt angieng, schossen andere bißweylen jhren theyl auch darzu, biß man den Doctor anbracht. Offtmals legte man gute fragen ein auß der Schrifft, die löset er fein rund und kurtz auff, und da einer mal part hielt, kondt ers auch leyden, und mit geschickter antwort widerlegen. Offtmals kamen ehrliche leut von der Universitet, auch von frembden orten an Tisch, da gefielen sehr schöne reden und historien.« (WATR 4,XXVIII)

Auch dieser erste Lutherbiograph, der in »Luthers Leben in Predigten« in einer zwölften Predigt selbst mitgeschriebene Tischreden zitiert, wird von Dithmar als Quelle genutzt. Seine Texte werden durch ein vorangestelltes M vor der Nummer gekennzeichnet; vgl. 17 f.

Luthers Predigten und Vorträge in Kirche und Hörsaal wurden für gewöhnlich nachgeschrieben. Im Lateinischen stand ein Sys­tem von Abkürzungen zur Verfügung, das an unsere Stenographie erinnert. Im Schwarzen Kloster waren zwei große Hörsäle, in denen noch heute die Katheder von Luther und Melanchthon zu sehen sind. Die Studenten kamen oft direkt von dort mit ihren Notizblöcken (»tabulas«, tabellas) zum Essen. Wenn theologische Fragen bei Tisch erörtert wurden, war es nur natürlich, dass auch dies aufgezeichnet wurde. Jeder Nachschreiber zückte dann die Feder, wenn das Gespräch eine ihm interessante Wendung nahm. Nachträglich wurde bei der Reinschrift aus der Erinnerung der Zusam­menhang oder die Veranlassung des Gesprächs referiert. Die Tischgenossen stellten sich gegenseitig ihre Nachschriften zum Ab­schreiben zur Verfügung, wobei jedoch etliches verlorenging und zahlreiche Paralleltexte entstanden. Die Urschriften sind sämtlich verlorengegangen. Nur die Sammlung von Luthers treuem Sekretär Veit Dietrich liegt in seiner eigenen Reinschrift vor, die anderen erhaltenen Sammlungen sind Abschriften anderer Hand, bisweilen Abschriften von Abschriften.

Die Überlieferung ist somit chaotisch und stellt Herausgeber vor große Schwierigkeiten. Der Versuch des Herausgebers der heute wissenschaftlich maßgebenden Weimarer Ausgabe (WA) Ernst Kroker, zwischen ursprünglichen, abgeleiteten und scheinbaren Paralleltexten zu unterscheiden, muss als gescheitert angesehen werden. Meines Erachtens kann man nicht einmal eine Grenze zwischen »Nachschriften« und »Abschriften« ausmachen, wenn ein Nachschreiber bei der nachträglichen Reinschrift und Überarbeitung auch die Nachschrift eines anderen verwertete, um Lücken aufzufüllen und Unklarheiten zu beheben.

Die Sprache der Gebildeten unter sich war Latein, vermischt mit Deutsch. (Noch heute ist uns diese Art von Sprachmischung erhalten im Weihnachtslied In dulci jubilo.) Dass dies auch bei Tisch üblich war, dafür habe ich ein Selbstzeugnis Luthers gefunden, der in einem Brief an Spalatin erklärt, wie das Gerücht aufgekommen sei, er könne kein Latein: Er war bei einem Gelage von einem theologischen Gegner über Tisch in einen Streit verwickelt worden, in dem er »wie üblich« (ut fit) Lateinisch und Deutsch gemischt habe: »mixtim (ut fit) vernacula lingua digladiabamur«, worauf sein Gegner überall damit geprahlt habe, Luther sei dermaßen besiegt ge­wesen, dass er weder auf Deutsch noch auf Lateinisch habe antworten können (vgl. Birgit Stolt, Luther sprach »mixtim vernacula lingua«, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 88 [1969], 432–435, zit. 435). Etliche Notizen sind auf Lateinisch festgehalten, die wohl auch auf Deutsch gesprochen sind, wenn es nur darum ging, den Inhalt kurz und prägnant festzuhalten. Lateinische Kürzel für frequente Konjunktionen wie et, sed, quia wurden auch in deutschen Sätzen für die Wörter und, aber, denn gebraucht.

Diese Sprachform ist natürlich nicht für die lateinunkundige Leserschaft verständlich. In seiner ersten Sammelausgabe 1566 hat Johannes Aurifaber die Texte gründlich bearbeitet, lateinische Ausdrücke glossiert und das Latein mit unzähligen Synonymen und Erweiterungen verdeutscht. Er nahm sich dabei solche Freiheiten gegenüber der Vorlage, dass man heute in etlichen Fällen von Fälschung sprechen würde. Über seine eigenen Nachschriften aus dem Jahr 1546 schreibt Kroker: »Seine unleidliche Sucht, Luthers Worte durch eigene Zutaten aufzuputzen, läßt es zuweilen fast unmöglich erscheinen, festzustellen, wo Luthers Worte aufhören und Aurifa­bers Zusätze anfangen.« (WATR 6, XXI; vgl. auch ebd., XXII)

