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Ausgabe:

Januar/2014

Spalte:

3–36

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ingolf U. Dalferth

Titel/Untertitel:

Bestimmte Unbestimmtheit

Zur Denkform des Unbestimmten in der christlichen Theologie1

I Das Problem

1 Die theologische Herausforderung, Gott zu denken


»Nichts ist einfacher als Gott. Gerade deshalb ist nichts schwieriger, als Gott zu denken.«2 So habe ich vor 20 Jahren ein Buch eröffnet, und damit die Herausforderung umschrieben, um die sich mein Denken in den vergangenen Jahren immer wieder gedreht hat. Eigentlich haben alle meine Bücher damit zu tun – die ge­schriebenen und die noch nicht geschriebenen. Es gibt viele Probleme in der Theologie, und wir alle mühen uns täglich mit ihnen ab. Aber Gott zu denken – also das zu denken, wovon Christen reden, wenn sie »Gott« sagen – ist die zentrale Herausforderung. Daran entschei-det sich, ob wir an einer theologischen Fa­kultät wirklich Theologie oder Allotria treiben.

Christliche Theologie in der Vielfalt ihrer exegetischen, historischen, systematischen und praktischen Disziplinen gibt es nur, weil es christlichen Glauben gibt, und christlicher Glaube ist zentral Glaube an Gott. Um diesen Glauben zu verstehen, muss man klären, was mit »Glaube« und mit »Gott« gemeint ist. Das gilt unabhängig davon, ob man diesen Glauben teilt oder nicht. Auch wer es nicht tut, sollte verstehen können, was Christen mit »Gott« meinen. Und wer es zu tun meint, wird eben deshalb Gott zum Thema des Nachdenkens machen müssen. Denn wenn man auf den Versuch verzichtet, Gott kritisch zu denken, also im Medium des Denkens zwischen Gott und Gottesgedanke, Gott und Gottesverständnis, Gott und Gottessymbolisierungen zu unterscheiden, dann verzichtet man darauf, zwischen Sinn und Unsinn, Vernünftigem und Unvernünftigem, Wichtigem und Nebensächlichem, Wahrem und Falschem im Leben und Denken des Glaubens zu unterscheiden. Auf diese Unterscheidung zu verzichten, heißt nichts anderes, als sich mit den Unklarheiten theologischer Tradition, interreligiöser Dialoge, religiöser Spiritualitätssuche, antireligiöser Vorurteile und gesellschaftlicher Indifferenz gegenüber Gott, Glaube, Kirche und Religion abzufinden. Das ist der Trend der Zeit. Aber womit man sich heute in der öffentlichen Debatte zufrieden gibt, wenn es um Religion geht, zeigt mehr als alles andere, was einem fehlt, wenn man den Versuch, Gott zu denken, gar nicht mehr macht. Nichts ist schwieriger als Gott zu denken. Gerade deshalb ist es so viel einfacher, es erst gar nicht mehr zu versuchen.

Christlicher Theologie steht dieser billige Ausweg nicht offen. Aber damit hat sie ein Problem, das viel tiefer reicht als die oberflächliche Atheismusdebatte unserer Tage. Denn wie kann man Gott denken, wenn unser Denken dafür gemacht ist, das Komplexe zu vereinfachen, Gott aber so einfach ist, dass es darüber hinaus nichts Einfacheres gibt? Wie immer wir das Netz unseres Denkens knüpfen, Gott fällt durch die Maschen. Unser Denken taugt zum Vereinfachen des Komplizierten, aber nicht zum Denken des Einfachen.

Wer Gott zu denken versucht, wird deshalb permanent frus­triert. Auch in der Theologie zieht man sich dann auf wissenschaftlichen Agnostizismus oder bloß historische Forschung zu­rück, die Gott ausklammern, oder flieht ins spirituelle Erleben und interreligiöse Feiern und Handeln, die Gott gar nicht mehr denken wollen.

Aber das muss nicht sein. Man kann auch gerade das, was nicht gelingt, zum Ausgangspunkt des Denkens Gottes machen. Wenn der Versuch, Gott zu denken regelmäßig dazu führt, nicht Gott, sondern etwas anderes zu denken, könnte das nicht heißen, dass man Gott gar nicht anders denken kann, als dass man etwas anderes denkt? Aber was? Und wie? Und auf welche Weise? Als Theologen und Theologinnen sollten wir uns bemühen, Gott zu denken. Aber wir können es nicht. Darum versuchen wir es noch einmal.

2 Anforderungen an das theologische Denken Gottes


Dazu müssen wir uns drei Dinge klarmachen: 1) Man denkt nicht, wenn man nichts Bestimmtes denkt. 2) Man denkt nicht Gott, wenn man nicht sich und alles andere in bestimmter Weise anders versteht und denkt als zuvor. 3) Man denkt Gott, sich und alles andere nicht theologisch bestimmt, wenn man nicht von einem ganz bestimmten Anderen her Gott, sich selbst und alles Übrige zu verstehen und zu denken lernt.

Warum? Weil denken heißt, etwas als etwas zu denken, also das, was man denkt, von sich durch Zeichen in bestimmter Weise zu distanzieren. Gott zu denken, heißt demgegenüber, das zu denken, was man nicht von sich distanzieren kann, weil es einem näher ist als man sich selbst. Um Gott zu denken, muss man sich also von dem distanzieren, von dem man sich nicht distanzieren kann.

Wie soll das gehen? Das ist die Pointe der dritten These: So, dass man Gott anhand eines Dritten denkt, das von einem selbst und von Gott so verschieden ist, dass deutlich wird, wie nahe Gott einem ist und auf welche Weise Gott einem nahe ist. Wie unbestimmt auch immer Gott für uns sein mag, wenn wir ihn von diesem Dritten her denken, wird seine Unbestimmtheit für uns eine bestimmte Unbestimmtheit, und zugleich wird unserer eigenen Bestimmtheit dadurch eine Unbestimmtheit eingeschrieben, die uns in Bewegung hält – weg von uns selbst und hin auf andere in der Öffnung für Gott. Unbestimmtheit lähmt, wo man bei ihr stehen bleibt. Aber sie wird produktiv, wo sie bestimmt wird – also nicht beseitigt, sondern im Bezug auf ein Drittes so loziert wird, dass sie zu reden und zu denken gibt.

Christliche Theologie denkt diese produktive Dialektik von Nähe und Distanz, Bestimmtheit und Offenheit im Blick auf Gott und uns Menschen anhand von Jesus Christus und damit in der Chris­tologie. Im engeren Sinn ist diese die Entfaltung des Christusbekenntnisses, im weiteren Sinn dagegen ist christliche Theologie insgesamt Christologie. Denn das Christusbekenntnis (die Kurzformel des rechten Glaubens an Gott) ist die andere Seite des Liebesgebots (die Kurzformel des rechten Lebens vor Gott) und umgekehrt. Das erste fasst Gottes Zuwendung zu den Menschen in ihrer natürlichen Gottlosigkeit und Nichtbeachtung Gottes in den Blick, das zweite deren altes und neues Leben im Licht der Zuwendung Gottes, die sich nicht beachten lässt, ohne bestimmte Unterscheidungen im Verständnis von Gott, Mensch und Welt zu machen. Christliche Theologie ist der nie ans Ende gekommene Versuch, die Voraussetzungen, den Gehalt und die Folgen dieses komple-xen Geschehens- und Orientierungszusammenhangs kritisch zu durchdenken, also deutlich zu machen, wie Gott, Mensch und alles Übrige im Licht von Schöpfung, Erlösung und Vollendung zu verstehen bzw. nicht zu verstehen sind, wenn man in rechter Weise als Geschöpf unter Geschöpfen und Mensch unter Menschen vor Gott leben will.

Gerade in der Christologie zeigt sich, dass christliche Theologie keine partikularreligiöse Verengung, sondern eine prinzipielle Öffnung des theologischen Denkens ist (es geht um Gott und nicht um einen christlichen Gott im Unterschied zu anderen Gottheiten). Und es zeigt sich auch, dass die Pointe christlicher Theologie nicht theoretisch, sondern praktisch ist (es geht nicht um die Kohärenz eines Gedankengebildes, sondern darum zu er­kunden, was es heißt, heißen könnte und heißen sollte, in der Orientierung an Gottes Zuwendung und Zusage zusammen mit anderen in dieser Welt zu leben). Damit bin ich beim Thema der Vorlesung dieses Semesters und kann mit meinen abschließenden Überlegungen beginnen.

II Bestimmen des Unbedingten


1 Das Bestimmtheitsgebot


Im schweizerischen Privat-, Arbeits- oder Sachenrecht gibt es das Spezialitätsprinzip3, im deutschen Recht das grundgesetzlich verankerte Bestimmtheitsgebot. Als eine Folge des Rechtsstaatsprinzips von Art. 20 GG besagt es, dass Gesetze der Legislative, normative Regelungen der Exekutive und rechtliche Entscheidungen der Judikative so genau formuliert sein müssen, dass für alle Betroffenen eindeutig erkennbar ist, was sie festlegen, wozu sie verpflichten, was sie erlauben oder was sie verbieten. Eine rechtliche Norm, ein Erlass oder ein Gerichtsurteil, die alles Mögliche meinen können, sind nicht nur theoretisch unzulänglich und praktisch un­brauchbar, sondern verfassungswidrig. Das gilt vor allem dort, wo – wie im Strafrecht – in die Rechte von Einzelnen eingegriffen wird. Die Betroffenen müssen wissen können, worum es geht, was sie tun und lassen dürfen und was nicht. Und deshalb muss auf Bestimmtheit bestanden werden.

Was dem Recht recht ist, sollte der Theologie billig sein. Als kritische Erkundung und denkende Verantwortung des in konfessioneller Vielfalt gelebten christlichen Glaubens ist christliche Theologie verpflichtet, auf bestimmte Weise zu reden. Sie ist dazu von ihrem Gegenstand her verpflichtet, sie ist es aus Verantwortung für diejenigen, die sie ausbildet, und sie ist es aus Schuldigkeit gegenüber der Öffentlichkeit, in der sie wirkt. Es muss für alle in hinreichender Weise erkennbar sein, was sie aus welchen Gründen wo­-rüber sagt, wofür sie eintritt und wogegen sie sich wendet, was ihre Grundlagen, Kriterien und Ziele sind. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber das ist es leider nicht. Gelegentlich hat man den Eindruck, es werde alles getan, um nicht als das erkennbar zu sein, was man vielleicht sein will, aber nicht zu sein wagt: katholische, reformierte, lutherische, kurz: christliche Theologie. Einst hieß es: »Der Sonntag ist zum Studium der Bibel da«. Dann gab man sich bildungsbürgerlich: »Der Sonntag ist zum Studium da«. Und heute gilt nur noch »Der Sonntag ist da – let’s party«. In der Theologie ist es nicht viel anders. Einst dachte man über den Gott nach, den Jesus »Vater« nannte. Dann dachte man über Gott nach. Und heute ist man froh, wenn überhaupt nachgedacht wird. Bestimmtheitsabbau ist also keineswegs nur Freiheitsgewinn, sondern immer auch Orientierungsverlust. Und manchmal ist dieser Verlust das Einzige, was man gewinnt.

2 Bestimmbares, Unbestimmbares und Andersbestimmbares


Nun kann man bestimmt nur reden, wenn das, wovon man redet, bestimmbar ist. Und man kann auch nichts bestimmen, ohne das Bestimmte nicht nur vom Unbestimmten, sondern auch vom Unbestimmbaren zu unterscheiden. Stets sind also zwei Differenzen im Spiel: die zwischen Bestimmbarem und Unbestimmbarem im Horizont des Möglichen, und die zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem im Horizont des Wirklichen. Alles Unbestimmte ist dementsprechend mehrdeutig, weil offen bleibt, ob es Unbestimmbares, noch nicht Bestimmtes oder So-oder-anders-Bestimm­bares ist.

Auch für die Theologie lässt sich damit so etwas wie ein Be­stimmtheitsgebot formulieren: Nur wo Bestimmtes gedacht wird, wird überhaupt gedacht, und Bestimmtes wird nur gedacht, wo im Horizont des Möglichen Bestimmbares vom Unbestimmbaren un­terschieden wird und im Horizont des Wirklichen Bestimmtes vom Unbestimmten oder Andersbestimmten. Das erste ist die Aufgabe der Religionsphilosophie (Erkunden des Möglichen), das zweite die Aufgabe der systematischen Theologie (Verstehen von Wirklichem). Beides gehört zusammen und für beides war ich in den vergangenen 18 Jahren in Zürich verantwortlich.

3 Unterscheiden


Die genannten Unterscheidungen sind nicht so harmlos, wie sie klingen mögen. Unterscheiden ist eine schöpferische, eine kreative Tätigkeit. Sie ist damit immer auch Ausübung von Macht, Gestaltungsmacht und Deutungsmacht. Wer unterscheidet, entscheidet darüber, was man sieht, worauf man achten sollte und was man vernachlässigen kann, und wer andere dazu bringt, seinen Unterscheidungen zu folgen, gewinnt nicht äußeren Einfluss über sie, sondern – und das ist viel wirkungsvoller und gefährlicher – prägt ihr Sehen, Verstehen, Empfinden und Denken von innen.

Nicht dass das geschieht, ist verwerflich. So bauen sich Kulturen und Traditionen auf und werden Einsichten und Errungenschaften bewahrt und von Generation zu Generation weitergegeben. Fragwürdig wird das, wenn es dogmatistisch und ideologisch geschieht und nicht (selbst-)kritisch kontrolliert wird, wenn man also schon weiß, was man von Gott sagen oder nicht sagen kann, oder dass sich von Gott überhaupt nichts Sinnvolles sagen lässt, ehe man genau hinschaut und hinhört, wie in einer bestimmten Praxis oder Tradition unterschieden wird und was das besagt. Nicht das Unterscheiden ist problematisch, sondern wie man es praktiziert und wie man mit den gesetzten Unterschieden umgeht. Unterscheidungen, die Bestimmtheit erzeugen, diskriminieren, aber sie sind nicht per se diskriminierend.

