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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1410–1412

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Domsgen, Michael, Schluß, Henning, u. Matthias Spenn [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was gehen uns »die anderen« an? Schule und Religion in der Säkularität.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 186 S. m. 4 Abb. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-525-70164-5

Rezensent:

David Käbisch

Konfessionslosigkeit gilt vielerorts als eine ostdeutsche und außerunterrichtliche Herausforderung. Der angezeigte Sammelband, der die Beiträge einer Tagung an der Universität Halle-Wittenberg vereint, fügt sich in dieses Bild ein: Alle Beiträge thematisieren das »Beispiel Ostdeutschlands« (23) und konzentrieren sich auf die außerunterrichtlichen Handlungsfelder der Religionspädagogik, darunter Schulandachten und Schulprojektwochen mit Kirchengemeinden vor Ort. Religionslehrkräfte, die eine fachdidaktische Orientierung für das gemeinsame Lernen mit Konfessionslosen erwarten, dürften daher in diesem Band kaum fündig werden. Im Mittelpunkt steht nicht die Mikroebene unterrichtlichen Handelns unter Normalbedingungen, sondern die auf außerunterrichtliche Projekte bezogene Meso- und Makroebene der Schulentwicklung und Bildungspolitik.
Zu Beginn der acht Beiträge beschreibt Monika Wohlrab-Sahr die »Forcierte Säkularität« in der DDR und die damit verbundenen »Logiken der Aneignung repressiver Säkularisierung« in ostdeutschen Familien (27–48). Es handelt sich dabei um den Wiederabdruck einer bereits 2011 erschienenen Zusammenfassung eines abgeschlossenen DFG-Projektes. Die Soziologin betont, dass »das Label der ›erzwungenen Säkularisierung‹ zwar als Beschreibung der politischen Maßnahmen und ihrer Effekte angemessen sein mag, dass es den sozialen Prozess, der damit verbunden war, aber nur unzureichend erfasst« (45). Auch in einer Diktatur seien die Menschen in der Lage gewesen, sich aktiv mit den staatlich propagierten Religionstheorien auseinanderzusetzen. Die Nachhaltigkeit der staatlich forcierten Säkularisierung könne demnach nur damit erklärt werden, dass sie in ihren aufklärerischen Anliegen noch heute plausibel ist. Insbesondere die populäre Kritik an Kreuzzügen und Konfessionskriegen verweise auf die grundlegende Konflikthaftigkeit von Religion in der Moderne: Denn neben dem permanenten Streit zwischen Religionen und Konfessionen gibt es auch heute Konflikte um die bessere Moral und Auseinandersetzungen zwischen einer naturwissenschaftlichen und religiösen Weltdeutung, so dass – so wäre zu ergänzen – die Ablehnung aller Religion als bessere Alternative zu einer per se konfliktreichen religiösen Lebensorientierung erscheint.
Aus der religionssoziologischen Darstellung ergibt sich eine Reihe an Bildungsaufgaben, darunter der Umgang mit den drei ge­nannten Konfliktarten. Der Band teilt in diesem Zusammenhang jedoch ein Grundproblem vieler Sammelbände: Die Beiträge sind unabhängig voneinander entstanden und nehmen kaum auf die »Grundlegung« Bezug (Ausnahmen: 84 f. und 167). Gleichwohl lassen sich einige Artikel als Vertiefung der Eingangsthesen lesen. So beschreibt Daniel Tröhler die seit der Aufklärung wirksamen Motive für eine Säkularisierung der Schule und bestätigt damit Wohlrab-Sahrs These, dass die DDR ältere religionskritische Motive verstärkt, aber nicht »erfunden« habe. Der Autor selbst vertritt ferner die streitbare Meinung, dass die Säkularisierung der Schule »weder von der Öffentlichkeit und schon gar nicht von der Erziehungswissenschaft radikal gefordert wurde«, da Religion stets als »das legitimatorische Fundament der Schule« galt und – so die abschließende These des Autors – auch heute gelten könne (62).
Mit seiner Analyse einer in den 1970er Jahren zu Lehrzwecken aufgezeichneten Geschichtsstunde über die Ermordung Karl Liebknechts bietet Henning Schluß ein anschauliches Beispiel für die von Wohlrab-Sahr beschriebene forcierte Säkularisierung an DDR-Schulen. So hatte Liebknecht in einer Schrift den »Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse« und den »Tag der Erlösung« beschworen– eine Semantik, die der Lehrer unter Absehung ihrer religiösen Wurzeln auf die Deutung des Todes des Arbeiterführers zu beziehen suchte (69). Schluß entwickelt aus diesem Fallbeispiel den zustimmungsfähigen Appell, dass religiöse Bildung ein Teil allgemeiner Bildung sein müsse, ohne diese Bildungsaufgabe mit der Partizipation an einer religiösen Praxis (oder dem Glauben selbst) zu verwechseln (75).