Um mit einem Beispiel zu illustrieren, in welcher Richtung Aurifabers Eingriffe gehen und welche Freiheiten er sich dabei nimmt, zitiere ich einen Text, in dem Luther Ratschläge zur Ab­wehr von Anfechtungen des Teufels gibt. Das erste Gegenargument sei das Wort Gottes. Danach gilt:

»Altera via est, ut vincamus eum contemptu, [Der zweite Weg ist, dass wir ihn mit Verachtung besiegen,] das wir die gedanken aussschlagen, wollen nit dran denken, figimus animum in cogitationes alias, choreae vel elegantis puellae [nehmen unsere Zuflucht zu anderen Gedanken, an Tanz oder schöne Mädchen].« (TR 1,141; vgl. auch Nr. 122, 49 f. bzw. 52)

In Aurifabers Fassung wird daraus:

»Nemlich wer mit Traurigkeit, Verzweifelung oder anderem Herzeleid ge­plaget wird und einen Wurm im Gewissen hat, derselbige halte sich erstlich an den Trost des göttlichen Worts; darnach so esse und trinke er, und trachte nach Gesellschaft und Gespräch gottseliger und christlicher Leute, so wirds besser mit ihm werden.« (52)

Hier ist von Luthers Ratschlägen nicht viel übriggeblieben, es spricht ein ganz anderer Luther: frömmelnd, weitschweifig, betulich. Tanz und schöne Mädchen werden offenbar als unpassend angesehen und gestrichen. Dieses Beispiel sollte zu Vorsicht beim Umgang mit Aurifaber-Luthertexten mahnen.

Immerhin hat sich seine Sammlung, die lange Zeit die einzige Fassung war, großer Beliebtheit erfreut. Sie ist in Grimms Wörterbuch und Ph. Dietz’ Luther-Wörterbuch (1870) für Luthers Sprachgebrauch ausgeschrieben und hat nachhaltig zu einem volkstümlichen, retuschierten Lutherbild beigetragen. Erst mit dem Er­scheinen der WA war die Möglichkeit eines Vergleichs gegeben und ließ sich Aurifabers Umgang mit den Quellen überprüfen. Seine Texte sind in unmittelbarem Anschluss abgedruckt, gekennzeichnet als »FB« nach den ersten Herausgebern Förstemann und Bind­seil.

Die Mischsprache ist heutzutage ein großes Problem: Luthers Frühneuhochdeutsch ist – zwar mit Schwierigkeiten und Fehlerquellen – noch ungefähr verständlich (aber auch leicht missverständlich), während das Latein weiterhin unverändert gültig ist. Ein Satz, der Frühneuhochdeutsch beibehält und Latein ins Neuhochdeutsche übersetzt, wird brüchig. Es ist klar, dass gute Kenntnisse sowohl im Lateinischen als auch im Frühneuhochdeutschen notwendig sind für den, der diese Texte lesbar herausgeben will.

Im Bewusstsein dieser Schwierigkeiten wenden wir uns nun der Ausgabe von Reinhard Dithmar zu. In Dithmars Einleitung muss man lange suchen, um sein Prinzip für den Umgang mit den Vorlagen zu erfahren. Nach einer Skizze vom Situationskontext im Schwarzen Kloster und den wichtigsten Nachschreibern sowie den Herausgebern von zwei Sammlungen – Aurifaber und der Herausgeber der heute wissenschaftlich maßgeblichen sechsbändigen Ausgabe der WA: Ernst Kroker – erfährt man in unmittelbarem Anschluss an die Information über Krokers Ausgabe: »Band 6 der WATR enthält mit insgesamt 567 Nummern (6508–7075) die nur von Aurifaber überlieferten Tischreden. – Ich zitiere nach der sechsbändigen Ausgabe der WA. […] Die lateinischen Texte und Textpassagen wurden übersetzt und die deutschen dem modernen Sprachgebrauch angepasst.« (17)

Dies ist wohl das einzige haltbare Prinzip, um einen verständlichen Text herzustellen. Eine Übersetzung der lateinischen Vorlage ist unproblematisch, und die Anpassung des Frühneuhochdeutschen ist mit einer Übersetzung vergleichbar. Das Ergebnis dürfte ein heute »normaler« Text sein, dem der historische Abstand noch anzumerken ist.

Zum Einstieg wählte ich einen recht bekannten Text: Luthers Be­schreibung, wie es zu seiner Wahl von Katharina von Bora als Ehefrau kam. In meiner Erinnerung hatte er ein anderes Mädchen im Auge gehabt, das jedoch einen Arzt geheiratet hatte; Käthe hatte er für stolz (superbiae) gehalten, und der Nachschreiber hatte in Klammern seinen eigenen Kommentar hinzugefügt: (sicut est) = »das ist sie auch«. Es war dieser Kommentar, der so lebhaft die Si­-tuation der Nachschreiber vor Augen führte, der sich mir eingeprägt hatte. Nun also bei Dithmar:

»[…] Meine Käthe hatte ich damals nicht lieb. Denn ich hielt sie verdächtig, als wäre sie stolz und hoffärtig. Aber Gott gefiel es also wohl. Er wollte, dass ich mich ihrer erbarmte. Und es ist mir, gottlob, wohl geraten. Denn ich habe ein frommes, getreues Weib […]« (TR Nr. 4786; Dithmar, 31).