Das wird nicht immer recht verstanden. Jan Assmanns4 be­-kannte These, der exklusive Wahrheitsanspruch monotheistischer Religionen (Du sollst keine anderen Götter neben mir haben), der sich der Idee eines rechtsetzenden Gottes verdanke, sei mit der Un­terscheidung von rechtem und falschem Glauben, Rechtgläubigen und Heiden eine Hauptursache für religiöse Gewalt auch in unserer Zeit, ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Zum einen eröffnen diese Unterscheidungen ja gerade den Spielraum der Unbestimmtheit, der eigenes Verstehen und Selbstverstehen notwendig und jeden dogmatistischen Gebrauch religiöser Überzeugungen unmöglich macht. Zum andern wird den monotheis­tischen Religionen die Rechtfertigungskarte für religiöse Gewalt zugespielt. Doch deren gegenwärtige Exzesse sind nicht diesen Unterscheidungen als solchen geschuldet – die gelten ja auch dort, wo in diesen Traditionen das Gegenteil von Gewalt praktiziert wird, und das ist weit überwiegend der Fall. Wo alle Religion als Bestimmungsmoment des Lebens aus der Öffentlichkeit verdrängt wird, ist es wenig verwunderlich, dass sie sich als Faktor von Identitätspolitik und damit als politisches Phänomen umso vehementer zurückmeldet.

Will man die gegenwärtigen Gewaltexzesse verstehen, genügt es nicht, allein auf die Religionen zu schauen, sondern man wird das intolerante Verachtungspotential der westlichen Moderne allem Anderen, Fremden und Nichtvertrauten gegenüber nicht ausblenden dürfen. Trotz gegenteiliger Rhetorik begegnen die Protago­nisten westlicher Lebensweisen im Bewusstsein ihrer guten Sache anderen Kulturen und Traditionen immer wieder mit einer oft kaum erträglichen Mischung aus Missachtung, Herablassung, Besserwissen, Hochmut und Selbstgefälligkeit. Das wird von vielen als Überformung, Zerstörung, Entrechtung, Nichtanerkennung und Identitätsverlust erlebt, und manche reagieren darauf mit Gewalt. Die ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber so wenig der Islam mit dem Islamismus oder das Christentum mit den Kreuzzügen gleichzusetzen sind, so wenig ist das Setzen von Unterscheidungen als solches das Problem, auch nicht das von dualen Unterscheidungen, sondern das, was aus und mit ihnen gemacht wird und wie sie gebraucht werden. Dieses Problem aber ist keineswegs auf monotheistische Religionen oder auch nur auf Religionen beschränkt, sondern findet sich ebenso in politischen Bewegun-gen, ökonomischen Schulen, pädagogischen Programmen, ökologischen Überzeugungen oder sozialutopischen Ideologien, in de­nen die Überzeugung von der absoluten Richtigkeit der eigenen Sicht und Sache rigoros und unkritisch zur Leitlinie des Handelns und Urteilens wird. Das Problem ist nicht, dass unterschieden wird, sondern welche Unterschiede wie gemacht werden, wie man damit umgeht und wie man das, was man für richtig hält, anderen gegenüber zum Ausdruck und zur Geltung bringt. Auch die monotheistische Grundunterscheidung zwischen Gott und Idol muss nicht als rechtsförmige Gewaltandrohung (Du sollst keine anderen Götter haben, sonst …), sondern kann auch als befreiende Entlas­tung verstanden und vertreten werden: Du brauchst gar keine anderen Götter. Einer ist mehr als genug, wenn man sich bedingungslos auf ihn verlassen kann. Weil das zu können jedem Leben gut tut, ist einer allemal besser als keiner. Aber das kann nur selbst eingesehen und nicht erzwungen werden. Und deshalb kann es niemandem gegenüber als absolute Forderung und göttliches Ge­bot, sondern nur als unbedingte Möglichkeit und göttliches Angebot vertreten werden.

4 Nichttheologische und theologische Bestimmtheit


Unterscheidungsbasierte Bestimmtheit ist kein Makel, auch nicht in der Theologie. Ohne sie gibt es nichts, was der Rede wert wäre. Theologisch der Rede wert aber ist nur das, dessen Bestimmtheit im Theologischen und nicht nur im Nichttheologischen gesucht wird. Man mag ein noch so guter Philologe, Historiker, Philosoph oder Psychologe sein, aber damit allein und mit all dem zusammen ist man noch kein Theologe und auch keine Theologin. Erst wo man all das und noch manches andere deshalb ist, weil man das Unbedingte zu verstehen sucht, das in der Praxis des Glaubens »Gott« genannt wird, ist man auf dem Weg zur Theologie. Theologie beschäftigt sich zwar immer auch mit Texten, Gedanken, vergangenen und gegenwärtigen Überzeugungen, Irrtümern und Einsichten, mit Geschichte und Geschichten, Historie und Empirie, und das muss man kompetent und kundig tun. Aber anhand dieser bedingten Mittel will sie den Glauben an Gott verstehen, also nicht nur das, was Menschen, die glauben, tun oder erleiden bzw. getan und erlitten haben (das ist eine empirische und historische Frage), sondern das, was der Fall wäre, wenn wahr wäre, was sie glauben (das ist die theologische Frage). Im ersten Sinn ist alles Glauben historisch und empirisch bedingt, also ein geschichtliches Phänomen. Im zweiten Sinn richtet sich der Glaube auf den, dem er sich verdankt, versteht sich also in seiner geschichtlichen Bedingtheit ganz durch den bedingt, auf den er sich als Unbedingtes richtet. Wird menschliches Glauben im ersten Sinn nicht im Licht des Glaubens im zweiten Sinn betrachtet, bleibt es ein flaches Phänomen, an dem sich theologisch wenig zeigt. Wird es dagegen so betrachtet, kommt es als zweifach Bedingtes in den Blick, also nicht nur als Phänomen im Bedingungszusammenhang von Natur und Geschichte, sondern als Ort, an dem Bedingtes transparent für Unbedingtes wird. Was heißt das?

5 Unbedingtes als Grenzbegriff, Bestimmungsbegriff

und Orientierungsbegriff


Man kann den Differenzzusammenhang von Bedingtem und Un­bedingtem auf drei Wegen thematisieren: vom Bedingten aus, vom Unbedingten her, oder vom Unterscheiden zwischen Bedingtem und Unbedingtem aus.
Auf dem ersten Weg markiert das Unbedingte keine besondere Wirklichkeit jenseits des Bedingten, sondern nur die Grenze des Bedingten, das stets durch etwas bedingt ist, das seinerseits be­dingt ist. Das principium rationis sufficientis in der Philosophie und das Kausalitätsprinzip in der Wissenschaft sind Versionen dieser Einsicht. Mit der Voraussetzung einer solchen Bedingtheit alles Bedingenden arbeiten alle Wissenschaften, und deshalb überschreiten sie an keinem Punkt den Zusammenhang von Bedingtem und Bedingendem.
2) Das ist anders, wenn man Bedingtes vom Unbedingten her denkt. Der ganze Zusammenhang von Bedingtem und Bedingendem wird dann vom Unbedingten unterschieden. Wird das im Schema von Bedingtem und Bedingendem gedacht, dann wird es verfehlt. Wird es dagegen so gedacht, dass gefragt wird, für wen es Unbedingtes ist, dann führt das in eine aporetische Paradoxie: »Metaphysik als der Versuch, das Absolute zu denken, stößt auf das Problem, dass wir das Absolute nur durch das andere denken können, für welches es das Absolute ist. Wenn das Absolute als Prinzip zu verstehen ist, wie können wir es dann als das Absolute denken? Wie kann es sowohl Prinzip für […] als auch absolut sein?«5 Wird das Unbedingte nicht als Grenzbegriff verstanden, dann wird es typischerweise entweder metaphysisch als Bestimmungsbegriff einer Wirklichkeit jenseits des Bedingten gedacht oder kritisch als Differenzbestimmung dessen, was sich als Rück­seite des Bedingten, am Bedingten und mit dem Bedingten zeigt, ohne als solches selbst in Erscheinung zu treten. Auch hier er­schließt sich Unbedingtes nur am Bedingten, von dem es sich unterscheidet. Aber dieses wird damit als etwas bestimmt, das über sich hinaus nicht nur auf anderes Bedingtes, sondern auf das Unbedingte verweist, dem sich das Bedingte wie das es Bedingende verdanken: Ohne das Unbedingte käme der Zusammenhang von Bedingtem und Bedingendem nicht als Bestimmungszusammenhang des Bedingten in den Blick.

Wo Bedingtes so zum Medium oder Ort der Erfahrung des Unbedingten wird, sieht man mehr in den Phänomenen, als sie von sich aus zeigen. Man versteht sie als Bedingtes, also als etwas, das durch etwas anderes bedingt ist, und man versteht dieses Bedingte als ein Medium für etwas anderes – für das Unbedingte. Wir können etwas nur als Bedingtes verstehen, wenn wir es als solches denken bzw. beurteilen, es also im Schema der Unterscheidung von Bedingtem und Bedingendem als Bedingtes bestimmen. Und wir können Bedingtes nur als Medium der Erfahrung des Unbedingten verstehen, wenn das, was wir als Bedingtes denken, in bestimmter Weise zum Ort oder Medium der Erfahrung des Unbedingten wird und sich so im Schema der Unterscheidung von Bedingtem und Unbedingtem verstehen lässt, sei es im metaphysischen oder im kritischen Sinn.
3) Weder die metaphysische noch die kritische Sicht des Unbedingten gibt es ohne Imaginationskraft. Phänomenal tritt der Un­terschied zwischen Bedingtem und Unbedingtem in der Welt nicht in Erscheinung, denn kein Ereignis in der Welt ist etwas Unbedingtes: Alle Ereignisse sind vielmehr bedingt, und wir können immer sinnvoll fragen, wodurch sie bedingt sind, wodurch sie also gerade das sind, was sie sind, und gerade so sind, wie sie sind – uns also auf wissenschaftliches Fragen beschränken.

Man verbleibt im Horizont solchen Fragens, wenn man die Differenz zwischen Bedingtem und Unbedingtem als eine Be­schreibungsunterscheidung verschiedener Arten von Wirklichkeit versteht (Physisches/Metaphysisches; Naturales/Supranaturales), Be­dingtes und Unbedingtes also nach dem Schema des Bedingten und Bedingenden aufeinander bezieht. Das Unbedingte ist dann das, was alles Bedingte bedingt, und das heißt nichts anderes, als dass man es als Bedingendes und eben nicht als Unbedingtes versteht. Was man metaphysisch gewonnen zu haben meint, wird im gleichen Zug wieder verspielt.

Weiter führt es, die Unterscheidung von Bedingtem und Unbedingtem nicht als Beschreibungsunterscheidung verschiedener Wirklichkeiten zu verstehen, sondern als eine Orientierungsunterscheidung, die eine bestimmte Einstellung zu den Phänomenen dieser Welt zum Ausdruck bringt. In wissenschaftlicher Einstellung verstehen wir sie als etwas Bedingtes, und in theologischer Einstellung dagegen verstehen wir das Bedingte – oder bestimmtes Be­dingtes – als Medium und Ort der Erfahrung des Unbedingten, also als etwas, dessen Signifikanz für uns sich nicht in dem er­schöpft, was sich wissenschaftlich darüber sagen lässt.

Phänomene sind nicht nur bedingt und damit erklärungsfähig und erklärungsbedürftig. Sie haben einen Sinn, sie sind etwas, das uns ärgert oder beglückt, sie begegnen uns als Herausforderungen oder als Chancen, die wir ergreifen oder verspielen können, sie sind das, was unsere Lebenswelt ausmacht. Diese ist mehr als die Ge­samtheit der Tatsachen, sie ist die Welt, in der wir zusammen mit anderen leben, und weil sie unsere einzige Lebenswelt ist, ist sie nicht nur der Gesamtzusammenhang des Bedingten, sondern auch der Ort der Erfahrung des Unbedingten – dessen, was uns unbedingt angeht, wie Tillich sagte, der Ort unbedingten Sinns, absoluter Betroffenheit, völliger Klarheit, abgrundtiefer Bosheit, atemberaubender Schönheit, himmelschreiender Dummheit, un­erwarteter Enttäuschungen, großer und kleiner Glücksmomente. Wir leben in dieser Welt, und dieses Leben ist lebenswert gerade deshalb, weil unsere Welt immer wieder zum Ort der Erfahrung des Unbedingten wird.

Um diese Lebenswelt geht es, wenn theologisch von Gott ge­sprochen wird. Gott interessiert hier nicht als Letztprinzip wissenschaftlicher Welterklärung, sondern existentiell als der, der das Leben trotz all seiner Schattenseiten und Ungereimtheiten unbedingt lebenswert macht. Über Gott kann man sich ärgern oder man kann ihm danken, man kann ihn anklagen und man kann ihn bitten, man kann auf ihn hoffen oder von ihm enttäuscht sein – und all das sind Verhaltensweisen, die gegenüber einem Erst- und Letztprinzip der Welterklärung ganz unpassend sind.

Allerdings springt Gott einem auch in der Lebenswelt nicht in die Augen. Er ist nichts, was in der Kette des Bedingten in Erscheinung träte, auch nicht am Anfang oder Ende dieser Kette, wenn es so etwas überhaupt gäbe. Kommt Gott ins Spiel, wird kein weiteres Bedingtes oder Bedingendes hinzugefügt, sondern der genannt, durch den Bedingtes zum Ort der Erfahrung des Unbedingten wird. Die Welt des Bedingten wird damit nicht erweitert oder verkürzt. Es ist die gleiche Welt. Aber sie ist anders geworden, weil man sich und damit auch sie auf bestimmte Weise anders versteht als zuvor. Man sieht alles, was man vorher auch sah, aber man sieht es anders, weil sich mehr in allem zeigt als das, was jeweils vor Augen liegt.

Wo Gott ins Spiel kommt, fällt der Blick also nicht auf Gott als ein bisher übersehenes Moment unserer Erfahrungswelt, sondern von Gott her auf alles andere. Deshalb kann man Gott nicht sehen, sondern nur denken. Aber – und das ist die Pointe meiner zweiten These –: Man denkt nicht Gott, wenn man nicht sich und alles andere in bestimmter Weise anders versteht als zuvor.

III Schwierigkeiten, Gott zu denken


1 Endlichkeit vs. Sünde


Theologen und Theologinnen sollen Bestimmtes denken. Aber das Bestimmte, das sie zu denken versuchen, ist das Unbedingte, das sie nicht bestimmen können. Sie sollen also etwas denken, was sie nicht denken können. Wie soll das gehen? Können sie es nicht denken, weil das Unbedingte nur ein Hirngespinst ist (wie man oft hört), oder können sie es nicht denken, weil sie nicht in der Lage sind, es recht zu denken, obgleich es eigentlich möglich wäre, das zu tun (wie die theologische Tradition unter dem Stichwort der Sünde be­denkt)? Ist das Geschäft der Theologie so schwierig, weil wir endlich sind, Gott aber unendlich ist (wie ein gewichtiger Strang der metaphysischen Tradition behauptet) oder weil wir so verblendet sind, dass wir das Unbedingte am Bedingten und das Unendliche am Endlichen nicht wahrzunehmen vermögen (wie ein bedenkenswerter Einwand der Theologie lautet)? Beides ist in Rechnung zu stellen, wenn wir Gott zu denken versuchen. Theologisch geht es nicht um die Bestimmung Gottes, sondern um die des Gottesgedankens, und keiner unserer Gottesgedanken ist mit Gott identisch.

