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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1406–1408

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Meireis, Torsten [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gewalt und Gewalten. Zur Ausübung, Legitimität und Ambivalenz rechtserhaltender Gewalt.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. X, 354 S. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-151790-7.

Rezensent:

Knut Berner

Die Frage, wann Gewalt zulässig ist, hat angesichts aktueller internationaler Konfliktlagen eine neue Dringlichkeit erhalten und ist für Konzeptionen theologischer Friedensethik von prinzipieller Brisanz, da Gewalthandlungen für den christlichen Glauben eigentlich ausgeschlossen sind. Die vorliegenden Beiträge beschäftigen sich mit Möglichkeiten und Grenzen einer Ethik rechtserhaltender Gewalt und fokussieren damit eine Kategorie W. Benjamins, die prägend ist für viele Werke Hans-Richard Reuters, dem dieser Band anlässlich seines 65. Geburtstags gewidmet ist.
Im Kern zielt das Konzept der rechtserhaltenden Gewalt darauf ab, allenfalls solche Gewalthandlungen für legitim zu halten, die den Rechtszustand erhalten oder wiederherstellen, wobei ein ideelles Rechtsverständnis vorherrscht, das eng an die Beachtung der Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten sowie die Ermöglichung von Anerkennungsverhältnissen gekoppelt ist. Ob­wohl diese Perspektive nicht neu ist und gelegentlich zu idea­listisch-unkritisch vorgebracht wird, gelingt es etwa in H.-R. Reuters Beitrag, sie bezüglich antiterroristischer Maßnahmen in konkrete Verhaltenskriterien zu übersetzen. Die Aporien von Kriegseinsätzen in Afghanistan verdeutlichen hingegen A. A. Stahel/C. Nick-Miller, die probaten Lösungen eine Absage erteilen und mit einem düsteren Ausblick enden. Gleich fünf Beiträge von un­terschiedlicher Qualität widmen sich den Themen »Militär« und »Polizei«. Während einerseits überzeugend den militärinternen und oft skandalösen Begünstigungsformen von nicht-rechtserhaltender Gewalt nachgegangen und nach Präventionsmöglichkeiten gefragt wird (P. Klein/G. Kümmel), werden andererseits altbekannte Richtigkeiten reformuliert, etwa dass sich Soldaten an die Rechtsordnung zu halten haben (120) und es zu deren Bewahrung zusätzlich zum Militär noch der Justiz bedarf (125). Die Studien zur Polizei bieten wichtige Einsichten in die Bedeutung der Freund-Feind-Unterscheidung (W. Schwiewek) und in die internen Sichtweisen dieser Organisation, die jedoch gelegentlich zu parteilich-distanzlos erscheinen und vor allem das Problem der von Polizisten verübten Gewalt vernachlässigen. Im Beitrag von R. Baehr wird zudem die abwegige These vertreten, wir wären es »ja faktisch ge­wohnt, in einer prinzipiell gewaltfreien Gesellschaft zu leben« (72). Damit einher geht eine diffamierende Sicht, die »laute Kinder, Bettler, Obdachlose« unter »Ärgernisse« subsumiert und von Menschen spricht, die »nicht gebraucht, sondern eher ertragen« werden (84 f.). Die damit verbundene dezidierte Absage an einen weiten Gewaltbegriff macht ein Grundproblem des vorliegenden Buches sichtbar, insofern die vorrangige Konzentration auf physische Gewalt zwar angesichts der (inter-)nationalen Herausforderungen für die Ethik rechtserhaltender Gewalt naheliegt, subtilere Formen wie psychische und sprachliche Gewalt jedoch zu kurz kommen. Der Einsicht in die Ambivalenz jeglicher Gewaltanwendung und der berechtigten Suche nach Möglichkeiten ihrer »Einhegung« kommt eine noch andere Dringlichkeit zu, wenn im Anschluss an neuere Forschungen davon ausgegangen wird, dass Gewalt ein vielgestaltiges Phänomen ist, das als ordnungsgestaltende Macht tief in ausdifferenzierten Symbolsystemen verankert ist und z. B. in der hate speech nicht minder zum Ausdruck kommt als in der physischen Beschädigung. Dass zudem Gewalt nicht nur bedrohlich ist, sondern fasziniert, wäre ebenfalls stärker zu berücksichtigen gewesen, gerade dann, wenn für die Polizeiarbeit eine tugendethische Perspektivierung gepaart mit einer m. E. unangemessenen partiellen Rechtfertigung des an Actionhelden gewonnenen heroischen Selbstbildes vorgenommen wird (U. Wagener).