Aber wo ist denn die so vielsagende Klammer des Nachschreibers? Und: »ich hielt sie verdächtig, als wäre« klingt nicht nach Luthers gesprochener Sprache. Eine Kontrolle bringt große Er­nüch­terung: Dithmar übersetzt mitnichten die ursprüngliche Nachschrift: »habui suspectam superbiae (sicut est)« nach Krokers WA-Text, sondern Aurifabers Bearbeitung! Die Auslassung geht auf die FB-Fassung zurück, und keine nachträgliche Kontrolle hat zu einer Rückerstattung der Klammer geführt! Wenn Dithmar angibt: »Die lateinischen Texte und Textpassagen wurden übersetzt«, stimmt es: Sie wurden bereits von Aurifaber übersetzt und von Dithmar übernommen, und es sind diese, die notdürftig »mo­dernem Sprachgebrauch angepasst« wurden! Die »Anpassung« ist sehr oberflächlich. Aurifaber übersetzt habeo fidelem coniugem = [»Ich habe eine treue Ehefrau«] mit »Ich habe ein fromm, getreu Weib«, was Dithmar heutigem Sprachgebrauch anpasst: »frommes, getreues Weib« (31). Die »Anpassung« betrifft vorwiegend Grammatik und Syntax. Es zeigt sich bei längerem Lesen, dass sie nachlässig betrieben wurde. Formulierungen im Stil wie »Er [Gott] hat gegen seine Gläubigen ein viel gütiger und freundlicher Herz« (36; WA 1237) sind nicht selten.

Noch wichtiger ist, dass »fromm« heute nicht mehr das Gleiche wie im 16. Jh. bedeutet: Damals bezeichnete es allgemeine Rechtschaffenheit und ist erst später auf die Sphäre der Religion beschränkt worden, und »Weib« wird heute negativ gebraucht.

Diese Probleme mit dem Frühneuhochdeutschen sind größer, als dem Durchschnittsleser bewusst ist. Modernisierte Neuausgaben begnügen sich häufig mit einer Anpassung an Rechtschreibung, Interpunktion und Syntax. Damit wird der Leser dazu verführt, den Text wie Neuhochdeutsch zu lesen, während das größte Problem in Wörtern steckt, die so aussehen wie heute, aber zu Luthers Zeit etwas anderes bedeuteten. Häufig ist man sich dieser Tatsache noch bei »schlecht« – zu Luthers Zeit »schlicht« bedeutend (vgl. »recht und schlecht«) – und »gemein« – früher = allgemein – bewusst. Ihre Anzahl ist jedoch weit größer. Nur ein paar weitere Beispiele: »Schimpf« war früher = Scherz; »leichtsinnig« = fröhlich; »furchtsam« = ehrfürchtig. Das Risiko für Missverständnisse liegt auf der Hand.

Hier mangelt es Dithmar an Sprachkompetenz. Ein einziges, kurzes Beispiel soll genügen. Bekannt ist Luthers Warnung, Kinder zu hart zu strafen, es solle immer »ein Apfel neben der Rute liegen«. So sagt er auch: »Ich will auch nicht gern meinen Hans sehr schlagen, sonst wird er blöde und mir feind« (Nr. 1559; Dithmar, 202). »Blöde« hatte damals nicht die heutige Bedeutung von »schwachsinnig«, sondern bedeutete »verzagt, ängstlich, scheu«. Leider fehlt hier wie bei Aurifaber die Fortsetzung: die theologische Anwendung auf Gott, wie sie oft bei Luthers Äußerungen zur Vaterschaft vorkommt, aber bei Aurifaber und damit Dithmar regelmäßig fehlt: Sic Deus facit […] = »so handelt auch Gott […] Denn unser Herr Gott wolt ja nicht gern, das wir ihm feind wurden.«

Dithmars Abhängigkeit von Aurifabers FB-Texten prägt auch den Stil: Aurifabers Vorliebe für Synonymenhäufung, Zweimal- und Dreimalsagen werden ausnahmslos übernommen und lassen den Text anschwellen und Luther weitschweifig werden. Beispiele: »Darum kämpfen, ringen, winden, befleißigen und bemühen sie sich ohne Unterlass, den Glauben zu erhalten und zu mehren. Gleichwie die guten und kunstreichen Werkmeister allezeit sehen und merken, daß an ihrem Werk etwas, ja, viel mangelt und fehlt.« (WATR 1063; Dithmar, 225)

Aurifaber erstrebte ein Erbauungsbuch für die deutsche Familie, und dies prägt auch Dithmar. Es wäre leicht für diesen gewesen, durch eine Kontrolle der dem FB-Text vorangestellten Vorlage Abweichungen und reine Fehler zu beheben, gestrichene Klammern einzufügen, auch andere Tischreden aufzunehmen. Es tritt uns ein wohlfrisierter Luther gegenüber.