2 Gottesgedanke vs. Gott


Das folgt aus der Natur des Denkens. Wir denken nicht Sachen, sondern wir denken etwas in und durch Zeichen, wir denken nicht Gott, sondern Gottesgedanken. Eben deshalb begleitet all unser Denken eine Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem, das, womit und wodurch wir denken (Zeichen), und das, was wir damit oder dadurch zu denken versuchen (Sache).

Es folgt aus der Natur des Zeichens, dass alle Zeichen (Bezeichnendes) auch Sachen (Bezeichnetes) sein können. Ob umgekehrt alle Sachen auch als Zeichen zu verstehen sind, wie Augustinus und Peirce aus unterschiedlichen Gründen meinten, ist damit noch nicht gesagt. Die Intelligibilität der Welt ist zwar in jedem Akt des Verstehens von etwas als etwas vorausgesetzt, aber das heißt nicht, dass die Welt selbst ein Zeichenprozess ist, sondern nur, dass sie in Zeichenprozessen für Verstehensfähige erschlossen werden kann (Die Welt lässt sich verstehen), auch wenn sie stets mehr ist als das, was sich in Zeichenprozessen für Verstehensfähige erschließen lässt (Die Welt ist mehr, als verstanden werden kann). Die Welt ist für uns verständlich, sie kann von uns auch immer besser verstanden werden, sie ist aber auch immer mehr, als wir verstanden haben oder verstehen können. Wir leben in einer Sinnwelt, dieser Sinn kann sich verflüchtigen oder lässt sich vertiefen, aber wir werden diesen Sinn nie so verstanden oder nicht verstanden haben, dass man die Welt nicht noch besser oder noch weniger verstehen könnte.

Die Frage nach der Bestimmung des Gottesgedankens ist daher stets eine Frage nach der Bestimmung eines Zeichens bzw. Zeichenkomplexes unter und neben anderen, und zwar gerade deshalb, weil das Zeichen »Gott« in verschiedenen Zusammenhängen auf ganz verschiedene Weise gebraucht wird: in der Praxis des Glaubens anders als in der Theologie, in dieser Religionspraxis anders als in jener, in der Philosophie anders als in der Theologie, und in dieser Theologie und dieser Philosophie anders als in anderen. Gebraucht wird allerdings stets ein Zeichen »Gott« (oder eines seiner vielen Äquivalente), und kein Zeichen kommt allein. Jedes Zeichen steht vielmehr im Kontext anderer Zeichen und ist dadurch be­stimmt, dass es von diesen unterschieden ist. Wollen wir daher das Zeichen »Gott« bestimmen, müssen wir es von anderem, idealerweise von allem anderen, unterscheiden.

3 Vollbestimmtheit vs. Weiterbestimmbarkeit


Vollbestimmtheit ist unter diesen Bedingungen nur zu erreichen, wenn uns die Gesamtheit aller Zeichen verfügbar wäre. Wo es nur drei Zeichen gibt, kann man jedes durch die Negation der beiden anderen bestimmen.

Aber so ist es im wirklichen Leben nicht. Unsere Zeichenreper­toires sind potentiell unendlich und ermöglichen potentiell un­­-endliche viele Zeichenakte. Unsere Bestimmungen reichen deshalb immer nur ein Stück weit und sind offen für Fortbestimmung, Revision und Korrektur. Nur vom Gesichtspunkt des Ganzen wäre jeder Teil ganz bestimmbar, und nur im Horizont von allem wäre jedes Einzelne voll bestimmbar. Dieser Gesichtspunkt aber steht uns nicht zur Verfügung, wie nicht nur Leibniz wusste, und deshalb können unsere Bestimmungen immer nur infinitesimale Annäherungen an die Vollbestimmung sein, diese aber niemals erreichen.

4 Mehr sehen als sich zeigt


Leibniz zog daraus die richtige Konsequenz, dass nur Gott alles so kennt, wie es in Wahrheit ist, während wir es immer nur näherungsweise kennen können, eben so, wie es sich uns zeigt, und das ist immer weniger als das, was es in Wahrheit ist.

Nehmen wir an, wir unterteilen den Umfang eines Kreises in immer kleinere Stücke. Wir werden auf diesem Weg nicht zu den mathematischen Punkten gelangen, die alle auf einer Ebene in gleichem Abstand von einem Punkt auf dieser Ebene liegend den Kreis definieren, denn mathematische Punkte sieht man nicht und man generiert sie nicht durch Unterteilen einer Linie. Wir erhalten vielmehr Kreiselemente, die nahezu gleich aussehen. Aber eben nur nahezu. Jedes weist eine minimale Differenz zu allen anderen Elementen auf, und jedes Element dieses Kreises ist von entsprechenden Elementen anderer Kreise dadurch unterschieden, dass es eben zu diesem Kreis und nicht zu jenen Kreisen gehört.

Dem einzelnen Element als solchem sieht man das nicht an. Aber betrachtet man es im Licht des Kreises, dessen Stück es ist, oder des Ganzen, zu dem er gehört (Teil/Ganzes), oder des Standpunkts, in dessen Horizont es voll bestimmt (also von allem anderen un­-terschieden) ist (Horizont/Standpunkt), dann »sieht« man, dass es mehr ist, als es von sich aus zeigt. Dann »ist« es das, wozu es gehört, woraufhin es angelegt oder von dem her es gewonnen ist. Dann ist im Element der Bezug auf das Ganze, dessen Teilstück es ist, mitgesetzt.

Unser analytischer Blick ist daher in wichtiger Hinsicht blind. Er sieht etwas, aber nicht, dass dies ein Element von etwas Umfassenderem ist, und deshalb erfasst er auch nicht den (im weiten Sinn verstandenen) conatus des betrachteten Elements, also sein Daraufhinangelegtsein, gerade ein Element dieses und keines anderen Kreises zu sein. Wir gewinnen die Elemente analytisch durch Zerlegen eines Kreisumfangs in immer kleinere Abschnitte. Aber diese zeigen nicht mehr, dass sie Elemente dieses und keines anderen Kreises sind. Der analytische Gewinn an elementarer Gleichheit ist erkauft um den Preis der Blindheit dafür, dass diese Elemente zu einem ganz bestimmten und keinem anderen Ganzen gehören. Um das sehen zu können, braucht man eine Vision des Ganzen bzw. des Horizonts, in dem die entsprechenden Elemente be­stimmt sind. Denn ihre Bestimmtheit lässt sich nicht an ihnen als solchem ablesen, sondern »zeigt« sich erst in diesem Horizont.

5 Grenzen der Analyse


Überträgt man diese Überlegung vom Beispiel des Kreises auf anderes, ja auf alles andere, das wir zu bestimmen suchen, dann zeigt sich ein Grundproblem aller analytischen Verfahren im Sinnzusammenhang des Lebens: Sie führen nur scheinbar auf austauschbare Elemente, die sich beliebig synthetisieren lassen, weil sie ausblenden, zu welchem Ganzen ein jeweiliges Element gehört. In der Welt des Sinns gibt es keine Elemente als solche, sondern immer nur Elemente von etwas. Und mit der Bestimmung dieses Etwas und damit des in Frage stehenden Ganzen entscheidet sich auch, welche Bestimmtheit ein Element davon hat.

Wer das Ganze als Gesamtheit der empirischen Phänomene versteht, wird die jeweils betrachteten Phänomene auch nur empirisch bestimmen. Wer das Ganze als Natur und Kultur bestimmt, wird zu reicheren Bestimmungen historischer und sozialer Phänomene vorstoßen können. Wer dabei auch seinen eigenen Standpunkt bedenkt, weil man seinen eigenen blinden Fleck nicht sehen, sondern nur reflexiv thematisieren kann, wird das Ganze als Horizont des seiner selbst bewussten Lebens bestimmen. Wer es als Welt bestimmt, wird auch nur weltliche Bestimmtheiten erheben können. Und wer es als Schöpfung versteht, wird nichts in diesem Horizont bestimmen können, ohne auch vom Schöpfer zu reden.

Nicht die Phänomene als solche also geben Auskunft über das, was sie in Wahrheit sind, sondern was jeweils ein Phänomen ist und was ein Phänomen jeweils ist, zeigt sich erst in dem jeweiligen Ganzheitshorizont, von dem wir bei der Bestimmung des Phänomens ausgehen.

6 Plurale Horizonte, Eigensicht und Fremdsicht


Nun gibt es nicht nur einen solchen Ganzheitshorizont. Es treten auch nicht in jedem Horizont dieselben Phänomene in den Blick, nur auf unterschiedliche Weise. Nicht alles lässt sich von überall her sehen, auch wenn sich vieles nicht nur auf eine Weise bestimmen lässt.

Einen wirklich universalen Horizont, in dem alles von überall her bestimmbar ist, gibt es für uns nicht. Wir können nicht gleichzeitig alles und den blinden Fleck unseres eigenen Standpunkts in den Blick fassen. Wir können noch nicht einmal unser eigenes Leben gleichzeitig in autobiographischer Perspektive (also von un­serem eigenen Standpunkt aus) und in biographischer Perspektive (also vom Standpunkt eines anderen her) sehen. Was andere im Blick auf den Anfang und das Ende unseres Lebens sagen können, ist uns selbst verschlossen: »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht«, wie Wittgenstein (und ähnlich schon Epikur) sagte.6 Und umgekehrt ist das, wie wir unser Leben erleben, anderen unzugänglich, wenn wir es ihnen nicht kommunizieren.

Ein solcher doppelt paradoxer Blick, der mit allem anderen auch sich selbst sieht (1. Paradoxie), und zwar nicht nur vom eigenen Standpunkt aus, sondern zugleich von dem eines jeden anderen (2. Paradoxie), kommt keinem von uns zu, sondern allenfalls Gott.

Auch deshalb ist Gott für die Wissenschaften kein Thema. Gott fügt sich nicht der Logik des Hier oder Dort, des Vorher oder Nachher, des Oben oder Unten, des Ich oder des Anderen. Kommt Gott überhaupt ins Spiel, dann nie nur an einer, sondern an allen Stellen unserer Orientierungsschemata. Gott lässt sich weder auf die Position des Objekts noch auf die des Subjekts verrechnen, sondern ist beiden gegenüber ein Drittes, ohne das jene noch nicht einmal sein könnten.

7 Gottes Horizont


Auch wenn Gott damit überall unthematisch im Spiel ist, wo überhaupt etwas ist und sein kann, lässt Gott sich nicht in jedem Horizont sinnvoll thematisieren, schon gar nicht im Erklärungshorizont der Wissenschaften. Gott ist weder ein Phänomen noch die Erklärung von Phänomenen, er ist nichts, was man mit den Mitteln der Wissenschaft erklären könnte, weil Gottes Gegenwart keine Differenz in unserer Erfahrungswelt setzt (dieses vs. jenes), sondern allenfalls den Unterschied markiert zwischen dem, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts (Sein vs. Nichtsein). Von Gott kann vielmehr sinnvoll nur dort die Rede sein, wo Gott mit dem Bestimmungshorizont schon gesetzt ist als der Bezugspunkt und damit der blind spot dieses Horizonts. Nur von diesem Be­-zugspunkt des Gotteshorizonts und damit vom Standpunkt Gottes aus lässt sich wirklich Gott und nicht nur etwas anderes als Gott bestimmen. Gott kommt für uns nicht in den Blick, weil er der Ort ist, von dem aus alles gesehen wird, aber Gott ist niemals eines der Phänomene, das sich von dort aus sehen lässt. Nur in Gott und von Gott her lässt Gott sich als der denken und verstehen, für den und durch den alles so bestimmt ist, wie es ist, weil es so ist, wie Gott es bestimmt. Es gibt nichts Mögliches und Wirkliches, das sich nicht im Horizont Gottes befände, aber Gott selbst ist nichts Mögliches oder Wirkliches in diesem Horizont. Gott ist der Schöpfer der Schöpfung, aber nicht sein eigenes Geschöpf. Wer Schöpfung sagt, setzt den Schöpfer mit. Der Schluss von der Schöpfung auf den Schöpfer ist daher ein Akt analytischer Klärung, aber kein synthetischer Erkenntnisgewinn. Aber wie lässt sich die Welt als Schöpfung verstehen? Und wie wird der Gottesgedanke damit bestimmt?

Die entscheidende Herausforderung einer auf Bestimmtheit bedachten Theologie ist nicht der Aufweis des Daseins Gottes aus den Phänomenen bzw. dem Dasein der Welt (Gottesbeweise), sondern die Entfaltung der Bestimmtheit der Welt als erlösungsbedürftige und erlösungsfähige Schöpfung. Der Gottesgedanke wird darin mitbestimmt als der Gedanke dessen, für den alles andere in dieser Weise bestimmt ist, weil es nicht wäre, ohne Gottes Beziehung zu ihm, und nicht das wäre, was es ist, ohne die Art und Weise von Gottes Beziehung zu ihm. Ebendas entfaltet die Theologie, indem sie Gott als Schöpfer, Erlöser und Vollender bestimmt. Der Gottesgedanke wird theologisch also nicht direkt und an sich be­stimmt, sondern indirekt so, dass seine Unbestimmtheit im Bezug auf das Andere Gottes in bestimmter Weise loziert und damit als bestimmte Unbestimmtheit bestimmt wird – als Unbestimmtheit quoad nos, aber nicht per se, und als bestimmte Unbestimmtheit, weil sie nur in dieser bestimmten Lozierung als Unbestimmtheit dessen in den Blick kommt, der Gott-für-uns ist, indem er sich selbst frei (also ungezwungen) dazu bestimmt und sich so frei selbst (anhand von bestimmtem anderem, aber nicht durch dieses als solches) für uns er­schließt. Weder jene Unbestimmtheit noch diese Bestimmtheit verstehen sich von selbst. Beide sind genauer zu erhellen.

