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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1416–1419

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Strube, Sonja Angelika

Titel/Untertitel:

Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11,1–46.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2009. 446 S. = Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik, 34. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-10095-5.

Rezensent:

Detlef Dieckmann-von Bünau

Mit dieser Monographie veröffentlicht die frühere Erwachsenenbildnerin Sonja Angelika Strube ihre Habilitation, die von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommen und u. a. von Ottmar Fuchs betreut wurde. S.s Werk ist in einem neuen Forschungsgebiet angesiedelt, für das der Rezensent den Begriff »Empirische Bibelforschung« vorschlägt (vgl. auch die Rezension in ThLZ 135 [2010], 24–26). S. will eine Brücke schlagen zwischen der oft als defizitär angesehenen »Alltagsbibellektüre« (23) und einer wissenschaftlichen Exegese, die häufig als »historisches Spiel im Elfenbeinturm« (14) erscheine.
Hermeneutisch geht S. von der »dekonstruktivistischen Herausforderung« (28) aus, die jedes Textverstehen als Konstruktion begreift: Denn auch wissenschaftliche Exegese könne prinzipiell nicht »sauber« zwischen dem Forschungsobjekt »Text« und dem forschenden bzw. lesenden Subjekt trennen (28 f.). Daher seien nicht nur nichtwissenschaftliche, sondern auch wissenschaftliche Lektüren stets »als ›Protokolle‹ eines Dialogs zwischen Exeget/Exegetin und Text« zu verstehen. Wissenschaftliche Bibelauslegung will S. von der »Angst vor der ›totalen Beliebigkeit‹ der Lektüren« befreien und fordert darum, »Kontextabhängigkeit und Subjektivität« hermeneutischer Aktivitäten »als konstruktive und produktive Chance verstehen zu lernen« (31 f.). Denn im Grunde genommen stelle die »empirische Erforschung heutiger Bibellektüren […] nur einen kleinen naheliegenden und konsequenten Schritt der Erweiterung des exegetischen Interessenspektrums« (27) dar, der zudem den Graben zwischen Exegese und Praktischer Theologie überwinden könne. – Bei ihrem »Streifzug« (38) durch die empirische (praktisch-)theologische Forschung entdeckt S. zwar Mitstreiter für ihre konstruktivistische Hermeneutik, bemängelt bei diesen jedoch stets die nur unzureichend berücksichtigte Subjektivität der Exegetinnen und Exegeten (38–48).
Vor ihrer eigenen empirischen Untersuchung hat S. »nur eine sehr eingeschränkte eigene Analyse der Textstrukturen« des ausgewählten Textes in Joh 11 vorgenommen und sich Rechenschaft über die eigenen Leseeindrücke von Joh 11 auf der Basis der Einheitsübersetzung abgelegt, um sich »einen möglichst offenen Blick für die Zusammenhänge zu bewahren«, die ihre »InterviewpartnerInnen entdecken« (55).
Als Methode zur Datenerhebung wählt S. qualitative Leitfadeninterviews aus, die sie nach dem Vorbild der Sozialforschung führt. Die Auswahl von Joh 11 begründet sie damit, dass dieser Text »als Einzelperikope auch ohne Kenntnis seines größeren Erzählkontextes verständlich ist« und »Sympathieträger anbietet, die zur Identifikation einladen« (61). Die Einzelinterviews enthalten zum großen Teil sehr offene kognitive, emotionale und pragmatische Leitfragen wie z. B.: »Was fällt Ihnen spontan zum Text ein? […] Was ist Ihnen am wichtigsten an diesem Text? […] Was würden Sie gerne noch über den Text erfahren?« (64). Für die Auswertung der nicht veröffentlichten Transkriptionen entwickelt S. ein eigenes Auswertungsverfahren, bei dem sie auf ihre »exegetische Erfahrung mit synchronen Methoden der Textfeldanalyse« (66) zurückgreift und nach Sinnlinien sucht sowie Wortfeldanalysen von Begriffs-, Themen- und Gedankenwiederholungen vornimmt.
Im Hauptteil ihrer Arbeit stellt S. die zehn Interviewpartnerinnen und -partner anhand ihrer Altersspannen, der Lebensorte, ihrer »Bekenntnisse« (73), ihrer Berufe und Familienverhältnisse sowie hinsichtlich ihrer Beziehung zur Autorin kurz vor. Für einige der Interviewten ist die Bibel ein »Glaubensbuch«, andere, bibelferne Interviewte schauen »unverblümt auf biblische Texte und Traditionen« (59), wie S. formuliert.
Die darauffolgenden »Kurzporträts« der einzelnen Interviews (76–129) zeichnen nicht nur einfühlsam die Verständnisbildungen nach, sondern lassen auch die Schwierigkeiten und Unsicherheiten der Interviewten bei ihrer jeweiligen Suche nach einem kohärenten Verständnis des Textes klar hervortreten. Insgesamt beobachtet S., dass die Identifikation der Interviewten mit den Figuren des Textes eine große Rolle spielt, wobei sich die meisten Interviewten unabhängig von ihrem Geschlecht mühelos in Marta hineinversetzen können, während nichtchristliche Leserinnen und Leser sich weniger häufig mit Jesus identifizieren als christliche Rezipientinnen und Rezipienten. Gleichzeitig arbeiten christliche Lesende eine größere Zahl an Themen heraus, während nichtchristliche konsequenter nach einer Hauptaussage wie »Glaube und Auferstehung« (136) und dem appellativen Charakter des Textes suchen. Es werden verschiedene Strategien sichtbar, die »Wunderwelt des Textes und unsere Realität« miteinander zu vermitteln. Sowohl christliche als auch nichtchristliche Leserinnen und Leser äußern häufig »den Wunsch nach zusätzlichen Hintergrundinformationen und Hilfestellungen für das kognitive Verstehen des Textes« (167). Auffällig ist, dass fast alle Interviewte im Text eine »lebenspraktische Relevanz« (170) wahrnehmen.