Luthers Aufforderung an die Nachschreiber: Hoc scribite et no­-tate! (= »Schreibt das auf und merkts euch!«) wird von Dithmar zitiert (12, zu Nr. 246) und damit erklärt, dass er die Hörer zum Aufschreiben motivieren wollte. Gerade diese Aufforderung ist jedoch ironisch gemeint und zeigt eine Distanzierung von der Schreiberpraxis, was dem Leser nicht einsichtig ist, da das, was notiert werden sollte, der vorausgehende Kraftausdruck ist, den Aurifaber zensuriert hatte: »[…] so schisse ich drein«. – Wenn man in Nr. 1615 die Situationsbeschreibung liest: »Und da er das Kindlein zu sich auf den Schoß nahm, verunreinigte es ihn« (Dithmar, 34), braucht man nicht nachzuschlagen, um sicher zu sein, dass hier Aurifaber die Feder geführt hat.

Über eine Auswahl lässt sich immer streiten. Besonders die mit »M« markierten Mathesius-Texte sind teilweise stark vom Zahn der Zeit angegriffen. Die Rezensentin würde z. B. nicht weiterlesen, wenn ein Text anfinge wie der folgende: »Über den Ehestand hielt er oft sehr löbliche und gute Reden, wie er denn ein züchtiger Ehemann war und von Frauen und Jungfrauen ehrlich redete.« (186: M 288 über »Ehe«)

Die völlig fehlenden Beispiele für Luthers oft drastischen Kampf mit dem Teufel hätten kräftigere Akzente gesetzt (z. B. WATR 1, Nr. 141; 248; 590 et al.), z. B. Ratschläge, dass man den Teufel mit Verachtung abweisen könne, nämlich »mit einem Furz davonjagen«, wenn er nicht noch gröbere Ausdrücke wählte (WATR 1, Nr. 83; 122; 141; 248; 469; 590; 1557 u. a. m.; vgl. Stolt 2000, 19–27).

Persönlich vermisse ich besonders im Abschnitt »Ehe – Katha­-rina« (31 ff.) eine Stelle, wo Luther vom Galaterbrief, seinem Lieb­lings-Bibelbuch, auf seine Ehefrau zu sprechen kommt. In zwei Sätzen drückt er dort sein Vertrauen und seine Hochachtung aus. Vielsagend ist auch der Diminutiv bei »mein Epistelcha«: »Epistola ad Galatas ist mein epistelcha, der ich mir vertrawt hab. Ist mein Keth von Bor.« (WATR 1,146). Aber diese schöne Stelle hat Aurifaber nicht, soweit ich sehen kann, und so fehlt sie auch bei Dithmar.

Die Tischreden Luthers zur Vater- und Mutterliebe haben oft einen Zusammenhang mit Gott-Vater, z. B. wird göttliche Sündenvergebung mit mütterlichem Windelnwechseln verglichen, und illustrieren den Begriff »Gotteskindschaft«, der hier fehlt (vgl. ausführlicher: Stolt 2000, Kapitel VII). Damit verliert man den engen Zusammenhang von Alltagsleben und Theologie, der sich auch bei der Bibelübersetzung Luthers auswirkt. Auch Luthers Dreierfigur im Katechismus: »Wir sollen Gott fürchten, lieben und vertrauen« geht auf seine Vatererfahrungen zurück – oft in Tischreden erkennbar und im vorliegenden Band zumeist nicht erfasst (vgl. ausführlicher Stolt: »Laßt und fröhlich springen!« Gefühlswelt und Ge­fühlsnavigierung in Luthers Reformationsarbeit, Berlin 2012, 128 ff.).

In Reinhard Dithmars Tischredenausgabe tritt uns ein zweifach gefilterter, retuschierter, erbaulicher, salonfähiger und mitunter weitschweifig-langweiliger Luther im Aurifabergewand entgegen. Indem seine Gefechte mit dem Teufel ausgeschlossen wurden, geht dem Porträt ein kräftiger Farbton verloren. Wer sich an die Lektüre macht, braucht nicht zu befürchten, auf Anstößigkeiten wie Flüche oder unappetitliche Teufelsabschreckungen zu stoßen.