IV Gott bestimmt denken


Bestimmtheit lässt sich auf verschiedene Weise erzeugen. Man kann den Gegenstand bestimmen, den man denken will (Gegenstandsbestimmung); oder die Methode, mit der man denken will (Verfahrensbestimmung), oder den Standpunkt und Horizont, von dem aus und in dem man denken will (hermeneutische Bestimmung). Im ersten Fall wird gefragt, wer und was Gott ist und ob es so etwas wirklich gibt (theistisches Denkprojekt); im zweiten, wie man denken muss, um Gott denken zu können (transzendentales Denkprojekt); im dritten, wo und wie man es mit dem zu tun be­kommt, den Christen »Gott« nennen (trinitarisches Denkprojekt). Diese Verfahren schließen sich nicht aus, sondern lassen sich kombinieren. Aber sie führen zu verschiedenen Resultaten. Das zeigen auch die Versuche, den Gottesgedanken zu bestimmen.

1 Das theistische Denkprojekt


Bis in die Gegenwart wird Gott immer wieder als Wesen einer be­sonderen Art verstanden – affirmativ im Theismus oder im Modus der Bestreitung im Atheismus. Beide sind sich darin einig, dass es im Blick auf Gott darum geht, das, was man mit dem Zeichen »Gott« meint, kohärent zu bestimmen (Was ist Gott?) und zu prüfen, ob es das gibt oder nicht gibt (Existiert Gott?). Deshalb sucht man das mit »Gott« Gemeinte von allem anderen zu unterscheiden: Gott ist das nicht, was anderes ist ( via negativa). Gott ist das vollkommen, was anderes nur unvollkommen ist (via eminentiae). Gott ist der, ohne den es nichts anderes gäbe (via causalitatis). Mit Hilfe der Beschreibungsmittel von Nichtgöttlichem wird das mit dem Zeichen »Gott« Gemeinte also nicht nur von allem unterschieden, sondern zugleich in bestimmter Weise zu allem in Beziehung gesetzt: Gott ist der Grund ihres Daseins (nichts existiert ohne Gott) und die Vollkommenheit alles Guten in ihrem Sosein (nichts ist gut, es sei denn durch Gott). Während der Theismus behauptet, dass es ein solches Wesen geben müsse oder doch sehr wahrscheinlich gebe, sei es, weil es gar nicht nicht sein könne (unbedingte Notwendigkeit: ontologischer Gottesbeweis), sei es, weil es sein müsse, wenn es überhaupt etwas Wirkliches und Mögliches geben können soll (bedingte Notwendigkeit: kosmologischer Gottesbeweis), be­streitet der Atheismus, dass es ein solches Wesen gibt oder geben kann, sei es, weil der Begriff eines solchen Wesens in sich selbst widersprüchlich sei (Beweis der Unmöglichkeit Gottes), sei es, weil nicht gezeigt werden könne, dass es ein solches Wesen, selbst wenn es möglich wäre, tatsächlich auch gibt (Beweis der Nichtbeweisbarkeit der Wirklichkeit Gottes).

2 Das transzendentale Denkprojekt


Beide sind auf dem Holzweg. Gegen diese gegenstandsorientierte theistische Tradition der Bestimmung des Gottesgedankens durch Konstruktion eines kohärenten Gottesbegriffs und den Versuch, die Existenz eines so konstruierten Wesens zu beweisen, hat Kant grundlegende Einwände erhoben. Nicht was Gott ist und ob das, was wir uns als Gott denken, tatsächlich existiert, sind die entscheidenden Fragen, sondern was es heißt, einen Gott zu haben.

Diese Frage lässt sich nicht in zwei Fragen zerlegen: Gibt es Gott?, und: Was heißt es, diesen Gott zu haben? Vielmehr ist die Pointe dieser Frage gerade die, dass Gottes Sein die Art und Weise des Habens Gottes ist: Mit »Gott« ist nicht nur alles gemeint, was Menschen faktisch verehren (funktionales Gottesverständnis), sondern der, der in bestimmter Weise zu verehren ist, weil er sich in bestimmter Weise verehrungswürdig macht, indem er es Menschen ermöglicht, Gott auf bestimmte Weise haben zu können und zu wollen (normatives Gottesverständnis).

So hatte schon Luther die theologische Frage akzentuiert und Kant hat das philosophisch aufgenommen und fortgeführt. Der transzendentalphilosophische Gottesgedanke versucht nicht, ein übernatürliches Wesen zu denken, sondern bietet einen Maßstab, eine Idee, ein Ideal, um im Blick auf die Vielfalt dessen, woran Menschen ihr Herz hängen und auf das sie im Leben setzen, kritisch zwischen Gott und Abgott, wahrem Gott und falschen Göttern unterscheiden zu können. Wenn Menschen ihr Herz an ihren Besitz, ihre Bank, ihren Partner, ihre Partei, oder an sonst irgendetwas Existierendes in Raum und Zeit hängen, dann mag das gut oder schlecht, hilfreich oder belastend, lebenssteigernd oder lebenshemmend sein, aber es kann nicht Gott, sondern nur etwas Geschaffenes sein, an dem sie sich ausrichten. Die Brauchbarkeit des Gottes-Ideals zeigt sich daran, dass es uns vor solchen Irrtümern bewahrt. Aber es wäre abwegig, für dieses Ideal einen Existenzbeweis zu fordern.

»Unsere Vernunft bedarf […] immer eines Höchsten, um darnach das minder Hohe abzumessen, und zu bestimmen.«7 Das ist die Funktion der Gottes-Idee bzw. des Gottes-Ideals. Einen Begriff, »dessen man zum Maasstabe der geringeren oder höheren Grade bei diesem oder jenem Falle bedarf, ohne auf die Realität desselben zu sehen, nennt man eine Idee.«8 Diese »ist eine allgemeine Regel in abstracto«, das Ideal dagegen »ein einzelner Fall, den ich unter diese Regel bringe.«9 Und wie die Idee Gottes zur Vernunft gehört, so das Ideal Gottes zur Einbildungskraft.

Gibt es das, wofür der Urmeter in Paris steht? Dass wir diese Maßeinheit haben, verdankt sich dem französischen Nationalkonvent, der sich 1793 darauf verständigt hat, den 10-millionsten Teil des Erdquadranten auf dem Meridian von Paris unter der Bezeichnung »Meter« als Maßeinheit zur Längenmessung festzulegen. 1799 wurde diese nach neuen Messungen noch einmal korrigiert und im Urmeter, einem Prototypen aus Platin, exemplarisch realisiert. Auch Prototypen aus Platin sind nur relativ genau und nicht un­veränderlich. Dennoch wäre es ein Unding, für dieses Längenmaß einen Existenzbeweis zu fordern. Mit seiner Hilfe messen wir anderes, und die Fragen, ob es einen Meter gibt oder ob der Urmeter wirklich ein Meter lang ist, setzen ebendas voraus, wonach gefragt wird. Die Maßeinheit ist ein Konstrukt, was sie misst nicht.

In ähnlicher Weise reformulierte Kant ungefähr zur gleichen Zeit die Frage nach Gott als ein Orientierungsproblem. Die Aufgabe ist nicht, etwas Wirkliches als Gott zu erweisen, sondern Gott als das zu verstehen, mit dessen Hilfe wir Wirkliches in bestimmter Hinsicht kritisch beurteilen – für Kant vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit der Übereinstimmung von Moralität und Glück-seligkeit, also dessen, was wir sein sollen (moralisch gut), mit dem, was wir sein wollen (glücklich). – Ein so gedachter Gott ist kein Wesen, dessen Existenz bewiesen werden könnte oder müsste, sondern ein kritisches Postulat, auf das wir Kant zufolge als moralfähige Wesen zur Orientierung im Leben nicht verzichten können. Die Bemühung um moralische Glückswürdigkeit verlöre ihren Sinn, wenn das Erreichen tatsächlicher Glückseligkeit mit ihr nicht vereinbar wäre. Mit »Gott« ist der Ga­rant dieser Möglichkeit ge­meint. Da wir aus praktischen Grün­den einen solchen Gott denken müssen und auch widerspruchsfrei denken können, ist ein solcher Gott nicht nur möglich, sondern unverzichtbar und damit wirklich. Denn alles Mögliche ist die Möglichkeit eines Wirklichen, und dasjenige Wirkliche, für das alles Mögliche möglich und durch das alles Wirkliche wirklich ist, nennen wir »Gott«.

Das klingt klassisch, doch Kant bezieht sich bei seiner Argumentation nicht (mehr) auf den Erklärungsbereich der theore­tischen Vernunft (Was kann ich wissen?), sondern den Orientierungsbereich der praktischen Vernunft (Was soll ich tun?), und zwar am Leitfaden der Frage: Was darf ich hoffen?10 Der Gottesgedanke muss sich nicht mehr primär im Feld der metaphysischen Theorie (theoretische Vernunft) bewähren, sondern in dem der menschlichen Lebenspraxis (praktische Vernunft), und zwar unter dem Gesichtspunkt der urteilenden Vernunft, unter welchen Be­dingungen es menschlichen Personen möglich sei, das zu werden, was sie als Personen sein sollen (moralisch gut) und als Menschen sein wollen (glücklich), wenn sie moralisch gut doch nur sind, wenn sie auch wollen, was sie sollen, und glücklich nur werden, wenn sie auch als Personen sein können, was sie als Menschen sein wollen. Nicht zur wissenschaftlichen Erklärung dessen, was ist, be­darf es des Rekurses auf Gott (Theismus), sondern zur praktischen Orientierung im Leben: Nicht die Wissenschaften brauchen Gott, sondern die Menschen, die Wissenschaft betreiben. Deshalb kann man von Gott nicht sinnvoll reden, ohne zugleich von denen zu reden, die Gott haben, von Gott reden oder schweigen und Gott denken oder nicht denken. Nicht Gott per se , sondern die Relevanz Gottes im Leben von Menschen ist das, was zur Debatte steht.

3 Der Gottesgedanke als Ideal, Index, Symbol und Inbegriff


Kants Überlegungen stehen in direkter Tradition der reformatorischen Wende von einer metaphysischen zu einer lebenspraktischen Theologie. Spätestens seit Luther steht der Für-Bezug des Gottesgedankens im Zentrum theologischer Aufmerksamkeit: Gott ist als Gott-für-uns, als Gott-mit-uns, als Immanuel (וּנִָמִּעּ לֵא »Gott ist mit uns«) zu denken, wie Barth sagt.

Dieser Für- und Mit-Bezug wird allerdings sehr unterschiedlich bestimmt, und zwar philosophisch ebenso wie theologisch. Kants Bestimmung Gottes als des Garanten der Möglichkeit der Vereinbarkeit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit wurde als moralistische Verkürzung der Gottesfrage und als ein bloßes Wunschdenken kritisiert ohne Anhalt an einer vorausliegenden Wirklichkeit. Um dieses subjektivistische Missverständnis auszuschließen, schlugen Schleiermacher und Hegel auf je ihre Weise realistische Alternativen vor – der eine, indem er denkende und handelnde Subjekte in einer Wirklichkeit jenseits ihrer selbst begründet sieht, die sich im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit manifestiert, der andere, indem er den reformatorischen Praxisbezug des Denkens Gottes auf eine vernunft- und freiheitsorientierte Denkpraxis hin zuspitzt, in der letztlich nicht wir Gott, sondern Gott sich durch uns selbst denkt.

So bestimmte Schleiermacher den Für-Bezug des Gottesgedankens weder metaphysisch noch moralisch, weder im Bezug auf das Wissen noch im Bezug auf das Tun, sondern realistisch-anthro­pologisch anhand des Grundgefühls, das in beidem immer schon mitgesetzt ist, insofern es mein Wissen und mein Tun ist: Der Gottesgedanke symbolisiert auf geschichtlich variable Weisen das unbedingte Wirklichkeitskorrelat des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls. In diesem manifestiert sich am Ort individueller Subjekte, dass ihre kontingente Existenz (hier, jetzt, ich) als Be-­dingtes in der Beziehung zum Unbedingten geortet ist (Vonwoher der Abhängigkeit), sie also nur existieren, weil sie durch dieses exis­tieren. In dieser kontingenten Existenzsetzung sind alle Le­bensvollzüge von Subjekten fundiert, die damit einen realen Be­zugspunkt haben und nicht nur von einem möglichen, sondern von einem real existierenden Subjekt ausgesagt werden. Alle Gottesgedanken in Geschichte und Gegenwart symbolisieren das Wirklichkeitskorrelat dieses asymmetrischen Existenzgefühls auf je ihre Weise und mit den Mitteln ihrer Zeit. Gott kommt also stets als etwas Mitgesetztes in den Blick, das nicht als solches thematisiert und gedacht werden kann, sondern nur anhand des Gefühls, das Gottes wirksame Gegenwart anzeigt (Index), weil es ohne sie dieses Gefühl und die dadurch erschlossene individuelle Existenz nicht gäbe. Religiöse Gottessymbolisierungen werden dementsprechend durch dieses Gefühl ermöglicht, ermöglichen aber nicht dieses Gefühl, sondern symbolisieren es.

Schleiermacher unterscheidet am Gottesgedanken also zwei Seiten: den realistischen Bezugspunkt dessen, was im Gefühl schlecht­hinniger Abhängigkeit als Index des Vonwoher der kontingenten Setzung von allem, das nicht Gott ist, mitgesetzt ist, und die ge­schichtlich wechselnden Symbolisierungen dieses indexika­lischen Bezugs in den Gotteskonzeptionen der religiösen Traditionen. Das erste markiert den unveränderlichen Realitätsbezug der Gottesgedanken: Sie symbolisieren das, was in allem, was ist, ob­wohl es auch nicht sein könnte, unthematisch als das mitgesetzt ist, ohne das es nicht sein könnte. Das zweite manifestiert die veränderliche Be­stimmtheit der kontingenten Gottessymbolisierungen, die sich den geschichtlichen Subjekten in ihren wechselnden kulturellen Umgebungen verdankt. Auf je bestimmte Weise wird so das als Gott symbolisiert, was unbedingt und damit anders ist als alles Bedingte, aber mit allem Bedingten stets mitgesetzt ist. Das ist überall der Fall, aber nur am Ort des Ich wird deutlich bzw. kann deutlich werden, dass weder das Ich noch die Welt durch sich selbst oder von sich her sind oder sein können, sondern dass sie, da sie sind, obgleich sie auch nicht sein könnten, nur durch und mit dem sind, was als Gott symbolisiert wird: das unbedingte Andere, dem sich alles Bedingte verdankt.

