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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1402–1404

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Michael

Titel/Untertitel:

Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten?

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Campus Verlag 2013. 250 S. m. Abb. u. Tab. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-593-39948-5.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Soziale Gleichheit ist für eine demokratische Gerechtigkeitsauffassung eine Grundthematik. Wenn man die deutsche Gesellschaft auf ihren Modus der Verteilungsgerechtigkeit betrachtet, stellt man schnell fest, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weit geöffnet hat, weil sich die Verdienstspanne zwischen Arbeitern und Spitzenmanagern vom 14-fachen des Gehaltes im Jahre 1995 auf das 54-fache im Jahr 2011 erhöht hat. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dieses sozialethische Problem anzugehen: Man kann es von einem zugrunde gelegten Gerechtigkeitsbegriff her normativ beurteilen, Ursachenforschung betreiben oder sich – wie Michael Hartmann – die Frage stellen, wie eigentlich die Eliten, denen dieser enorme Verdienstzuwachs zukommt, diese Ungleichheit selbst beurteilen.
H., Soziologe an der TU Darmstadt, definiert die Eliten als »Personen […], die aufgrund ihrer Position an der Spitze wichtiger gesellschaftlicher Organisationen in der Lage sind, gesellschaft-liche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen« (21). Zu dieser Kernelite zählt er 999 Positionen, die sich aufgrund von Mehrfachnennungen auf 958 Personen reduzieren – und zwar vornehmlich in den Sektoren der Wirtschaft und ihrer Verbände, der Politik, der Justiz und der Verwaltung (793 Personen), während er Militär, Me­dien, Wissenschaft, Gewerkschaften, Kirchen und NGOs im Sinne seiner Elitedefinition eine geringere Bedeutung zuschreibt (s. 30 f.). Von den zwischen 17.10.2011 und 25.10.2012 durchgeführten 358 repräsentativen Interviews berücksichtigt H. 351 Interviews für seine soziologische Untersuchung, um die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und der Einstellung der Eliten zum Problem der sozialen Ungleichheit analysieren zu können.
H. erstellt das Sozialprofil der Eliten, indem er ihre soziale Herkunft, ihre Bildungs- und Karrierewege nachzeichnet (35–110), ebenso ihre Einstellung zum mit dem Leistungsprinzip verbundenen Problem der sozialen Ungleichheit und zur Finanzkrise (111–164). Dabei klassifiziert er die soziale Herkunft vierfach: in Arbeiterklasse, Mittelschicht, Bürgertum und Großbürgertum (zur näheren Charakterisierung der Schichten s. 45 f.). Die Analyse ergibt, dass die Eliten der wichtigen Sektoren von Wirtschaft, Verwaltung und Justiz überwiegend aus dem Großbürgertum und Bürgertum stammen. Der Weg an die Spitze von Staat und Gesellschaft führt also immer noch überwiegend über die Abstammung aus privilegierten Verhältnissen. In Aufnahme der Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu kommt H. zu dem Zwischenergebnis, »dass die soziale Herkunft einen wesentlichen Einfluss auf die generellen Einstellungen einer Person besitzt […], vor allem für jene Einstellungen […], die Fragen der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums und der sozialen Gerechtigkeit betreffen« (114).