Wir greifen nun zum Buch »Martin Luthers Tischreden«, herausgegeben von Katharina Bärenfänger, Volker Leppin und Stefan Michel, in der Hoffnung, hier jedenfalls auf Urtexte zu stoßen. Der Titel auf der Innenseite bietet eine Überraschung: Es gibt auch einen Untertitel mit der Angabe: »Neuansätze der Forschung«. D. h., hier werden keine Tischredentexte vorgelegt, sondern wissenschaftliche Vorarbeiten für eine neue Edition! Ein Vorwort, ge­schrieben im Sommer 2011, informiert darüber, dass es sich um »Die Beobachtungen, Deutungen und ersten Ergebnisse« von »ausgesprochen intensive[n] Gesprächen« handelt, die am 20. April 2010 auf dem Alten Schloss in Dornburg bei Jena in einem »Arbeitsgespräch« über »Luthers Tischreden als historische Quelle und edito rische Aufgabe« stattfanden. Der Band ist »in dankbarer Erinnerung« Helmar Junghans gewidmet, dem langjährigen Herausgeber des »Lutherjahrbuchs«, der die Tagung durch Vortrag und Dis­kussion belebt und inspiriert hat und wenige Wochen später plötzlich verstorben ist. Eine »Einleitung« der drei Herausgeber: »Luthers Tischreden von der Bestandssicherung zu neuen Perspektiven« (1–6) beginnt mit der bekannten Situationsbeschreibung durch Johannes Ma­thesius (oben wiedergegeben) und stellt die zwölf Mitarbeiter und ihre Themen kurz vor.

Helmar Junghans’ Vortragsmanuskript: »Luthers Tischreden. Ge­schichte ihrer Ausgaben und Editionen«, das er selbst nicht mehr für den Druck bearbeiten konnte, wird hier nach der Vortragsgrundlage wiedergegeben. Er gibt einen Überblick über die heutige Forschungslage, begonnen mit Aurifabers erfolgreicher Tischredenausgabe von 1566, in der dieser lateinische Texte und Textpassagen ins Deutsche übersetzte. Zwei Tendenzen Aurifabers hebt Junghans hervor: Er tilgte, was ihm anstößig erschien, und ließ andererseits den Text durch synonymische Verdoppelung – (mitunter Verdreifachung) – anschwellen (zu Aurifaber s. Stolt 1964, 19–24; dies. 2000, 19–27). Einen zentralen Platz in der Weimarauflage (WA) in sechs Bänden nimmt Ernst Kroker ein, der 20 Jahre der Arbeit gewidmet hat mit dem Ziel, (wie er selbst zitiert wird): »die Urschriften von Luthers Tischreden in den besten uns erreichbaren Texten wiederzugeben, sie bestimmten Tischgenossen zuzuweisen, sie fest zu datieren, soweit unsere Überlieferung das zu­läßt« (15). Krokers Ausgabe wird als »unerlässliche Werkausgabe« bezeichnet (18). Sie bildet die Grundlage für die meisten nachfolgenden Ausgaben in anderen Sprachen. Da sich seitdem die For schungslage sowohl was Quellenmaterial als auch Textwissenschaft betrifft wesentlich verbessert hat, ist eine neue wissenschaftliche Ausgabe dringend notwendig.

Katharina Bärenfänger, »Zum Umgang mit Luthers Tischreden. Hermeneutisch-methodische Erwägungen anhand von Luthers Aussagen über Kind und Kindheit in den Tischreden« (21–45), legt ihrer Theoriebildung eine sehr begrenzte Textauswahl – Material ihrer Dissertation – zugrunde und behandelt die Sammlungen als eine einheitliche Textsorte. Sie will ihre Erwägungen verstanden sehen »im Sinne einiger hermeneutischer Wegweiser […] entstanden im Rahmen der Arbeit an meiner Dissertation und ausgerichtet auf ein noch von überlieferungsgeschichtlichem Treibsand durchzogenes Gebiet kirchengeschichtlicher Forschung« (21). Leider ist auch Bärenfängers hermeneutisches Schema in vier Bereichen (»Nachtextlich, transtextlich, textlich, vortextlich«, 30) von theoretischem »Treibsand« nicht frei. Sie geht von einer thematisch eng begrenzten Textauswahl aus und betont die Notwendigkeit »theologischer Kontextualisierung«. Der so umfangreichen, he­te­ro­genen, alltäglichen Textmasse mit ihrer chaotischen Überlieferungsgeschichte kommt man mit einer so rigiden wissenschaftlichen Methode nicht bei. Dazu kommen leider weitere Schwächen, auf die hier kurz eingegangen werden muss.

Das Problem der Mischsprache löst Bärenfänger auf andere Weise als Dithmar: Sie wiederholt den frühneuhochdeutschen Text ohne »Anpassung«, nicht einmal in der Orthographie, und übersetzt lateinische Textpassagen ohne Kennzeichnung des Übergangs ins Neuhochdeutsche. Z. B. beginnt ein ursprünglicher Satz: »Sic nostra iustitia est relativa; bin ich nicht frumb, so bleibt Christus frumb. Ah, die kinder sein die aller glersten […]« (23) bei Bärenfänger mit der Übersetzung des Lateinischen ins Neuhochdeutsche mit einer Umschreibung für relativa, um dann übergangslos im frühneuhochdeutschen Luthertext weiterzufahren, ohne Anpassung von »frumb« oder Glättung von »glersten« zu »Gelehrtesten«: »So ist unsere Gerechtigkeit auf einen anderen be­zogen; bin ich nicht frumb, so bleibt Christus frumb. Ah, die kinder sein die aller glersten […]« (23, in Anm. 4 noch einmal unverändert wiederholt).