Hegel dagegen konkretisierte den Für-Bezug des Gottesgedankens in Abgrenzung gegenüber Kant und Schleiermacher dadurch, dass er das Für-uns-Sein Gottes weder im Horizont unseres moralischen Tuns (Kant) noch unseres existenzgründenden Gefühls (Schleiermacher), sondern realistisch-ontotheologisch vom Denken Gottes im Gottdenken der Menschen her erläuterte. Der Gedanke Gottes steht für die fundamentale Vernunftpraxis, die in der dynamischen Orientierung an der Wahrheitsfrage die Grundlage aller vernünftigen Wirklichkeitserkenntnis und freiheitsfördernden Wirklichkeitsgestaltung bildet. Vernünftig ist das Denken Gottes im genetivus objectivus (Gott als Substanz), wenn es als genitivus subiectivus verstanden werden kann (Gott als Subjekt), in ihm also nicht primär wir Gott, sondern Gott im andern seiner selbst sich selbst denkt. Das ist nur möglich, insofern sowohl die Gott-Denkenden (Subjekte) als auch ihre Gottesgedanken (Objekte) als Momente der Bestimmungsgeschichte dessen verstanden werden, den sie zu denken versuchen: des sich selbst denkenden Gottes. Denn wir sind endlich und bedingt, Gott dagegen ist unendlich und unbedingt. Was wir als Gott denken, kann daher nur dann als Manifestation des Denkens Gottes selbst verstanden werden, wenn sich jeder Gottesgedanke als eine vorläufige ge­schichtliche Gestalt des Selbstdenkens Gottes begreifen lässt, die unter Bedingungen der Zeit dynamisch über das jeweils Gedachte hinaus weitergedacht und fortbestimmt werden muss. Um Gott im genitivus obiectivus als genitivus subiectivus zu denken, muss jeder Gedanke Gottes so weiter gedacht werden, dass von Gott her das Denken (Subjekt) und das Gedachte (Objekt) auf Gott hin fortbestimmt wird. Methodisch rekonstruiert Hegel diese Dynamik des Weiterdenkens als kategorialen Bestimmungsprozess von Position (These), Negation (Antithese) und erneuter Position (Synthese) im endlichen Denken der Menschen, durch den Gott sich subjektiv in unserem Denken Gottes und objektiv im Gedachtwerden durch uns als das eigentliche Subjekt und Objekt des Denkens Gottes bestimmt: Gott ist der, der sich im endlichen Leben und Denken als Geist der Wahrheit, Freiheit und Liebe konkretisiert, indem Vernunft und Freiheit immer besser verwirklicht werden und damit auch Gott immer konkreter gedacht wird. Wir denken deshalb genau dann Gott, wenn wir bei keinem Gottesgedanken stehen bleiben, sondern so weiterdenken, dass sich der Geist Gottes selbst in unserem Geist weiter fortbestimmen kann, als wir es jeweils tun. Für Hegel ist Gott weder ein unbestimmtes Unbedingtes jenseits der Geschichte noch ein beliebig bestimmbarer religiöser Gedanke in der Ge­schichte, sondern das dynamische Grundprinzip alles Seins, Denkens und Handelns, das als Bedingung der Möglichkeit aller Wahrheitserkenntnis und Freiheitspraxis das Integral bzw. der Inbegriff einer nie ans Ende gekommenen Geschichte ist, die über jeden erreichten Zustand der Erkenntnis von Wahrheit und der Verwirklichung von Freiheit hinausdrängt.

Damit war der Für-Bezug des Gottesgedankens konsequent als ein Machen und Verändern gedacht, als der kreative Prozess der göttlichen Vernunft, gegen alle Widerstände Wahrheit und Freiheit in ihr Recht zu setzen. Aber wie Kants Überlegungen als moralistische Subjektivierung des Gottesgedankens (miss)verstanden wurden und Schleiermachers Ausführungen als Auflösung eines gehaltvollen Gottesgedankens ins subjektive Gefühl, so wurde Hegels Versuch als abstrakte Intellektualisierung kritisiert. Doch diese gängigen Auffassungen sind falsch. Kant hatte den Gottesgedanken als ein Ideal bestimmt, auf das wir aus lebenspraktischen Gründen nicht verzichten können. Um das Missverständnis zu bannen, ein solches Ideal sei eine nur subjektivistische und willkürliche Setzung, bestimmte Schleiermacher den Gottesgedanken differenzierend einerseits existenztheoretisch als Index dessen, was in unserer kontingenten Existenz notwendig, aber unthematisch mitgesetzt ist, und andererseits geschichtsphänomenologisch als die wechselnde Symbolisierung dieses indexikalischen Bezugs in den Gotteskonzeptionen der Religionsgeschichte. Hegel schließlich versuchte diese Dualität in einen ontotheologischen Denk- und Wirklichkeitsprozess aufzuheben, der die Formel Gott-für-uns so entfaltet, dass Gottes Sein für das menschliche Denken darin seine Wahrheit erweist, dass in einem dynamischen und dialektischen Vermittlungsprozess von Subjekt und Objekt im Denken Gottes Gott als Selbstdenker seiner selbst sich durch unser Denken Gottes selbst als absolute Wahrheit in absoluter Freiheit bestimmt. Unsere Bestimmung Gottes ist jeweils genau insofern wahr, als sie Gottes Selbstbestimmung in unserem Bestimmen im Denken und Handeln zur Geltung bringt. Denn wahrhaft bestimmt ist Gott nur, wenn er nicht nur als Substanz, sondern als Subjekt gedacht wird, und das ist nur dann der Fall, wenn und insofern Gott sich selbst in freier Selbstvermittlung in und durch unser Denken Gottes denkt. Zum einen kann Gott damit kein Wirkliches unter Wirklichen sein, sondern muss den ganzen Wirklichkeitsprozess umfassen, ohne einfach mit ihm zusammenzufallen. Zum anderen verdient nichts als Gott bestimmt zu werden, das nicht Wahrheit und Freiheit und damit Erkenntnis und Handeln in höchster Weise in sich vereinigt: Der Gedanke Gottes ist nicht beliebig bestimmbar, sondern als solcher die Bedingung der Möglichkeit aller Wahrheitserkenntnis und Freiheitspraxis. Wer Gott denkt, hat deshalb nie zu Ende gedacht und nie zu Ende gehandelt, drängt vielmehr über jeden erreichten Zustand der Erkenntnis in den Wissenschaften und der Verwirklichung von Freiheit in der Gesellschaft hinaus. Die Wahrheit ist konkret, weil sie uns frei macht. Und das ist eine nie ans Ende gekommene Geschichte.

4. Der religionskritische Einwand


Doch wie können wir in dieser Geschichte und damit unter Bedingungen der Endlichkeit wissen, ob das, was wir als Gott denken, wirklich Gott ist? Wie können wir entscheiden, ob unsere Denkversuche auf Gott hinführen oder von Gott wegführen, solange uns der Gesichtspunkt des Ganzen – dessen, was für Gott als Einheit des Einen und Allen das Ganze ist – nicht zur Verfügung steht?

Die gängige religionskritische Antwort seit Feuerbach ist be­kannt: Die Frage erübrigt sich, wenn wir durchschauen, was wir wirklich tun, wenn wir Gott denken. Nicht Gott denkt sich in unserem Gottdenken, sondern wir denken uns dabei selbst in Idealgestalt. Im Blick auf die Gottesfrage ist deshalb nur eine Haltung des Atheismus oder skeptischen Agnostizismus angebracht. Das pfeifen heute die Spatzen von den Dächern. Doch ob Anthropologie das Geheimnis der Theologie ist (Feuerbach) oder Theologie das Ge­heimnis der Anthropologie (Hegel), ist nicht ausgemacht. Auch Hegel wusste, dass wir nur unter Bedingungen der Endlichkeit denken können. Doch er wusste auch, dass die Berufung auf Endlichkeit ihren Sinn verliert ohne den Kontrast zum Unendlichen. Seine Frage war ja gerade gewesen, wie im endlichen Denken das Unendliche wahrhaft gedacht werden könne. Darauf zu antworten: gar nicht, ist nur eine, und keineswegs eine besonders gute Antwort. Hegel gab eine andere, und die hatte er von der Theologie gelernt.

V Denkformen der Theologie


1 Die theologische Alternative


Wie die Theologie betonte auch Hegel, dass wir nur dann wirklich Gott denken, wenn wir Gott so denken, wie Gott sich für uns denkbar macht. Sonst können wir nicht klären, ob wir wirklich Gott als etwas oder nur etwas als Gott und damit ein Gottessurrogat nach unserer Fasson denken.

Aber wo macht Gott sich denkbar, und wie? Die erste Frage beantwortet die theologische Tradition seit je mit dem Verweis auf Jesus Christus und den Geist, in dem Gott sich den Menschen offenbart und vergegenwärtigt. Hegel meinte, diese theologische Antwort in der Konzentration auf das Denken – Gottes Selbstdenken im Verwirklichungsprozess der Wahrheit in der Weltgeschichte – philosophisch verallgemeinern zu können – mit fragwürdigen Folgen. Aber im Blick auf die zweite Frage war er sich mit der theologischen Tradition einig: Gott macht sich als der Geist denkbar, der uns wahr und frei und liebend macht – offen für die Anerkennung der Andersheit der Anderen und damit frei zur wahren Mitmenschlichkeit.

Entscheidend ist, dass Gott sich den Menschen erschließt, indem er etwas mit ihnen macht. Gottes Offenbarung ist keinepis­temisches Ereignis, keine Mitteilung verborgener göttlicher Geheimnisse, aber auch kein Gewisswerden dessen, was wir immer schon wissen oder hätten wissen können, sondern ein existentielles Veränderungsgeschehen, zu dem wir von uns aus nicht in der Lage wären: die existentielle Neuausrichtung gottloser Menschen in ihrer selbstzentrierten Lebensorientierung zu einem Leben radikaler Mitmenschlichkeit in der Orientierung an dem (Gott), der sich selbst dazu bestimmt, schöpferische Liebe zu sein (Wort), und diese Selbst-Bestimmung immer wieder selbst verständlich macht (Geist), indem er sich für Menschen, die sich nicht für ihn interessieren, so erschließt, dass sie ihn als den verstehen können, der ihnen aus reiner Liebe ermöglicht, wahr und frei zu leben (Glaube), weil er sich nicht nur ihnen, sondern auch anderen so erschließt, dass sie ihn als den verstehen können, der ihnen aus reiner Liebe ermöglicht, wahr und frei zu leben, weil er sich nicht nur ihnen, sondern auch anderen so erschließt, dass sie ihn ...

Die Frage, was es heißt, Gott zu sein, hat so dieselbe Antwort wie die, was es heißt, Gott zu haben: Gott ist der, der unwillige

eine Menschheit. Das geht nicht ohne kritische Einstellung zum faktischen Zustand der Welt und des Lebens. Der ist nicht so, wie Gottes Schöpfung sein könnte und sein sollte. Man kann deshalb nicht als Gottes Geschöpf leben, Gott als seinem Schöpfer danken oder Gott als seinen Schöpfer denken, ohne sich im Vollzug des Lebens und Denkens immer wieder kritisch am Unterschied zwischen dem Alten, das vergeht, und dem Neuen, das wird, zu orientieren. Mit dieser Unterscheidung geht es nicht um eine zeitliche (früher/später, damals/heute), qualitative (unangenehm/angenehm) oder moralische Differenz (gut/ böse), sondern darum, sein Leben immer neu an dem auszurichten, der immer wieder unerwartet Neues möglich macht, indem er es vom jeweils Unmöglichen unterscheidet, sein Leben also ohne Gott oder mit Gott, vom eigenen Standpunkt aus oder im Horizont Gottes zu verstehen und zu leben, und diese Umorientierung liegt niemals in der Vergangenheit, sondern geschieht immer jetzt.

Metaphysikbasierte Theologieformen unterschätzen diesen Zusammenhang zwischen der Bestimmung des Gottesgedankens (Gottesverständnis) und der Veränderung der Selbstbestimmung des Menschen (Selbstverständnis). Sie entwerfen den Gottesgedanken vom menschlichen Denken her, kommen dabei aber nicht weiter als zu Anselms Einsicht, dass Gott nicht nur der ist, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, sondern dass er auch größer ist, als gedacht werden kann. Ohne Gott kann Gott weder bestritten noch bekannt, weder gedacht noch ignoriert oder ge­leugnet werden: Gottes Gegenwart ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, Gott zu denken oder Gott zu bestreiten. Selbst Zweifel, Nichtglaube und Aberglaube sind deshalb Belege dafür, dass Gott ist. Aber was Gott ist, bleibt dunkel. Jede Bestimmung des Gottesgedankens wird durch eine noch größere Unbestimmtheit überboten, weil Gott größer ist, als gedacht werden kann. Und es ist nur ein kleiner Schritt, alles theologische Denken nur noch als Umspielen dieser undurchdringlichen Unbestimmbarkeit zu verstehen, die als Geheimnis des Göttlichen zu feiern, aber nicht zu denken ist.

Das ist eine Theologie, die der heutigen Zeit gefällt: Von Gott sollte man am besten schweigen. Die einen sagen das, weil sie meinen, von Gott gäbe es nichts zu sagen. Die anderen, weil sie meinen, das göttliche Geheimnis müsse davor bewahrt werden, im kritischen Licht der Vernunft trivialisiert, profanisiert und aufgelöst zu werden. Doch wenn es von Gott nichts zu sagen gibt, kann man von Gott auch nicht schweigen. Und wenn es von Gott etwas zu sagen gibt, dann kann man nicht nur schweigen, sondern muss von Gott auch reden – und zwar auf bestimmte Weise, sonst entzieht man sein Schweigen und sein Reden der Kritik. Nicht nur die machen Fehler, die Falsches sagen, sondern auch die, die etwas Richtiges nicht sagen oder, um nichts Falsches zu sagen, gar nichts sagen.

Sich auf das Schweigen von Gott zurückzuziehen, ist für sich genommen daher keineswegs ein Erkenntnisfortschritt und Freiheitsgewinn, sondern eher der Hinweis auf ein Grundversäumnis mit fragwürdigen Folgen.

6 Die evangelische Denkform


Evangelische – also am Evangelium orientierte – Theologie (in welcher Konfessionstradition auch immer) verfährt anders. Sie steigert die Unbestimmtheit des Gottesgedankens nicht negationstheologisch zur schlechthinnigen Unbestimmbarkeit, sondern geht von dem Ort aus, an dem Menschen nach Gott fragen, zu Gott rufen, von Gott reden, und über Gott nachdenken – oder das nicht tun, obwohl es möglich wäre. Ihre zentrale Frage ist nicht, wer oder was Gott ist, oder wie man denken muss, um wirklich Gott zu denken, sondern wo und wie Menschen dazu kommen, von Gott her in bestimmter Weise von sich, von Gott und von allem Übrigen zu reden.