Im Hauptteil untersucht S. »aktuelle Exegesen« (171) zu Joh 11, und zwar mit denselben Methoden (!) wie bei den Intensivinterviews. Dazu zieht sie Auslegungen von Ludger Schenke, Christian Welck, Klaus Wengst, Otto Schwankl, Michael Theobald, Christina Hoegen-Rohls, Hanna Rose, Andrea Link, Adele Reinhartz und Peter Dschulnigg heran. Den wesentlichen Unterschied zwischen Interviews und fachwissenschaftlichen Exegesen sieht S. darin, dass die Interviews den Interpretationsprozess wiedergeben, während die Exegetinnen und Exegeten das Ergebnis ihres Dialoges mit dem Text referieren (286). Als weitere, inhaltliche Differenz komme hinzu, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anders als Alltagslesende »die Frage nach der lebenspraktischen Relevanz« des Textes nicht explizit behandeln, weil sie, wie S. vermutet, dies nicht als ihre Aufgabe ansehen (308).
Übereinstimmungen zwischen den wissenschaftlichen Exegesen findet S. darin, dass viele Forschende zwar »diachroniekritisch« (287) arbeiten, gleichzeitig aber an der historischen Dimension der Texte interessiert sind, die sie als transparent auf die Situation der johanneischen Gemeinde betrachten (291). Gemeinsam sei den akademischen Auslegungen zudem das insistierende Fragen nach der Autorenintention – auch dort, wo der Evangelist Johannes als impliziter Autor betrachtet und in einem linguistischen Bezugsrahmen gearbeitet wird.
Insgesamt überrascht S. die »große Homogenität der Exegesen« (316), selbst wenn sich immer wieder zeige, »dass gleiche Methoden, Fragestellungen und sogar Einzelbeobachtungen immer auch zu abweichenden Meinungen führen können« (317).
In ihrer »kritische[n] Würdigung« (321–384) der verschiedenen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Leseweisen stellt S. zudem fest, dass Lesende in beiden Bereichen ein Bewusstsein »für die Mehrstufigkeit der Entstehungsgeschichte biblischer Texte« (336) entwickeln und »bildlich-übertragende Deutungs­muster« (339) heranziehen. Auffällige Divergenzen bestehen darin, dass wissenschaftliche Exegesen ein »Hang zur Fixierung auf die Frage nach der bewussten Autorenintention« auszeichne, während sich Nicht-Exegeten bewusst sind, dass sie die Autorenintention nicht kennen (344), gleichzeitig aber deutlich schneller von den Texten auf den historischen Jesus schließen. Zudem wird Jesus von den Alltagsleserinnen und -lesern stärker als Mensch wahrgenommen, wohingegen in den wissenschaftlichen Exegesen Jesu göttliche Herkunft und die johanneische Verkündigung eine größere Rolle spielen (349).
In der Konsequenz sieht S. »solide Anknüpfungspunkte« zwischen Wissenschaft und Alltagslektüre. Dabei legt sie ein besonderes Augenmerk auf die Lernchancen der Wissenschaft: Vor allem könne die Wissenschaft von der Alltagslektüre lernen, »ich« zu sagen, also die eigene Subjektivität jedes Textverstehens anzuerkennen: »Die interviewten LeserInnen grenzen den Geltungsbereich ihrer Deutungen immer wieder klar ein und schützen den Text durchaus vor Übergriffen ihrer eigenen Erfahrung, indem sie deutlich zwischen Textaussage und eigener Lebenserfahrung un­terscheiden – auch und gerade dort, wo sie Parallelen sehen.« (362) Anders als die – nach der Verfasserintention fragenden – Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verwechseln demnach die Alltagsleserinnen und -leser ihren eigenen Textzugang gerade nicht mit der Verkündigungsabsicht des Textes (vgl. 373).
Im Schlussteil des Buches skizziert S. ihr Konzept einer »Praktischen Exegese«, die die entscheidende Dimension des Bibelverstehens »nicht theoretisch und spekulativ am Schreibtisch« erarbeiten könne, sondern sie an ihrem Ursprung aufsuchen müsse: »an ihren Entstehungsorten, in Gemeinden und anderen Gruppen, in Schulen und Liturgien etc.« (401). Diese »Praktische Exegese«, fordert S., »muss wesentlich eine […] hörende Forschung sein, und sie wird deshalb eine empirische, wo möglich qualitative sein« (401). Diese »empirische Erweiterung« der Exegese sei zudem »eine mögliche Lösung ihres Relevanzproblems« (ebd.)
Nicht erst am Ende dieser Monographie wird deutlich: Auch wenn S. ihre Arbeit nicht in der exegetischen Wissenschaft ansiedelt, sondern in der Praktischen Theologie bzw. »im Grenzgebiet« zwischen beiden Disziplinen, so stellt diese Arbeit doch eine konstruktiv(istisch)e und anregende Provokation für die exegetische Wissenschaft dar, die sich auf eine methodisch sehr sorgfältige qualitativ-empirische Untersuchung und auf wohlüberlegte hermeneutische Folgerungen gründet. Man darf gespannt sein, wie die wissenschaftliche Exegese diese fundamentalen Anfragen aufnimmt und beantwortet.