Für den Leser ist die Lektüre verwirrend: Die Modernität des Satzanfangs verleitet zu einer neuhochdeutschen Lesererwartung, worauf man dann über »frumb« stolpert und »glersten« vielleicht nicht einmal versteht. Die Brüchigkeit des Textes ist störend bei allen Zitaten, es gibt aber auch Schlimmeres: Auf S. 41 wird aus TR Nr. 2302b zitiert, sowohl im Text als auch unverändert in Anm. 42: »Die khindlen haben so seine gedancken de Deo […]«. Der Leser fragt sich, auf wen sich »seine« bezieht: Sollte es nicht »ihre« heißen? Hier ist Aurifaber unschuldig: Bärenfänger hat das »f« des Frakturstils mit »s« verwechselt: Dort steht »feine«: »Die Kinder haben so feine Gedanken von Gott«. In Fraktur gesetzt sind sich die Buchstaben zum Verwechseln ähnlich, aber der grammatische Fehler hätte die Aufmerksamkeit schärfen müssen.

Volker Leppin, »Erinnerungssplitter. Zur Problematik der Tisch­reden als Quelle von Luthers Biographie« (47–61), konzentriert sich auf die Gedächtnisproblematik und Subjekt-Objekt-Komplika­tio­nen, wenn Luther eigene Erinnerungen gleichzeitig erzählt und interpretiert. Die moderne Erinnerungsforschung der kulturwissenschaftlichen Historiographie bietet einen neuen theoretischen Kontext zur Tischredenüberlieferung. Die Tischreden seien laut Leppin zu guten Teilen mehr ein Dokument der Luther-Memoria als der Biographie Luthers selbst. In drei subtilen Analysen zeigt er auf, wie massiv Luthers Erinnerungen inneren Widerstands gegen Predigtamt und Promotion heilsgeschichtliche Konstruktionen erfahren sowie biographisch-anekdotisch berichtet oder im Sinne einer Prophetie zugespitzt werden oder als Prädestinationsratschlag theologische Überlagerungen bekommen können. Dies ist ein wichtiger und denkwürdiger Beitrag, der mit dem Ratschlag endet, die Texte im Rahmen eines neuen kulturgeschichtlichen Horizontes zu reflektieren: als »Paradefall für kirchenhistorische Erinnerungsforschung« (61).

Die drei folgenden Beiträge befassen sich mit Gattungsfragen. Mit der genremäßigen Einordnung und Benennung der Texte befasst sich Barbara Müller, »Die Tradition der Tischgespräche von der Antike bis in die Renaissance« (63–78). Das Irreführende an der Bezeichnung »Tischreden« ist, dass viele gar nicht bei Tisch gesprochen wurden, sondern im Garten, auf Reisen etc. Müller skizziert die Tradition der Tischgespräche von der Antike an, vergleicht mit den antiken griechischen und lateinischen Symposien (lat. convivium), in der Bibel geschilderten Mahlzeiten und gelehrten Ge­sprächen bis zum Mittelalter. Im Mittelalter ist das Gespräch se­kundär, es gilt der Tisch: die Existenz eines gemeinsamen Mahles mitsamt Tischgespräch. Alle sozialen Beziehungen werden durch Mahle bekräftigt. Heitere Tischgespräche wurden als gemeinschafts- und friedensstiftendes Mittel geschätzt, während Gelage von der Kirche bekämpft wurden.

Der Inhalt der Reden scheint »nicht immer erinnerungswert« gewesen zu sein (71). Die meisten sind anonym. Das Schweigegebot der Klöster während der Mahlzeiten wird in diesem Kontext als ein Abbruch gesehen. Wie sich Luthers Tischreden innerhalb der Geschichte der Sympotik verorten lassen, ist problematisch (76 f.). Als gattungsmäßige Bezeichnung schlägt Müller Aurifabers Bezeichnung Colloquia, sermones in mensa oder die einfache Überschrift früherer Sammlungen Dicta vor. Selbst sieht sie als »durchaus ertragreich« die griechische Bezeichnung »Apophtegmata« = kurze und prägnante, mit Sentenzen vergleichbare lehrhafte Aussagen einer weisen historischen Person (lat. verba seniorum). Dieser Name wird sich jedoch wohl kaum durchsetzen.

Alexander Bartmuß, »Martin Luthers Tischreden und die Wittenberger Gruppenidentität. Philipp Melanchthons Exempla« (79–94), macht darauf aufmerksam, dass es auch eine entsprechende, jedoch nie veröffentlichte und daher weitgehend unbekannte Sammlung Exempla Melanchthonis gibt. Zwischen ihren Texten und Luthers findet Bartmuß zahlreiche Überlappungen, von de­nen einige angeführt werden. Wegen der unzureichenden Forschungslage lässt sich das Verhältnis der Texte zueinander nicht näher ausmachen, als dass sie eine gemeinsame Überlieferungstradition hatten.