Ausgangspunkt ihres theologischen Nachdenkens sind deshalb nicht die Fähigkeiten und Grenzen unseres Denkens, sondern das Wort, in dem der ins Leben einfällt, den Christen »Gott« nennen, und damit das Widerfahrnis, das sie veranlasst, in der Orientierung an Gott auf andere Weise, nämlich möglichkeitsoffen und radikal mitmenschlich zu leben. Entsprechend sieht evangelische Theologie die entscheidende Herausforderung theologischen Nachdenkens nicht in der kognitiven Inkompetenz endlicher Vernunft an­gesichts des Unendlichen, sondern darin, den Ereignissen gerecht zu werden, die theologisch »Gottes Wort« genannt werden.

Das ist die theologische Kurzformel für den gesamten Ereigniszusammenhang von (theologisch gesagt) ewigem Wort, personalem Wort, geschichtlichem Wort, äußerem Wort und innerem Wort, durch den sich Gottes sinnstiftende Gegenwart im Wirklichkeitsprozess der Welt konkret vollzieht. Alles, was geschieht, wird dadurch vieldeutig, hintergründig, geheimnisvoll, uneindeutig – ein Logos-Ereignis, dessen Sinn sich nicht ausloten lässt. Es gäbe nichts, ohne dieses Geschehen, und es ließe sich nichts verstehen: Erst dadurch wird die Welt intelligibel und das Leben so, dass man seine Sinnlosigkeit als Beleidigung erlebt.

Aber dieses Logos- oder Wortgeschehen drängt sich nicht auf, sondern zeigt sich nur in der Resonanz, die es im Leben von Menschen findet: Wo Gott ins Leben einfällt, werden die Phänomene des Lebens transparent für Gottes Gegenwart, indem es Menschen möglich wird, eine neue Einstellung ihnen gegenüber einzunehmen – Gott für ihr Leben zu danken und sich selbst und ihre Mitmenschen als Nächste Gottes zu verstehen und zu behandeln. Der Verweis auf »Gott« steht dafür, dass das geschieht. »Wort Gottes« sagt, dass das auf eine Weise geschieht, die sich verstehen lässt. Beides zusammen steht für ein Ereignis, das nicht nur so verstanden werden kann, sondern so verstanden wird, weil es sonst nicht das wäre, was es ist. Wenn Gott ins Leben einfällt, dann bleibt das nicht unbemerkt. Es wird dann mindestens einen geben, der das auch so versteht. Es gibt keine Selbstvergegenwärtigung Gottes in seinem Wort, von der gilt: Keiner hat sie bemerkt. Man kann sie ignorieren, missverstehen, kaum verstehen oder erst allmählich besser verstehen. Aber dass sie gar nicht verstanden wird, ist ausgeschlossen. Für die christliche Verwendung der Metapher des Wortes Gottes ist deshalb der Bezug auf Jesus konstitutiv, und zwar so, wie dieser Gekreuzigte als der erste Auferweckte Gottes bekannt wird: »Gottes Wort« kann alles und nur das heißen, was sich von diesem Geschehen her verständlich machen lässt, das selbst den Tod uneindeutig werden lässt. Mit der Metapher des Wortes Gottes wird dementsprechend immer Mehreres zugleich gesagt: dass Gott sich als Gott verständlich erschließt ( Gott offenbart sich), dass dies alle Menschen verstehen können, auch wenn sie es nicht tun (Gott offenbart sich für alle Menschen), dass das von mindestens einem bzw. einigen in einer bestimmten Situation auch so verstanden wurde (Gott hat sich in dieser Situation diesen Menschen offenbart) und dass deshalb jeder Anspruch, Gottes Wort verstanden zu haben bzw. zu verstehen, daran zu bemessen ist, ob das mit dem übereinstimmt, was in dieser normativen Situation als Gottes Wort verstanden wurde.

Die Metapher von Gottes Wort steht also dafür, dass Gott tatsächlich nicht unzugänglich und unverständlich bleibt, sondern von sich aus als Ursprung, Inhalt, Vermittlung, Verstehen und Ziel seiner Selbstvergegenwärtigung verständlich wird. Und weil nichts verständlich ist, was nicht konkret für jemanden verständlich wird, jeder Mensch aber an einem anderen Ort im Leben steht, erhellt Gottes Wort die Welt und das Leben stets vielstimmig, vielfarbig und immer wieder neu, indem es erlebten Sinn und erlittene Sinnlosigkeit über sich hinaus verweist auf Möglichkeiten, die nicht in ihnen angelegt sind, sondern von Gott her dem Leben zu­gespielt werden. Wo immer das Ereignis von Gottes Wort konkret widerfährt, wiederholt und verdichtet sich der ganze Ereigniszusammenhang des Wortes Gottes auf konkrete Weise, die sich durch die Eigentümlichkeiten des Lebens, in dem es geschieht, von allen anderen unterscheidet (es ereignet sich im Leben dieses Menschen) und zugleich durch das, was dabei geschieht, in allen Fällen dasselbe tut: das Leben eines bestimmten Menschen auf die Präsenz Gottes in seinem Leben hin durchsichtig zu machen (es macht dieses Leben für Gottes Gegenwart transparent). Das Potential von Gottes Wort ist an diesem Punkt dann ganz präsent und eben deshalb an keinem Punkt erschöpfend oder abschließend zu bestimmen: Stets ist mehr präsent, als man erfassen und ausloten kann. Es wird nicht nur möglich, ein Geschehen entgegen seiner vermeintlichen Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit anders zu verstehen, als man es vorher verstand oder verstehen zu müssen meinte, sondern es wird auch immer mehr verständlich, als Menschen zu verstehen vermögen. Das Neue, das sich ereignet, ist nicht nur ein Fall des Alten, sondern eröffnet einen neuen Sinnhintergrund und Lebenshorizont, der alles neu bestimmt und dessen Neubestimmung sich nicht ausschöpfen oder abschließend verstehen lässt. Versteht man Gott vom Ereignis des Wortes Gottes her, dann übersteigt Gott alles Verstehen nicht deshalb, weil Menschen im Blick auf Gott nichts verstehen könnten, sondern weil es immer mehr zu verstehen gibt, als sie jeweils verstehen und verstehen können.

Menschen erleben solche Ereignisse deshalb so, dass sie ihnen von anderswoher widerfahren. Sie stellen ihr Selbstverständnis, ihre Weltsicht, ihre Gottesvorstellungen, ihre Einstellung zu an­-deren, ihren Standpunkt und ihren Lebenshorizont in Frage (Dislozierung) und lösen deren jeweilige Bestimmtheiten in einen Prozess der Neubestimmung auf, der auf den Ruf von anderswoher antwortet, indem das ganze Leben von ihm her neu ausgerichtet wird (Neuorientierung).

Was das Leben so entselbstverständlicht und neu orientiert, kann man denkend erhellen, aber man kann es nicht auf den Be­griff bringen, weil es Ereignisse sind, die geschehen, und nicht nur Erinnerungen daran, dass sie geschehen sind. Auf solche Ereignisse antwortet man, indem man dankt und lobt, klagt und sich freut, also neu und anders lebt. Will man Gott unter der Signatur des Wortes Gottes denken, muss dieses lebensverändernde Geschehen gedacht werden.

7 Das trinitarische Denkprojekt


Das versucht die evangelische Denkform, indem sie Gott trinitarisch denkt. Das ist kein Umspielen eines mathematischen Mysteriums und keine spekulative Theorie Gottes, sondern die Entfaltung des Geschehens, durch das Gott als Wort sich selbst als Gott am Ort der Menschen verständlich macht, indem das Leben, Verstehen und Denken von Menschen auf bestimmte Weise verändert, geöffnet, neu ausgerichtet wird.

Ein bestimmtes Gottesverständnis wird auf diesem Weg nicht durch begriffliche Abgrenzungen erreicht, sondern so, dass der Ort, an dem Gott Menschen als Gott verständlich wird, und der Modus, zu dem ihr Leben dadurch verändert wird, in den Bestimmungsprozess des Gottesverständnisses einbezogen wird: Der Sohn markiert den Ort, an dem sich die Möglichkeit des neuen Lebens als Möglichkeit für alle Menschen erweist, weil sie nicht dem partikularen Leben eines bestimmten Menschen zugeschrieben wird (Es ist ihm möglich, so zu leben), sondern dem Leben Gottes, der sie allen Menschen als Möglichkeit zuspielt (Es ist als Gabe Gottes für jeden möglich, so zu leben). Der Geist markiert den Ort, an dem diese Möglichkeit Menschen konkret zugeeignet wird, Gott also zum Gott-für-sie wird, so dass sie im Vertrauen auf Gott mitmenschlich leben wollen und können (Es ist als Gabe Gottes mir bzw. uns möglich, so zu leben). Der Vater markiert den Ort, an dem man ist, wenn man so lebt, nämlich im Vertrauen auf den, der aus freien Stücken solches möglich macht und sich dadurch so vertrauenswürdig er­weist, dass man sich in jeder Situation auf seine Zuwendung und Hilfe verlassen kann, auch wenn man sich nicht ausmalen kann, worin diese im konkrete Fall bestehen könnte (Die Möglichkeiten dieses Lebens übersteigen das, was wir von unserem Ort aus als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, möglich oder unmöglich einschätzen können, sie sind aber durchgehend das, was ein guter Vater für seine Kinder als deren Bestes will und tut).

Wo Gottes Wort in das menschliche Leben einfällt, wird dieses radikal, also von Grund auf, verändert. Es geht um kein besonderes Einzelereignis in der Ereignisreihe des Lebens, sondern um das, was diese ganze Reihe neu ausrichtet und ihr einen neuen Sinnhorizont verleiht. Das kann im konkreten Leben von Menschen ganz unterschiedlich geschehen und sich mit Ereignissen verbinden, die anderen trivial und nichtssagend erscheinen mögen. Es geht nicht um spektakuläre Einbrüche, in denen alles Bisherige zusammenbricht und mit einem Schlag Neues deutlich wird. Das Einfallen von Gottes Wort ins Leben hat kein festes Muster. Es kann sich kaum wahrnehmbar oder als umstürzendes Geschehen ereignen, als allmählicher Prozess oder als datierbare Lebenswende, es kann von anderen eher wahrgenommen werden als von einem selbst, und es kann bei anderen klarer gesehen werden als im eigenen Leben. So oder so aber wird es erst retrospektiv und a posteriori als solches ansprechbar und benennbar. Und so oder so zeigt sich, dass Gottes Gegenwart immer eine Aktivität, ein Wirken, ein Verändern, ein Zu-etwas-Neuem-Gestalten und Umgestalten, ist, die sich – theologisch ausgelegt – durch Wort und Geist vollzieht: Etwas Be­stimmtes wird möglich, das bisher nicht einmal möglich erschien, aber sich in seinem Geschehen (Dass) und in seinem Sinn (Was) verstehen und explizieren lässt (Wort); und dieses kann von keinem selbst ergriffen oder anderen weitergegeben werden, sondern wird jedem frei durch den zugeeignet, der es möglich macht (Geist). Gott erschließt sich Menschen, die ihn ignorieren, indem er sie instand setzt, gut, neu, recht, gerecht, mitmenschlich zu leben, und zwar auch und gerade angesichts der Erfahrung, dass dies immer wieder auch nicht gelingt, nicht getan und nicht gewollt wird.

Weil Gott zu diesen Möglichkeiten steht und sie bedingungslos für die Menschen offen hält, auch wenn diese sie ignorieren oder verspielen, wird er christlich in Aufnahme der Gottesanrede Jesu als »Vater« angesprochen. Und nur weil er unabhängig von menschlichem Verhalten und Versagen so angesprochen werden kann, kann er auch als Richter und Herrscher, Hirte und Rächer, Schöpfer und Pantokrator bestimmt werden. Entscheidend ist, dass die kreative Aktivität Gottes, die für Menschen möglich macht, was ihnen selbst unmöglich ist und an ihrem Ort unmöglich zu sein scheint, im Horizont des jesuanischen Vaterbildes durchgehend positiv verstanden wird als Helfen und Trösten, Sich-Erbarmen, Befreien und Befähigen, und zwar auch dort, wo angesichts menschlichen Versagens von Strafen, Zurechtweisen und Zurechtbringen gesprochen wird. Deshalb wird Gottes kreative Aktivität und aktive Kreativität theologisch als Liebe bestimmt und diese durch all das hindurch entfaltet, was Gott im anderen seiner selbst tut und wirkt und ermöglicht, ohne dass der Gehalt dieser schöpferischen Liebe damit erschöpfend ausgelegt wäre: Die Geschöpfe sind diejenigen, denen Gottes Liebe zugute kommt, Gott ist derjenige, der als Liebe zu denen kommt, die nicht mit Gott rechnen, und damit einen Prozess des Neuwerdens in Gang setzt, dessen Ende unabsehbar, aber in dieser Unbestimmtheit bestimmt ist, weil es ein Prozess der Liebe ist. Gott wird als Liebe bestimmt, weil er sich allen gegenüber wie ein Vater und das heißt: als Nächster noch des Fernsten verhält, und zwar ohne dass diejenigen, zu denen Gott sich so verhält, dafür irgendeinen guten Grund böten – außer eben dem, dass Gott sie so zu seinen Nächsten macht, so dass sie sich immer und überall wie Kinder auf ihren guten Vater verlassen können.

An diese im Geschehen von Gottes Wort verankerte Rede von Gott als liebendem Vater knüpft das trinitarische Denken Gottes an, indem Gott so als der bestimmt wird, der sich selbst (Geist) durch sich selbst (Sohn) als Gott für alle (Vater) bestimmt, der seine Selbstbestimmung selbst kommuniziert (Wort), und der selbst dafür sorgt, dass diese Kommunikation seiner Selbstbestimmung verstanden und geglaubt wird (Glaube). Alles wird von der Situation her verstanden, in der Gott als Gott für Menschen verständlich wird, die sich nicht um Gott kümmern, und deshalb alles, was sie aufgrund des Einbruchs Gottes in ihr Leben von, über, zu und vor Gott zu sagen wissen, diesem und nicht sich selbst zuschreiben. Das kann man sich am Credo klarmachen. So formuliert der erste Artikel das, was geglaubt, verstanden und gedacht wird (Gott der Vater), der zweite Artikel das, von dem her und durch den Gott als Vater geglaubt, verstanden und gedacht wird (Gott der Sohn), der dritte Artikel die Bedingungen, unter denen man den Sohn als Sohn und damit den Vater als Vater verstehen, glauben und bekennen kann (Gott der Geist). Gott ist der, der sich selbst (Geist) durch sich selbst (Sohn) als Gott für alle (Vater) erschließt und verdeutlicht, indem er es Menschen ermöglicht und sie dazu bringt, aus eigener Überzeugung in einer Weise zu leben, die sie als Vollzug seiner Liebe zu ihnen in der Weitergabe dieser Liebe an Gott und ihre Nächsten verstehen und praktizieren. Recht verstanden ist dieses Geschehen dann, wenn man darauf mit dem Credo oder kurz mit Amen antwortet.