Folglich sind Arbeiterkinder generell am meisten skeptisch gegenüber dem Versprechen eines gerechten Leistungslohnes, den Forderungen der Verringerung öffentlicher Ausgaben und Leis­tungen wie der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Sie halten die sozialen Unterschiede in Deutschland für ungerecht, den Mindestlohn sowie die Anhebung der Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften für sinnvoll. Die aus dem Großbürgertum stammenden Eliteangehörigen beziehen in der Regel die Gegenposition, der die aus dem Bürgertum meist zustimmen: »Die im klassenspezifischen Habitus verankerten Haltungen und Einstellungen […] prägen die Position der Eliteangehörigen« (163) auf grundsätzliche Weise – wenn auch nicht unbedingt bei jedem einzelnen Problem. Aufsteiger aus dem Niveau der Arbeiter- oder der Mittelschicht sieht H. nicht in der Lage, Einstellungsänderungen zu be­wirken, denn er sieht sie, besonders in der Wirtschaft, dem An­passungszwang an die vom Bürger- bzw. Großbürgertum geprägten Haltungen ausgesetzt. Dies begründet er damit, dass etwa 62,5 % dieser Elite aus dem Bürger- und Großbürgertum stammt, 25 % aus der Mittelschicht und nur 12,5 % aus der Arbeiterschicht, die jedoch etwa 50 % der Bevölkerung stellt und hier massiv unterrepräsentiert ist. Anders sieht das Bild in den öffentlichen Unternehmen aus, denn bei den Gewerkschaften, Kirchen oder NGOs stammt die Elite zu 39 % aus der Mittelschicht, zu gut 15 % aus der Arbeiterschaft, nicht jedoch aus dem Großbürgertum.
Die Beurteilung der Lebensverhältnisse in Deutschland als gerecht oder ungerecht folgt somit der sozialen Herkunft der Elite: »Je höher die soziale Herkunft der Eliteangehörigen ist, desto eher neigen sie einer positiven Sicht der Dinge zu. Während die Arbeiterkinder unter ihnen die sozialen Unterschiede fast zweieinhalb mal so häufig ungerecht finden wie gerecht, ist es bei den Großbürgerkindern nahezu umgekehrt. Sie empfinden die Unterschiede mit einer Mehrheit von gut zwei zu eins als gerecht« (171), was in Entsprechung auch für die Angehörigen der Mittelschicht und des Bürgertums gilt. Im Unterschied dazu ist die soziale Rekrutierung der Eliten in Skandinavien sehr viel offener und ihre Beurteilung der Gesellschaftsverhältnisse sehr viel ähnlicher (s. 179). Aus diesen Ergebnissen folgert H.: »Weil die Einstellung der Elitenmitglieder entscheidend durch ihre soziale Herkunft geprägt wird, stellt vor allem der geringe Anteil von Arbeiterkindern in den Eliten ein gravierendes Problem dar« (180), was zu sinkenden Wahlbeteiligungen der unteren Einkommensgruppen, also zu einem Rück­gangdes politischen Engagements und damit letztlich zu einer Krise der parlamentarischen Demokratie führen kann.
Damit verweist H.s soziologische Studie auf wesentliche gesellschaftlich empfundene Defizite und auf mögliche Gefahren für die Demokratie, die zu beachten wichtig für jede Sozialethik sind. Darin liegt die Bedeutung dieser Untersuchung. Gleichwohl stellt sich für eine Sozialethik im Anschluss an diese Studie die Aufgabe, einen Gerechtigkeitsbegriff normativ zu entwickeln, der nicht auf die Gleichverteilung reduziert ist, sondern auch Aspekte wie die Chancengerechtigkeit, die Leistungsbereitschaft und die Verschiedenheit der Menschen berücksichtigt. Gerade der letzte Punkt, den Martha C. Nussbaum in Die Grenzen der Gerechtigkeit (Berlin 2010) entwickelt hat, weist auf das Potential einer gesellschaftlichen Veränderung hin, was H. wegen der Anpassung der unteren an die oberen Schichten, besonders im Sektor der Wirtschaft, bezweifelt. Darüber hinaus möchte ich auf den Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2013 hinweisen, dem­nach in Deutschland nicht nur die Tendenz einer wachsenden Zustimmung zur Reduktion von Einkommensunterschieden zu verzeichnen ist, sondern auch festgehalten wird, dass die Ungleichheit tatsächlich abnimmt (s. ebd., 323 ff.). Diese Hinweise machen deutlich, dass sich die sozialethisch wichtige Problematik der sozialen Ungleichheit nicht allein mittels der auf die Erhebung von Einstellungen fixierten Soziologie H.s erfassen lässt, sondern durch eine ethische Reflexion des Gerechtigkeitsbegriffes und eine ge­naue Erhebung der sozioökonomischen Daten zu ergänzen und gegeneinander abzuwägen ist.