Jörg Zimmer, »›Irdisches Kampfmittel und göttliche Vorsehung‹. Zur Bedeutung der Fabel in den Tischreden Luthers« (95–111), knüpft an Luthers Vorrede zu seiner Äsop-Bearbeitung an, in der Luther seine Hochschätzung dieser Literatur bezeugt. Zimmer zitiert eine Tischrede, in der Luther es als Gottes Vorsehung be­zeichnet, dass sie überliefert wurden (WATR 3, Nr. 3490; 98, Anm. 17). In Interpretationsbeispielen zeigt er auf, dass Luther die Fabeln politisch zuspitzt und ihnen neue Funktionen und damit einen Zuwachs an Bedeutung verleiht, sowie auch, dass der Leser »ein differenzierteres Lutherbild in Bezug auf den Einsatz von Literatur abseits des biblischen Wortes« bekommt (111).

Daran schließen sich fünf Beiträge zur Quellenerschließung an. Wolf-Friedrich Schäufele, »Zur handschriftlichen Überlieferung der Tischreden Martin Luthers und ihrer Edition« (113–125), stellt zunächst das ganze uns verfügbare Material vor und beschreibt seine Entstehungsgeschichte, von Notizzetteln über Nachschriften, Bearbeitungen – und mit »fließenden Übergängen« – zu Sammlungen, und hier steht Ernst Kroker im Vordergrund mit der maßgeblichen Weimarer Lutherausgabe.

Die Zuschreibung der Texte zu den ursprünglichen Nachschreibern ist heikel bis unmöglich. Von den an die 20 protokollierenden Personen werden fünf als »relativ sicher zu identifizieren« genannt: Anton Lauterbach (1538, für dessen Aufzeichnungen sich der Titel »Tagebuch« eingebürgert hat), Johannes Mathesius (1540), Veit Diet­rich, der langjährige Sekretär Luthers, Johannes Schlaginhaufen und Georg Rörer. Dabei verzeichnet Schäufele einige Mängel: 1. Von den heute bekannten 110 hat Kroker nur 40 Handschriften. 2. Krokers Rekonstruktion des Überlieferungsgeschehens und Personenzuschreibungen sind mit Notwendigkeit hypothetisch, und insgesamt wird »ein hochspekulatives Bild der Handschriftenüberlieferung erzeugt«. 3. Krokers Suche nach der ipsissima vox Lutheri hat ihn viele charakteristische Überlieferungstraditionen ausschließen lassen, die er als störende Verfälschungen der Bearbeiter ansah.

Der Sammlung Aurifabers schreibt Schäufele eine besondere Funktion zu: Sie müsse als Zeugnis ihrer eigenen Zeit ernstgenommen werden. Sie möge eine schlechte Quelle für die vox Lutheri sein, sei aber eine hervorragende Quelle für die Luther-Memoria der Gnesiolutheraner (124; aber dies gehört in die Rezeptions­geschichte, Anm. der Rezensentin). Schäufele gibt anschließend eine »Beständeübersicht zur handschriftlichen Überlieferung der Tischreden Martin Luthers« (127–180). Seine Beiträge bilden eine umfangreiche und wichtige Grundlage für die zukünftige Editionsarbeit und sind ein Schwerpunkt dieses Buches.

Ernst Koch, »Zur Tischredenüberlieferung in der Wissenschaftlichen Bibliothek Dessau« (181–189), behandelt einen »Textkomplex« aus dem Nachlass des Fürsten Georg III. von Anhalt, in dem sich u. a. zwei Textfragmente aus Cordatus’ Sammlung befinden, deren Wortlaut jedoch in vielen Fällen variiert, verkürzt oder bearbeitet ist. Kroker hat in seiner Ausgabe Cordatus kritisiert und ihm Nachlässigkeit im Umgang mit seinen Quellen vorgeworfen. Hierzu bemerkt Koch, es sei zu bezweifeln, dass es den Bearbeitern im 16. Jh. um historische Sorgfalt im neuzeitlichen Sinne gegangen sein müsse und dass dies mit Sicherheit auch für den bisher unbekannten Schreiber der Dessauer Überlieferung gelte (186).

Daniel Gehrt, »Tischreden in der Handschriftensammlung der Forschungsbibliothek Gotha« (191–219), stellt eine weit umfangreichere, aber sehr heterogene Sammlung vor: mehr als 7000 Tisch­-reden in verschiedenen Handschriften, die vor Aurifabers erster Ausgabe 1566 liegen und die als bearbeitete Aufzeichnungen der Mitschreiber, neue Kompilationen und mehrfach angefertigte Ab­schriften beschrieben werden. Zu dem von Aurifaber geprägten Be­griff »Tischreden« sagt Gehrt, es handele sich um »eine schwer zu bestimmende Gattung mit mehreren Grauzonen«. Aus dem »Tage buch Anton Lauterbachs« gehe explizit hervor, dass die Gespräche nicht nur beim Essen, sondern auch auf Reisen aufgenommen wurden und dass sicherlich mehrere Sinnsprüche und Erzählungen auch Predigten, Vorlesungen und anderen akademischen Reden Luthers entstammten (194 f.). Eine sorgfältige Beschreibung und Inhaltsangabe des Handschriftenbefundes – u. a. wird auf eine »Singularität« bzw. »Rarität« von zwei Reden aus dem Nachlass Spalatins hingewiesen (200) – legt einen gediegenen Grund für die kommende Edition.