Der anschließend von Michael Domsgen und Matthias Spenn verfasste Beitrag kann als das Herzstück des Bandes gelten, da die titelgebende Frage systematisch beantwortet wird. Zunächst findet sich eine Reihe konsensfähiger Aussagen, darunter die Forderung, dass sich die Beschäftigung mit Religion nicht auf den Religionsunterricht beschränken sollte (88) und Gemeinden neben Vereinen und Musikschulen das Schulleben mitgestalten sollten, zumal der Ausbau von Ganztagsschulen das Zeitbudget für außerschulische Aktivitäten einschränkt (94). Plausibel ist angesichts der Befunde von Wohlrab-Sahr ferner die religionstheoretische Annahme, dass Religion keine ›naturnotwendige‹ Konstante, sondern ein Kommunikationszusammenhang sei, an dem Kinder und Jugendliche per Sozialisation und Erziehung partizipieren können oder (wie in Ostdeutschland mehrheitlich der Fall) auch nicht. Alle Konzepte einer an impliziter, unsichtbarer oder individualisierte Religion orientierten Bildungsarbeit weisen die Autoren daher zurück (86 f.). Schließlich fordern die Autoren, dass in der Schule Begegnungs- und Partizipationsmöglichkeiten mit bzw. an einer religiösen Praxis ausgebaut werden müssen, was nur außerhalb des Unterrichts möglich sei und neue Arbeitsfelder für die Gemeindepädagogik erschließe. In diesen Abschnitten zeigt sich besonders deutlich, dass die beiden Autoren die Aufgaben religiöser Bildung vor allem von der Gemeinde her definieren.
Die Praxisbeispiele von Carsten Passin (über eine Schulprojektwoche zu Luther), Georg Bucher/Michael Domsgen (über ein Schulprojekt mit Geocaching durch Eisleben, »Promigespräch« und Be­gegnungen mit »authentischen« Religionsvertretern) und Frank M. Lütze (über Schulgottesdienste, Chorarbeit, Exkursionen in Kommunitäten und die Mitarbeit in Altenheimen) teilen die Ge­meinsamkeit, dass sie sehr personal- und kostenintensiv sind und nicht von unterrichtlichen Normalbedingungen ausgehen. Lediglich Lütze geht auf den Religionsunterricht ein und plädiert (im Anschluss an die bekannte Unterscheidung von Charles Glock) dafür, Religion in all ihren rituellen, ethischen etc. Facetten kennen zu lernen, wobei die »Grenze zwischen teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme« an einer religiösen Praxis verschwimmen könne (159).
Hier bekundet Lütze eine gewisse Offenheit für Formen des Probehandelns, die Domsgen in seinem Schlussbeitrag zurückweist: Zum einen könne das mit religiösen Handlungen verbundene Denken und Fühlen »nicht modellhaft abgebildet werden«, und zum anderen bestehe die Gefahr, dass Religion »ins Folkloristische abgleitet« (164). Hier sieht Domsgen zu wenig, dass die von ihm kritisierte »Künstlichkeit« (165) von Probehandlungen der Eigenlogik unterrichtlichen Lernens entspricht (vgl. etwa Rollenspiele im Deutschunterricht, fiktive Briefe in Englisch oder »nutzlose« Experimente in Physik). Auch geht es einer Didaktik des Perspektivenwechsels nicht darum, das Denken, Fühlen und Handeln religiöser Menschen im Unterricht modellhaft abzubilden oder gar zu übernehmen. Die angestrebte Perspektivübernahme ist vielmehr eine Form der kognitiven Imagination, die allein das Ziel verfolgt, das Denken, Fühlen und Handeln religiöser Menschen zu verstehen – eine Bildungsaufgabe, die auch Konfessionslosen gegenüber vertretbar ist.
Die Religionspädagogik war lange Zeit zu Unrecht auf den Religionsunterricht fixiert. Mit diesem Sammelband scheint das konzeptionelle »Pendel« nun in die andere Richtung auszuschlagen, denn hier wird dem Religionsunterricht kaum noch etwas zugetraut. Die von den Autoren angestrebte »Gemeindepädagogisierung« schulischer Bildungsarbeit leistet zudem dem Missverständnis Vorschub, dass Religion als Privatsache nicht in den Fächerkanon, sondern – wenn überhaupt – in das Ganztagsangebot von Schulen gehöre. Es wäre daher wünschenswert gewesen, in der Gesamtkonzeption nicht nur außerunterrichtlichen, sondern auch unterrichtlichen Bildungsangeboten Aufmerksamkeit zu schenken. Auch die von Wohlrab-Sahr skizzierten Bildungsaufgaben bedürfen einer fachdidaktischen Vertiefung, damit das gemeinsame Lernen mit Konfessionslosen unter schulischen Bedingungen (und das keineswegs nur in Ostdeutschland) gelingen kann.