Im Anschluss an den herausragenden Beitrag von G. Beestermöller, der sich mittels einer präzisen und subtilen Argumentation für die Aufrechterhaltung des absoluten Folterverbotes starkmacht und der zum Besten gehört, was in der gegenwärtigen Debatte zu diesem Thema zu lesen ist, widmen sich einige Studien der Hoffnung auf den gerechten Frieden. Dabei werden reformatorische Lehren und aktuelle, auch filmische, Beispiele (T. Meireis) angeführt, um zu zeigen, dass das Friedensziel normativ für jede Ge­waltanwendung sein muss, diese jedoch – trotz des Primats des Gewaltverzichtes – aufgrund von bestehenden Ungerechtigkeits­-szenarien nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann, dabei aber die Bindung an das (Völker-)Recht zu beachten bleibt. Mit einer Absage an die Lehre vom gerechten Krieg unter Beibehaltung ihrer Kriterien verbindet sich ein leider nur knapper Hinweis auf die Problematik von Rüstungsexporten ( W. Huber). Exzellent sind die Überlegungen von J. v. Soosten zur Feindesliebe, die er durch einen Rückgriff auf die Logik der Tertiarität plausibilisiert und so zuspitzt: »Gott ist keinesfalls ein Gott-Mit-Uns […]. Der Name Gottes kann nur bejaht werden, insofern auch der Gott meiner Nächs­ten wie meiner Feinde bejaht wird […]. Erst wer Feindesliebe be­griffen hat, ist zur Nächstenliebe überhaupt fähig.« (214) Im An­schluss an Kant analysiert W. Lienemann die Strafproblematik: Hinweise zur Geschichte und zu den gängigen Theorien werden mit Anforderungen an das Völkerrecht und die Ausgestaltung des Strafvollzuges verbunden, zu Recht wird darauf hingewiesen, dass Grundrechtsschutz und Resozialisierung im Justizvollzug Priorität haben müssen, bis hin zur architektonischen Gestaltung. Darüber wird man leicht Einigkeit erzielen können, ähnlich wie bei Forderungen nach dem Gebrauch reflektierender Vernunft in der Justiz ( W. Bock), aber auch fragen, wie diese schon häufiger formulierten Einsichten angesichts vorhandener Missstände und der Eigendynamik der Systeme (international) umgesetzt werden können. Zu den Problemen rechtserhaltender Ethik zählt auch das Wi­derstandsrecht, das in Bonhoeffers Ethik keine Begründung erfahren konnte, wie F. Barth hervorhebt. Das liegt an der christologisch motivierten Ablehnung des Naturrechts, an Bonhoeffers antirevolutionärem Obrigkeitsverständnis und an der Lehre von den Mandaten, die es nicht erlauben, sich gegen sie und ihre Träger zu wenden, da sich in diesen Instanzen das Gebot Gottes vollzieht. Gewaltsamer Widerstand ist daher immer schuldhaft, kann aber als exis­tentieller Akt geboten sein. Der probaten, aber aufgrund neuer Einsichten in die Allianzen von Modernität und Barbarei antiquierten These, dass sich Gewalt und Zivilität ausschließen, wi­derspricht K. Gabriel in einer Analyse, die insbesondere durch Anfragen an kommunitaristische Gemeinschaftsideologien besticht. Im letzten Beitrag wird nach dem Stand des Völkerrechts in der Arbeits- und Sozialpolitik gefragt und zu Recht bestritten, dass Arbeitskraft eine Ware wie jede andere sei (E. Senghaas-Knobloch).
Insgesamt deckt das Buch ein breites Spektrum ab und bietet viele anthropologische und systemische Analysen sowie Denkmöglichkeiten für eine Ethik rechtserhaltender Gewalt. Für deren Be­gründung und für die Abschätzung ihrer Erfolgschancen wird man allerdings noch stärker, als es in einigen Beiträgen geschieht, damit zu rechnen haben, dass jeder Mensch eine Affinität zur Ge­walt hat und sie auch ausübt bzw. sich leicht von ihr anstecken lässt. Prekär bleibt daher nicht nur die Ausübung von Gewalt, sondern auch das Vertrauen auf ihre Domestizierbarkeit. Das Thema Macht hätte in diesem Zusammenhang eine stärkere Berücksichtigung verdient, ein echtes Desiderat ist das weitgehende Fehlen medientheoretischer Überlegungen.