Stefan Michel, »Thematische Bearbeitung der Tischreden Martin Luthers durch Georg Rörer (1492–1557). Beobachtungen zu Überlieferung und Funktion« (221–240), überprüft kritisch, wie Ernst Kroker mit den Tischreden Georg Rörers in der WA umgegangen ist. Rörer war Luthers Sekretär und schnellster Schreiber. Er ist der umstrittenste. Zahlreiche Lutherpredigten liegen nur in seinen Nachschriften vor und weichen in ihrer Fassung von der sonstigen Überlieferung ab durch Überwiegen des Lateinischen, elegante Fassung und ihre offensichtlichen Kürzungen, »mehr ex­cerpta als excepta ex ore Lutheri« (WATR 1,XLI; s. auch Stolt 1964, 18). Michel referiert die Diskussion und stellt fest, dass die verwirrte Lage eine neue Beschäftigung mit Rörers Sammlung nötig mache. Er betont den großen quellenhistorischen Wert seiner Sammlung, hebt aber hervor, dass Rörer den Inhalt aller seiner Texte auf das reduzierte, was er für ihren wesentlichen Kern ansah. Aurifaber hat Rörers Sammlung als »einen unaussprechlich großen Schatz« be­zeichnet (zit. bei Michel, 225).

Die beiden letzten Beiträge betreffen die geplante Neuedition: Thomas Wilhelm, »Vorüberlegungen zu einer möglichen Edition von Luthers Tischreden« (241–247), und Margrit Glaser, »Zur Editionsphilologie« (249–258). Wilhelm behandelt die Problematik der komplizierten Überlieferungslage sowie des lateinisch-deutschen Mischtextes und gibt Vorschläge für Editionsgrundsätze. Ab­schließend empfiehlt er eine gut eingerichtete digitale Edition. Glaser ist der gleichen Ansicht und illustriert mit überzeugender Sach- und Fachkenntnis anhand eines Beispiels die Nutzen und Vorteile einer kollaborativen Online-Edition. »Der Fortschritt der modernen Wissenschaft ohne digitale Medien ist ebenso undenkbar wie die Reformation ohne den Buchdruck.« Dies ist das letzte Wort. – Der Band liefert einen wichtigen Beitrag als Unterlage für eine neue Ausgabe, die die modernen Möglichkeiten ausnutzt, die für ein solches Textvorhaben heute zur Verfügung stehen.

Einige Anmerkungen und Desiderata seien angefügt: 1. Der Buchtitel auf dem Umschlag gibt nicht an, worum es sich handelt: keine Neuausgabe der Tischreden, sondern wissenschaftliche Vorarbeiten für eine solche. 2. Das Inhaltsverzeichnis sollte auch die Untertitel der Beiträge aufnehmen. Einige Rubriken sind ohne sie völlig nichtssagend. 3. Auf S. 195 ist eine halbe Zeile entfallen. 4. Die Redaktion sollte eine ständige Wiederholung der Präsentation Aurifabers in verschiedenen Beiträgen vermeiden.

Die hier behandelten Bände haben somit beide Enttäuschungen mit sich gebracht: Dithmar wegen der Aurifaber-Abhängigkeit und nachlässigen, oft direkt falschen oder ganz fehlenden »Anpassung des Frühneuhochdeutschen an heutigen Sprachgebrauch«, der Bärenfänger-et-al.-Band wegen irreführender Titelangabe und Mängeln im ersten Beitrag. In beiden Bänden vermisst man eine Analyse der Mischsprache und ihrer Problematik bei Neuausgaben. Aus Bequemlichkeit die Aurifaber-Texte zugrunde zu legen, ist bei deren notorischer Unzuverlässigkeit nicht zu verantworten, will man eine gediegene Ausgabe anbieten. Wie das Lateinische muss auch Luthers Frühneuhochdeutsch von sprachgeschichtskundigen Fachkräften nicht »angepasst«, sondern regelrecht übersetzt werden.

Die Tischreden sind ein einmaliges historisches Textmaterial, das Leser der unterschiedlichsten Qualifikationen immer aufs Neue fasziniert. Eine zuverlässige, auf den Originaltexten fußende Ausgabe ist ein angelegenes Desiderat.

Fussnoten:

* Dithmar, Reinhard [Hrsg.]: Luthers Tischreden. Weimar u. a.: Wartburg Verlag 2010. 244 S. Geb. EUR 18,00. ISBN 978-3-86160-236-1; Bärenfänger, Katharina, Leppin, Volker, u. Stefan Michel [Hrsg.]: Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck 2013. VIII, 263 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 71. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-150877-6.