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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1408–1410

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schneider, Martin

Titel/Untertitel:

Raum – Mensch – Gerechtigkeit. Sozial­ethische Reflexionen zur Kategorie des Raumes.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2012. 726 S. Geb. EUR 89,00. ISBN 978-3-506-77542-9.

Rezensent:

Ulrich Beuttler

Die vorliegende Dissertation von Martin Schneider wurde 2011 im Fach Christliche Sozialethik von der Katholisch-Theologischen Fakultät in München angenommen. Der Titel zeigt das dreiglied­rige Unternehmen an. Auf der Basis eines soziologischen und an­thropologischen Raumverständnisses soll ein Konzept von raumbezogener Gerechtigkeit entfaltet werden: »Mensch – Raum – Gerechtigkeit« ist nicht nur Thema, sondern auch Methode und Anlage des Buches. Dazu möchte der Vf. das erhöhte Rauminteresse in den verschiedenen philosophischen, soziologischen, geographischen Disziplinen – man spricht nicht ohne Grund vom »spa­tial turn«, der praktisch alle Geistes- und Kulturwissenschaften erfasst hat – für die christliche Sozialethik fruchtbar machen. Dies hält er für möglich darin, dass einerseits der Raum ein »Existenzial« menschlichen Daseins ist. »Es gibt keine menschliche Existenz außerhalb von Raum und Zeit.« (19) Andererseits soll einem Defizit in der sozialethischen Begriffs- und Theoriebildung, dass bislang das Soziale weitgehend unter Absehung des Räumlichen gedacht worden sei, dadurch entgegengewirkt werden, dass gezeigt werden soll, wie sich soziale und räumliche Prozesse und Strukturen ge­genseitig bedingen. Die anthropologische Verankerung von Raum einerseits wie die soziologische Verwobenheit von Räumen andererseits also soll Zugänge zu einer »raumbezogenen Gerechtigkeit« (20) eröffnen.
Die drei Hauptteile der Arbeit betreffen folgerichtig – nach einer um­fänglichen Einleitung und einem wissenschaftshistorisch re­konstruierenden Teil – den Menschen als Gestalter von Räumen (Kapitel 3: 195–306), die anthropologische Fundierung unter dem Stichwort »Philosophie des Wohnens« (Kapitel 4: 307–398) und schließlich die Thematisierung verschiedenster Aspekte raumbezogener Gerechtigkeit (Kapitel 5: 399–632).
Auf die Einleitung soll in dieser Rezension eingegangen werden, weil sie der theologischen Grundlegung des Ganzen dient. Der Vf. konstatiert, dass sich in der christlichen Sozialethik bislang kein Autor explizit mit der Kategorie des Raumes auseinandergesetzt habe. Aus dieser formalen Tatsachenbehauptung macht der Vf. ein Prinzip: Er möchte der Vernachlässigung von Raum und Ort entgegenwirken, indem er eine Diagnose von Sigurd Bergmanns in der Tat zu wenig beachteter Arbeit »Raum und Geist. […] eine theologische Ästhetik des Raumes« übernimmt und diese vertiefen möchte (27.32.37), dass nämlich der tiefere Grund für die Vernachlässigung von Raum und Ort darin begründet liege, dass verschiedene Raumauffassungen vermischt werden, besonders die »Behälter-Auffassung« von Raum weiter unreflektiert im Hintergrund stehe, an­statt konsequent zu einem relationalen Raumverständnis überzugehen.
Ein solches relationales Raumverständnis bemüht sich der Vf. in ständiger Abwehr des Behälter-Raumes in den Hauptkapiteln 3 und 4 anthropologisch grundzulegen und in Kapitel 5 soziologisch-geographisch zu entfalten. Er findet es aber auch, theologisch fundamental, in der Trinitätslehre wieder. Die Trinität gilt ihm als Grundmodell einer »perichoretischen Logik« (52), Leben als in Beziehung zu begreifen und entsprechend der Perichorese der trinitarischen Personen als Modell für das Miteinander von Menschen zu verstehen, die einander räumlich in ihrem Leben und Lebensraum wechselseitig durchdringen. Der Vf. zieht aus der trinitarischen relationalen Perichorese eine Reihe von Konsequenzen, u. a. dass dadurch eine Revolution im Seinsverständnis erfolgt sei und der Primat der Substanz durch den Primat der Relation abgelöst sei sowie dass der trinitarische Gottesbegriff zu Sozialität »disponiere« (57) und der Verschlossenheit des Ich-Subjekts ebenso entgegentrete wie dem resignativen Man. Auch entspreche dieser Paradigmenwechsel dem in der Physik »seit Einsteins Relativitätstheorie« vom Container-Raum und Substanz-Merkmalen hin zu Relationen, Feldern und Energien (58). Was da was und wie und wem entspricht, bleibt näherhin ungeklärt, ebenso wie die Metaphorik von »Gott als Raum« und was zu »Schechina«, biblischer und praktischer Theologie und Kirchenräumen angerissen wird (60–91), was aber für die Hauptkapitel auch ohne Belang ist. Signifikant ist die Anmerkung 202, dass Raummetaphern nach Waldenfels selbst aus der »Metapher« eine Metapher machen. Überhaupt verwirrt die Vielzahl und Disparatheit der Raumbegriffe und Themen, die nebeneinandergestellt werden und durch Kurzzitate einer ungeheuren Zahl von Literatur und Anmerkungen akkumuliert werden, mehr als dass sie diese klärt.