Die trinitätstheologische Entfaltung des damit umrissenen Gottesverständnisses verknüpft die Antworten auf drei Fragen miteinander: Wer oder was ist mit »Gott« gemeint? Wie und von wo aus wird der thematisiert, der als Gott verehrt wird? Wer thematisiert Gott so? Die erste Frage wird am Leitfaden der Unterscheidung von wahrem Gott und falschen Göttern beantwortet, indem Gott im Anschluss an Jesu Gottesanrede metaphorisch als Vater bestimmt wird, der in einer Beziehung helfender, erbarmender und rettender Liebe zu denen steht, deren Vater er ist – ob diese das anerkennen (Glaube) oder ignorieren (Unglaube). Die zweite Frage wird am Leitfaden der Unterscheidung zwischen christlicher Rede von Gott und anderer Gottesrede beantwortet, indem Gott metaphorisch als Vater dieses Sohnes und als Sohn dieses Vaters be­stimmt wird, weil er in eins der ist, dessen Bestimmtheit sich in der Geschichte Jesu offenbart und der selbst erschließt, dass sich seine Bestimmtheit in dieser Geschichte erschließt (Christusbekenntnis). Die dritte Frage wird am Leitfaden der Unterscheidung zwischen Gott und Glaubenden dadurch beantwortet, dass nicht nur das, was offenbart wird (selbstlose Liebe), und der, durch den es offenbart wird (Jesu bedingungslose Nächstenliebe), niemand anderes ist als Gott, sondern dass Gott auch der ist, durch den Gottes Selbstoffenbarung in dieser Geschichte als solche verstanden, geglaubt und akzeptiert wird, so dass der Grund des Glaubens nicht in den Glaubenden, sondern in Gott dem Geist gesehen und als Ermöglichung eines Lebens bedingungsloser Mitmenschlichkeit verstanden wird (Doppelgebot der Liebe). Gott ist damit in eins als der bestimmt, der sich selbst bestimmt, der seine Selbstbestimmung selbst kommuniziert, und der selbst dafür sorgt, dass die Kommunikation seiner Selbstbestimmung als seine Selbstkommunikation verstanden und geglaubt wird. Gott bestimmt zu denken, heißt daher christlich, Gott als unseren Vater zu denken – und dieses »unser« ist kein exkludierendes Kontrastieren der Glaubenden und der Nichtglaubenden oder gar der Christen und der Nichtchristen, sondern gerade umgekehrt die selbstverpflichtende Bestimmung, alle Menschen als solche zu verstehen, denen auch die Möglichkeit der Identität als Kinder oder Nächste Gottes eröffnet ist, und sie deshalb unbeschadet aller Differenzen als Nächste zu würdigen, die vor Gott auf keine andere Weise zu behandeln sind als man selbst. Gott ist unser Vater, wir alle sind seine Nächsten (Kinder, Erben, Partner). Darauf kann man sich verlassen im Leben und im Tod und so sind alle zu behandeln, mit denen man ihm Leben zu tun bekommt.

Durchgehend räumt das lokalisierende Modaldenken der Trinitätstheologie der Freiheit und Selbstzuwendung Gottes Priorität ein, der sich Menschen erschließt, indem er ihnen die Möglichkeit zuspielt, ihr Leben in der Orientierung an seiner Gegenwart in einer neuen Weise zu leben, deren Potential sich an keinem Punkt des Lebens erschöpfend bestimmen lässt. Die dominierende Sprachform der trinitarischen Gottesbestimmung ist deshalb nicht die der dritten, sondern der ersten und zweiten Person. Gott kommt zuerst als Ich und Du zur Sprache, ehe er als Er, Sie oder Es thematisiert wird. Und auch dort, wo von Vater, Sohn und Geist in der beschreibenden Sprache der dritten Person gesprochen wird, ist dies im Sinn konkret-kommunizierender Rede in der ersten und zweiten Person zu verstehen: Es geht um unseren Vater, deinen Sohn und deinen Geist – und eben deshalb nach der lokalisierenden Logik der Personal- und Possesivpronomina immer auch um uns und euch und mich und dich. Die evangelische Denkform denkt Gott trinitarisch, weil sie von der Situation her denkt, in der Gott als Wort und Geist in das menschliche Leben einfällt und Neues möglich macht, das alles von Grund auf verändert. Sie denkt nicht im Gegenüber zu Gott, sondern vor Gott, und sie denkt nicht aus neutraler Position Gott gegenüber, sondern engagiert und ernst (wie Luther und Kierkegaard sagen) aus dem existentiellen Betroffensein durch Gott. Gott so zu denken heißt, sich auch im Denken Gottes zu dem zu verhalten, wie Gott sich zu den Menschen verhält, weil man nicht ignorieren kann, dass Menschen das entweder ignorieren oder nicht ignorieren, dass es niemanden gibt, der nicht das eine oder das andere tut, und dass es töricht ist, das nicht zu sein, was man sein könnte, und damit unter den Möglichkeiten zu leben, die einem offenstehen. Damit aber kann man Gott nicht denken, ohne selbst vor der Frage zu stehen, wie man vor Gott verortet ist, die Differenz zwischen einem Leben ohne Gott und einem Leben mit Gott also auf sich selbst zu beziehen und sich darüber klar zu werden, dass man Gott nicht zureichend denken kann, ohne sich und Gott anders zu verstehen als zuvor. Trinitätstheologisches Denken Gottes ist situiertes, engagiertes und existentielles Denken, das an keinem Punkt davon absieht, dass man vor Gott, aus Gott und von Gott her über Gott, sich selbst und alles Übrige nachdenkt, niemals dagegen von einem neutralen Ort aus, weil man stets – ob man das ignoriert oder anerkennt – in das Wortgeschehen dessen verwickelt ist, der semper ubique actuosus ist.

Dieses situierte und engagierte Denken Gottes haben Christen von der Geschichte Jesu Christi gelernt, von seinem Leben, Lehren, Leiden und Sterben am Kreuz, und vom Wirken des Geistes, das ihnen die lebensschaffende Gegenwart von Gottes kreativer Liebe gerade in Leid und Unheil, Kreuz und Tod erschließt. Christen können deshalb weder von sich noch von Gott sprechen, ohne auf bestimmte Weise von Jesus Christus und Gottes Geist zu sprechen: Wer Gott sagt, sagt auf bestimmte Weise Vater, wer so Vater sagt, spricht auf bestimmte Weise von Jesus Christus, wer so von Jesus Christus spricht, redet auf bestimmte Weise vom Geist, wer so vom Geist redet, thematisiert auf bestimmte Weise sich selbst und seine Welt, wer das tut, redet auf bestimmte Weise von Gott, wer auf diese Weise Gott sagt, sagt auf bestimmte Weise Vater, … Das ist die hermeneutische Verweiskette einer evangelischen Trinitätslehre, die Gott nicht in der Unbestimmtheit des Unvordenklichen versinken lässt, sondern in der Bestimmtheit einer konkreten Lebenspraxis als die Kraft versteht, die Leben und Tod und damit alles Mögliche und Wirkliche zum Resonanzraum der schöpferischen Liebe macht, die Gott ist.

VI Die produktive Unbestimmtheit im Zentrum des Christentums


Die trinitarische Denkform christlicher Theologie ist nichts, auf das man aus philosophischen Gründen oder um einer freundlichen Religionsökumene willen verzichten könnte. Sie bringt als Form eines existentiell-lokalisierenden und nicht begrifflich bestimmenden Denkens die spannungsreiche Ursprungskonstellation des Christentums zur Geltung, ohne die es keine Christen, keine Kirche, kein Neues Testament und keine christliche Theologie gäbe.

1 Die Ursprungskonstellation


Diese Konstellation hat vier Komponenten, die stets zusammen gesehen werden müssen. Die erste ist die Gottesbotschaft Jesu, in dem sich die Gotteserfahrung der jüdischen Tradition zu einem ganz bestimmten Gottesbild verdichtete: das des guten Vaters, der sich um seine Kinder kümmert und ihr Leben auf unerwartete Weise nicht nur zum Besseren, sondern zum Guten wendet. Die zweite ist das Kreuz Jesu, an dem dessen Gottesbild vom guten und hilfreichen Vater zusammengebrochen zu sein scheint: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15,34). Die dritte ist das Bekenntnis anderer, des Hauptmanns am Kreuz, der Frauen auf dem Weg zum Grab, der verschreckten Jünger, des zweifelnden Thomas, des christenverfolgenden Paulus und vieler anderer mehr, dass Gott diesen Gekreuzigten entgegen dessen eigener Verzweiflung nicht verlassen hat, sondern in seiner Gottferne bei ihm ge­blieben und im Tod zu ihm gekommen ist: »Wahrhaftig, dieser Mann ist Gottes Sohn gewesen« (Mk 15,39). Die vierte sind all die anderen, die in diesem Geschehen nichts dergleichen wahrnehmen, weder Gott noch Göttliches, schon gar keine göttliche Liebe, sondern nur einen zu Tode gequälten Jesus und das Christusbekenntnis einiger verwirrter Geister.

Das letzte ist die Mehrheitsmeinung und war es von Anfang an. Das erste ist der Grund, warum das Christentum nicht ohne die Gotteserfahrung des Alten Testaments und seine Zuspitzung und Verdichtung in der Botschaft und im Leben Jesu verstanden werden kann. Das zweite und das dritte sind der Anlass dafür, dass das Christentum keine bedeutungslose jüdische Sekte geblieben ist, sondern zu einer sich in die ganze Welt ausbreitenden Bewegung der Hoffnung auf das ganz Neue geworden ist, das Gottes kreative Liebe selbst unter Bedingungen extremer Hoffnungslosigkeit ge­gen alles Erwartbare, Wahrscheinliche und Absehbare schafft. Nicht von ungefähr legt Mk das Christusbekenntnis nicht Jesus, sondern dem römischen Hauptmann – und über ihn den Leserinnen und Lesern seines Evangeliums – in den Mund. Nichts spricht dafür, dass Jesus selbst die Gegenwart Gottes in seinem Leiden und Sterben so erlebt hat, wie andere das bekennen. Aber diese haben sie an ihm und durch ihn erfahren und im Verweis auf Gottes Geist von seiner Auferweckung durch Gott zu sprechen begonnen.

Diese Differenz zwischen Selbsterleben und Fremderfahren ist nichts Ungewöhnliches. Unser Selbsterleben legt nicht fest, was andere im Blick auf uns erfahren können, und was sie erfahren, kann auch dann wahr sein, wenn wir es nicht so erleben. Menschen können für andere zum Anlass der Erfahrung der Gottesgegenwart werden, oder zur Behinderung solcher Erfahrung, und beides, ohne dass sie das selbst so intendieren, bemerken oder erleben.

2 Drei Grunddifferenzen


Aber das ist nicht die einzige Differenz, die für das christliche Gottesverständnis gerade dadurch bestimmend geworden ist, dass sie sich nicht in eine einheitliche Bestimmung auflösen lässt. Es sind vielmehr mindestens drei Differenzen, die in Kombination und Überlagerung ein Geflecht produktiver Unbestimmtheit konstituieren, das bis heute wirksam ist und neuen Sinn generiert: Zum einen die Differenz zwischen Selbsterleben und Fremderfahren, eigener Sicht Jesu und fremder Sicht seiner Anhängerinnen und Anhänger (Eigensicht/Fremdsicht). Zum anderen die Differenz zwischen ihrer und Jesu Sicht auf der einen Seite, und Gottes Sicht auf der anderen (menschliche Sicht/göttliche Sicht). Zum dritten die Differenz zwischen den (später so genannten) Christen, die von Christus, Gottes Geist und Ostern sprechen, und all den anderen, die das nicht tun (christliche/nichtchristliche Sicht)

Die letzte Differenz hält in Erinnerung, dass christliche Rede von Gott immer im Kontext des Widerspruchs, Unverständnisses und Andersverstehens geschieht. Es ist stets strittig, und es führt immer in den Streit. Wenn es zu Anklängen und Übereinstimmungen kommt, dann immer nur dort, wo vom Bezug auf Kreuz und Auferweckung abgesehen, auf die Pointe des christlichen Gottesverständnisses also verzichtet wird. Dann leben und weben wir alle in Gott, finden ihn überall, erfreuen uns der Zustimmung der Philosophen und anderen Religionstraditionen, können ihm aber wie die Athener nur einen Altar mit der Aufschrift »Dem unbekannten Gott« widmen, weil mit »Gott« von nichts die Rede ist, von dem andere nicht auch sagen würden, dass von nichts die Rede ist, von dem andere nicht auch sagen würden, dass von nichts die Rede ist … – bis dann mit »Gott« wirklich von nichts mehr die Rede ist. Kommt dagegen der Kern der christlichen Botschaft zur Sprache, die Auferweckung von den Toten, spotten die einen und die ande ren vertagen das weitere Gespräch auf den St. Nimmerleinstag. Kurz: Ohne Streit mit den Ansichten der anderen gibt es kein christliches Gottesverständnis und hat es auch nie eines gegeben.

Die erste Differenz belegt, dass dieser Streit nicht nur äußerlich ist, im Verhältnis zu den vielen anderen, sondern dass er intrinsisch zum christlichen Gottesverständnis gehört: Dieses hat keine einheitliche Erfahrungsgrundlage und ist nicht aus der Erfahrung eines Einzelnen hervorgegangen, sondern aus den gegenläufigen Erfahrungen Verschiedener, die sich nicht ineinander auflösen oder in ein Drittes aufheben lassen. Das ist die grundlegende Unbestimmtheit, die christliches Leben und Denken offen und in Bewegung hält, und zwar als Gemeinschaftsprozess und nicht nur als Solopartie Einzelner.

Von Anfang an wurde Gott in der christlichen Theologie des-halb nicht in der diskursiven Theorieform monologischen Denkens gedacht, sondern in der kontroversen Gesprächsform eines vielstimmigen Streits über einem Abgrund der Erfahrung und des Verstehens, der am Kreuz aufgebrochen ist und dessen produk­tive Un­bestimmtheit sich nicht auflösen und in einen kohärenten Gedanken einholen oder aufheben lässt, sondern im Widerstreit der Erfahrungen, Sichtweisen und Gesichtspunkte immer wieder neu ausgetragen und wiederholt wird. Keiner denkt hier allein, und keiner denkt wie der andere. Das christliche Gottesverständnis ist ein unablässiges Streitgespräch darüber, was man denken könnte, müsste und sollte, wenn man von, mit, über, zu und vor Gott spricht. Keine Bestimmung bringt diesen auf den Begriff, jeder ist vielmehr eine unauflösliche Unbestimmtheit eingeschrieben, die das Gespräch weitertreibt und dazu nötigt, von diesem Gott nicht zu schweigen, sondern immer wieder auf bestimmte Weise zu re­den.

Die trinitarische Denkform trägt dem Rechnung, indem sie als Grammatik dieses Streitgesprächs die Differenzen wahrt, die sich den gegenläufigen Erfahrungen von Jesu Gottesbotschaft, Jesu Kreuz, der Geisterfahrung der Christen und der Sicht der Nichtchristen verdanken: Man muss immer mehreres zugleich sagen, wenn man von Gott spricht, und zwar irreduzibel Verschiedenes unter den Stichworten des Vaters, des Sohnes, des Geistes und der Welt, von der Vater, Sohn und Geist als Gott und damit als Schöpfer, Erlöser und Vollender unterschieden werden. Zusammengehalten wird all das durch den Bezug auf das Kreuz, an dem diese Differenzen nicht aufgehoben werden, sondern gerade aufbrechen. Mit Recht ist das Kreuz daher zum Zentralsymbol des Christentums geworden.

Im Zentrum des christlichen Gottesverständnisses liegt so ein Erfahrungsstreit und Bestimmungskonflikt, der sich nicht auf­-lösen lässt. Der Bezug auf das Kreuz bestimmt dieses Gottesverständnis nicht, sondern loziert seine Unbestimmtheit so, dass das christliche Gott-Denken in diesem Streit der Stimmen und Erfahrungen in Bewegung bleibt, ohne seine Kontur und seine Pointe zu verlieren.

Entscheidend dafür ist die zweite Differenz. Sie sorgt dafür, dass dieser Disput wirklich ein Streit um das rechte Verständnis Gottes und nicht nur ein letztlich überflüssiger Meinungsstreit ist. Jesu Selbstsicht ist anders als die Fremdsicht seiner Anhängerinnen und Anhänger, auch wenn sie am Karfreitag nicht weit auseinander gelegen haben dürften. Aber mehr als verständliche Meinungen sind sie beide nicht. Betrachtet man sie in ihrem jeweiligen Kontext, sind jedoch beide durch Veränderungen charakterisiert, die gegenläufig sind: Während nach Mk Jesu Haltung gegenüber Gott am Kreuz von Vertrauen und Zuversicht zu Verzweiflung und Enttäuschung umgeschlagen zu sein scheint, wandelt sich die Sicht seiner Anhängerinnen und Anhänger von Enttäuschung und Angst zu Hoffnung und Zuversicht, von ihrer vorösterlichen zu ihrer österlichen Sicht, von ihrer menschlichen Sicht am Karfreitag (Verzweiflung, Angst und Enttäuschung über Jesu Tod) zu der neuen Sicht an Ostern (Auferweckung, Osterfreude, neues Leben, Hoffnung), die sie ausdrücklich nicht sich selbst, ihrem kreativen Nachdenken oder peniblen Faktencheck, sondern – aufgrund der Er­scheinungen des Gekreuzigten und des Wirken des Heiligen Geis­tes – Gottes Tun zuschrieben und deshalb als gottverdankte göttliche Sicht verstanden. Das Entweder/Oder zwischen Jesu Sicht und ihrer Sicht verknüpft sich so an ihrem Ort mit dem anderen Differenzmuster zwischen – aus ihrer Sicht gesprochen – menschlicher und göttlicher Sicht auf diese Ereignisse.

Das geschieht im Verweis auf Gottes Tun, aber dieser Verweis macht den Wechsel zwischen Karfreitagssicht und Ostersicht an ihrem Ort nicht verständlich, wenn diese Differenz nicht auch am Ort des Gekreuzigten geltend gemacht werden kann. Doch was an ihrem Ort als Differenz der Sichtweisen im Vorher und Nachher ihres Lebens auftritt – zuerst verstanden sie das Geschehen am Kreuz Jesu so, dann anders –, lässt sich am Ort des Gekreuzigten so nicht verstehen: Jesus war tot. Ohne diese Wahrheit gäbe es kein Ostern und keine österliche Sicht.

Der Verweis auf Gott führt am Ort des Gekreuzigten deshalb zu einer anderen Antwort: Nicht Jesus sah das Geschehen am Kreuz zunächst so und dann anders, sondern er erlebte es so, und Gott sieht es anders. Am Ort Jesu lässt sich die Differenz zwischen vorösterlicher und österlicher Sicht nicht als Nacheinander zweier Sichtweisen in der Kontinuität eines Lebens darstellen, sondern wird als Diskontinuität zwischen Jesu irdischem Leben in den Tod und Jesu göttlichem Leben aus dem Tod in der Kontinuität des Lebens Gottes zur Geltung gebracht: Das Alte ist vergangen, Neues hat begonnen – durch Gott. Das Bekenntnis von der Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott bringt es auf den Punkt.

Der Rekurs auf Gott ist in beiden Fällen entscheidend. Während Jesu Anhänger an ihrem Ort Gott bzw. Gottes Geist ihre neue österliche Sicht auf das Kreuz zuschreiben, wird Gottes Geist am Ort des Gekreuzigten als der schöpferische Geist eines neuen göttlichen Lebens aus dem Tod bestimmt: Es ist derselbe Geist Gottes, der dem Gekreuzigten neues göttliches Leben gibt und ihnen die österliche Sicht eröffnet. Gottes Geist erschließt, was er macht, und macht, was er erschließt. Damit fällt bei ihm zusammen, was bei Menschen stets auseinanderklafft: das, was geschieht, und das, wie es verstanden und erkannt wird. Und deshalb beginnt das Christentum nach Überzeugung der Christen nicht mit einem bloßen Meinungswechsel, sondern mit einer Gottestat: Am Kreuz ist das alte Leben in der Gottferne zu Ende gegangen und das neue Leben in der Gottesgegenwart hat begonnen – weil Gott selbst gegenwärtig wurde, wo niemand mehr damit gerechnet hatte oder damit rechnen konnte. Gottes Gegenwart ist Gottes kreative Selbstvergegenwärtigung, die selbst dort noch Neues schafft, wo nichts mehr möglich zu sein scheint. Für die Christen bedurfte es daher keiner Kultveranstaltungen, keiner Opferpraxis, keiner Priester, keiner Wallfahrten zu heiligen Orten mehr, um in Gottes Gegenwart zu kommen. Gott ist da und schafft neues Leben mitten im Alltag des alten, ja mitten im Leiden, Sterben und Tod. Ihre Geisterfahrungen verstanden sie als Beleg dafür. Und das Wort vom Kreuz, das Evangelium von der Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott als Beginn und Ermöglichung des neuen Lebens für alle, wurde das Paradigma, nach dem sie ihre Geisterfahrungen als Angeld auf die Zukunft mit Gott und als Beglaubigung ihrer Hoffnung auf ein neues Leben verstanden.

3. Hoffnung und Widerspruch


Aus diesem Umschlag kollektiver Enttäuschung in radikale Hoffnung ist das Christentum entstanden. Dieser Umschlag definiert das Christentum, und damit auch das Gottes- und Selbstverständnis der Christen: Gott ist der, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Sein ruft (Röm 4,17), und Christen sind Menschen, die deshalb wider alle Hoffnung auf Gott hoffen (Röm 4,18). Sie setzen auf Gott, nicht auf ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Daher können sie in aller Gelassenheit jedem, der sie fragt, von dieser Hoffnung Rechenschaft geben (1Petr 3,15), wohl wissend, dass nicht die Überzeugungskraft ihrer Argumente, sondern das Wirken von Gottes Geist diejenigen überzeugt, die überzeugt werden.

Was Christen auszeichnet, ist nicht, dass sie aus Vernunftgründen unerschütterlich glauben, sondern dass sie wider allen Augenschein hoffen. Grund dieser Hoffnung ist nichts, was man sehen, fassen, beschreiben, aufweisen, nachweisen oder wahrscheinlich machen könnte. Sie hoffen nicht auf etwas, was vor Augen liegt, sondern gerade umgekehrt auf etwas, was sich nicht zeigt und nicht zeigen lässt: Gottes wirksame Gegenwart, die auch im Tod noch Leben schafft und Neues möglich macht, wo alles unmöglich zu sein scheint.

Diese Hoffnung haben Christen von Anfang an nicht auf ihre Einsicht, sondern auf das Wirken von Gottes Geist gegründet. Eine Erfahrung mit aller Erfahrung macht der Wechsel von Karfreitag zu Ostern nur möglich, weil er zunächst einmal eine Erfahrung gegen alle Erfahrung ist. Es ist anders, als es scheint. Und zwar grundlegend anders.

Dieser kontrafaktische Realismus ist die Signatur des Christentums. Es findet sich weder mit der Vergänglichkeit des Guten noch mit der Unveränderlichkeit des Üblen ab, sondern setzt dem Konsens erfahrungsbasierter Wahrscheinlichkeiten den stets strittigen Einspruch der Hoffnung auf die Möglichkeit von radikal Neuem entgegen. Von Anfang bis Ende lebt es aus diesem Geist des Widerspruchs und der Hoffnung des Widerspruchs gegen die Wirklichkeiten eines Lebens, das zum Tod führt, und der Hoffnung auf die Möglichkeiten eines Lebens, das aus dem Tod in das Leben Gottes führt.

Verliert evangelische Theologie bei ihrer Beschäftigung mit den Wirklichkeiten und Möglichkeiten des menschlichen Lebens diesen Widerspruch und diese Hoffnung aus den Augen, wird sie überflüssig, weil sie sich dann nicht von all dem unterscheidet, was andere an der Universität auch tun. Behält sie diesen Widerspruch und diese Hoffnung aber im Blick und setzt sich dem Streit und den Spannungen aus, die sie damit nicht umgehen kann, dann wird sie so provozierend, interessant und faszinierend bleiben, wie ich sie immer erlebt habe, und dann wird sie noch eine lange Zukunft haben – auch in Zürich.

Summary


Theology’s major challenge is to speak in a definite way about that which cannot be defined. The paper argues that God’s indeterminacy is a limit notion that is understood differently in epistemic contexts (unintelligibility) and soteriological contexts (sin). Whereas the theistic and transcendental projects concentrate on the first, theology as a reflective orienting practice cannot ignore the second. This involves a shift of perspective. Whereas Kant, Schleiermacher or Hegel construe the term »God« in a 3 rd person perspective as an ideal, an index term, a symbol or an epitome of everything true and good, Christian theology ought to construe it in a 2nd person perspective as a human response to divine self-determination as disclosed in God’s Word in history. The Trinitarian thought-form is an elaboration of the latter, not a speculative theory about the divine along the lines of the former. This thought-form spells out the principle indeterminacy which lies at the very core of Christianity, i. e. the cross and resurrection of Christ, in a determinate way. From the beginning the determinate indeterminacy of God in the event of Jesus Christ’s cross and resurrection has been the productive ground of a multiplicity of theological views about God, Jesus Christ, human life and the world. None of them can claim to present the truth about God and the world in a single definitive way but all of them are Christian only in so far as they determine their way of speaking about the indeterminable by reference to the event in which the indeterminable became determinable as indeterminable in a determinate way.

Fussnoten:

1) Abschiedsvorlesung in Zürich am 29.05.2013. Nach Zürcher Brauch wurde sie in der letzten Doppelstunde meiner Christologie-Vorlesung im Frühjahrsemester 2013 gehalten. Für den Druck wurde auf Anmerkungen weitgehend verzichtet.
2) I. U. Dalferth, Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, 1.
3) Dingliche Rechte können nur an einer ganz bestimmten Sache bestehen. Anders als das Schuldrecht kennt das Schweizerische Sachenrecht keine Rechte an Gattungssachen, sondern nur an individuellen Gegenständen. Vgl. J. Schmid/ B. Hürlimann-Kaup, Sachenrecht, Zürich 42012; http://www.123recht.net/Das-Spezialitaetsprinzip-__a3385__p3.html (13.6.2013).
4) J. Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006; ders., Die drei monotheistischen Religionen und Gewalt, LMU Ringvorlesung »Wir und die anderen. Voraussetzungen für Gewalt und Frieden«, (22.11.2005) http://videoonline.edu.lmu.de/node/1282 (14.6.2013).
5) Vgl. A. Grøn, Paradoxe des Denkens – paradoxes Denken, in: I. U. Dalferth/ A. Hunziker (Hrsg.), Gott denken – ohne Metaphysik? Zu einer aktuellen Kontroverse in Theologie und Philosophie, Tübingen 2013, 79–94, 83.
6) L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 6.4311, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, 125: »τὸ φρικωδέστατον οὖν τῶν κακῶν ὁ θάνατος οὐθὲν πρὸς ἡμᾶς͵ ἐπειδήπερ ὅταν μὲν ἡμεῖς ὦμεν͵ ὁ θάνατος οὐ πάρεστιν͵ ὅταν δὲ ὁ θάνατος παρῇ͵ τόθ΄ ἡμεῖς οὐκ ἐσμέν.« (Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir exis­tieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.) Das gilt allerdings nur für meinen Tod, nicht für den Tod des anderen. Der kann sehr nachdrücklich von mir erlebt werden und mein Leben unwiderruflich verändern.
7) I. Kant, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, AA XXVIII, 996.
8) A. a. O., 993.
9) A. a. O., 994.
10) Vgl. I. Kant, Logik, AA 9, 25.
11) Vgl. A. Farrer, Love Almighty and Ills Unlimited. London/Glasgow 1962, 93–99; ders., Faith and Speculation. An Essay in Philosophical Theology contain­ing the Deems Lectures for 1964, London 1967, Kapitel 5.
12) A. Augustinus, Sermo 52, 16: PL 38, 360.