Der Vf. will auf 640 Seiten Text, 3000 hintereinander gezählten Anmerkungen, 80 Seiten Literaturverzeichnis, das fast als Verzeichnis der philosophisch-anthropologischen und soziologischen Ar­beiten zum Raum der letzten 100 Jahre gelten kann (obwohl einige gewichtige, vor Veröffentlichung der Arbeit erschienene theologische Beiträge nicht berücksichtigt sind), vielleicht zu viel. Jede einzelne Seite ist instruktiv und bringt immer neue interessante Punkte und das Themenfeld wälzt sich von der Raumvergessenheit in der Soziologie über die »Sozialmorphologie« des Raumes zum Verschwinden des Raums im Zeitalter der Beschleunigung, von phänomenologischen Raumzugängen über soziokulturelle Raumprägungen zu gesellschaftlichen Leitbildern und Raumproduktionen, von räumlichen Erschließungen von Welt über Raumbindungen zum Wohnen als »Klimatechnik«, vom Raum-Haben als Bedürfnis über den grundrechtlichen Schutz der Privatsphäre zu räumlichen Dimensionen von Chancengleichheit, d. h. zu sozialer Benachteiligung durch räumliche Peripherisierung bis zur dagegengestellten normativen Perspektive der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse durch sozialpolitische Kompensation von räumlichen Ungleichheiten.
Was alles in den Haupt-, Neben- und Unterkapiteln mit bis zu fünf Gliederungsebenen dargelegt wird, kann in dieser Rezension nicht vorgestellt werden, es sollen aber des Vf.s These und Ertrag seines Hauptkapitels 5.2 »Räumliche Dimensionen von sozialer Gerechtigkeit« exemplarisch, zur Überprüfung des eigenen An­spruchs, genannt werden. Ziel ist es, die räumlichen Dimensionen von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit offenzulegen. Dazu wird mit Bezug auf soziologische (Bourdieu), sozialwissenschaftliche (Häußermann, Kronauer) und sozialethische Ansätze (Nussbaum) zu zeigen versucht, dass der Raum eine Ressource ist, welche Teilhabemöglichkeiten von Menschen fördert oder einschränkt. Gefordert werden könne hier nicht strikte Gleichheit oder Gleichförmigkeit der Lebensverhältnisse, wohl aber im Sinne eines Befähigungsansatzes die reale Möglichkeit von Personen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und selbstbestimmt zu realisieren (627). Die nicht ausreichende Forderung, gleichwertige Verhältnisse her­zustellen, beruhe auf einem defizitären Raumverständnis einer tendenziell statischen Realität, quasi einer Räumlichkeit von Containern, wohingegen ein relationaler Raum zu Aktivitäten, Deutungen, Raumaneignungen führe, welcher die räumlich bedingte Benachteiligung hin zu sozialverträglichen Raumveränderungen überführe. Dies sei der sozialethische Königsweg zwischen Raumverabsolutierung und Raumvergessenheit hindurch (629).
Die »Schlussbemerkung« öffnet, um gleichsam die Leistungsfähigkeit des Ertrags selbst zu überprüfen, weshalb sie als zweites Exempel hier aufgeführt sei, gleich noch ein Riesenfeld, nämlich die Veränderung von Raumbewusstsein und Raumverhalten durch die modernen Medien, besonders das Internet, Facebook etc., wodurch sich alle behandelten Themen noch einmal stellen, nämlich wie der Mensch Räume konstituiert erstens, wie die Privat­sphäre des Einzelnen geschützt werden kann zweitens und Fragen der sozialen Ungleichheit im Raum des Internets drittens. Der Vf. wendet den Ertrag seiner Arbeit insofern in aller Kürze auf das neue Thema an, als er das Kriterium der gerechten Teilhabe namhaft macht, welches die Frage stellt, wer von der Welt des Internets un­nötig oder ungerechterweise ausgeschlossen wird (639 f.). Gegen die Spaltung der Gesellschaft in die »aktive digitale Elite und ein passives analoges Prekariat«, plädiert der Vf. für fließende Grenzen, für variable Relationen und Entgrenzungsprozesse, welche die Zu­-gehörigkeiten nicht festlegen, sondern öffnen. Ein relationaler Raumbegriff sei gegenüber dem Container-Raum hier in sozial­ethischer Perspektive förderlicher. – Fazit: Weniger wäre mehr ge­wesen, aber wer das viele mag, findet viel.