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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1400–1402

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Welz, Claudia

Titel/Untertitel:

Vertrauen und Versuchung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. X, 290 S. = Religion in Philosophy and Theology 51. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-150398-6.

Rezensent:

Cornelia Richter

Wer Vertrauen in die tiefe philosophische Kompetenz der Autorin Claudia Welz hat, wird der Versuchung dieses Buches nicht widerstehen können, auch wenn es in methodischer Hinsicht der einen oder anderen Versuchung anheimgefallen ist. Die 2010 in Zürich eingereichte Habilitationsschrift ist ein höchst eigenständiges Werk, das deutliche Züge des internationalen Diskursstils trägt, in dem W. seit 2006 über ihre Tätigkeit am Center for Subjectivity Research und der Theologischen Fakultät in Kopenhagen beheimatet ist. Wie am Zürcher Institut für Hermeneutik ist die Vertrauensforschung in Kopenhagen seit einigen Jahren zentrales Thema, vor allem in der besonderen Konzentration auf phänomenologische und analytische Ansätze, die – wie in der Vertrauensforschung insgesamt – mit den Ansätzen aus Soziologie, Psychologie oder den ökonomisch orientierten Rational Choice Theories bzw. Spieltheorien in Verbindung gebracht werden.
W. schließt mit ihrer elegant schmal gehaltenen Habilitationsschrift an die 2008 erschienene Dissertation Love’s Transcendence and the Problem of Theodicy an: »Unsere Gründe und Gegengründe helfen uns nicht weiter, vielmehr halten sie uns fest in unserer Unentschiedenheit. Das Entscheidende geschieht nicht auf der Ebene vernünftiger Begründungen. Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründbare Grund des Vertrauens oder Misstrauens gegenüber Gott.« (1) In der Habilitation führt sie die frühere Aufgabe fort, »denkend die Grenzen des Denkens zu erkunden und glaubend die Tiefen des Glaubens zu ergründen. Besonders bedenkenswert ist die Erfahrung, dass der Grund des Glaubens für das Denken unergründlich bleibt« (2). Einem Brennspiegel gleich bietet sich für diesen Punkt des Unergründlichen das Phänomen des Vertrauens an, dem W. strikt systematisch-diskursiv, d. h. nicht historisch genetisierend und exegetisierend oder einen umfassenden Überblick gewährleistend (vgl. 8 f.) nachdenken möchte. Ihre theologisch-philosophischen Gewährsmänner sind »Luther, Kant, Kierkegaard, Ricœur, Rosenzweig, Wittgenstein und Løgstrup« (9) und der Poet Elazar Benyoëtz, mit dem W. in Ergänzung zu Rosenzweig Denk- und Ausdrucksformen jüdischer Hermeneutik integriert.
Das Ziel der Studie »ist es, phänomennah die Bedeutung und die Erscheinungsweisen, das Potential und die Grenzen des Vertrauens zu klären, indem diverse Formen von Konflikten untersucht werden, in denen Vertrauen auf dem Prüfstand steht oder sich in sein Gegenteil verwandelt« (9). Weil der Vertrauensbegriff strittig ist, setzt W. keine eigene Definition an den Anfang, sondern wählt eine »negativistische Vorgehensweise«, in der sie die verschiedenen interdisziplinär gefundenen Definitionen »in konkreten Kontexten« auf ihre Problematik hin untersucht, unter Berücksichtigung »der von ›innen‹ oder ›außen‹ kommenden Versuchung, die das Vertrauen fraglich macht und es dazu verlockt, misstrauisch zu werden« (9). Dass der Vertrauensbegriff damit zwangsläufig »in diesen Kontexten variiert«, hält W. zu Recht »für einen Vorteil, da dieser Tatbestand dazu herausfordert, sich in verschiedenen Gebieten kundig zu machen und da die einzelnen Bestimmungsversuche vor dem Hintergrund möglicher Alternativen klarer voneinander abgrenzbar und besser miteinander ins Gespräch zu bringen sind« (10). Für die Durchführung bedeutet dies in sechs Kapiteln folgenden Aufbau: Von (Hiobs) Klage zu neuer Lebensfreude (I.); die Frage, inwiefern Vertrauen eigentlich ein Phänomen bzw. Vollzug reflektierten Urteilens ist (II.); die Gründung des Vertrauens in bzw. trotz der Ambiguität der Subjektivität (III.); die Hinwendung zur expliziten Frage nach Gott – hier ausgeführt als Beitrag zum ökumenischen Diskurs (IV.); die wiederum gegenläufige Problematik des Verhältnisses von Glaube und Zweifel (V.); die Interdependenz von Vertrauen und Versprechen bzw. Zusage (VI.). W. bündelt dies in der »Quintessenz«:
»In der Versuchung des Vertrauens zeigt sich ein Doppeltes, und zwar zum einen die Lebensnotwendigkeit wechselseitigen Vertrauens und wiederholter Erweise von Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit, zum anderen aber auch die ambivalente Freiheit des Selbst, sich dem Vertrauen bzw. der im Vertrauen liegenden Forderung des Anderen verweigern oder sich der Gabe des Glaubens verschließen zu können, wodurch die Versuchung jedoch keineswegs beendet ist, weil sich der misstrauisch gewordene Mensch in seiner Ablehnung oder gar Verurteilung des verdächtigen Anderen selbst versucht, sofern er mehr zu wissen glaubt, als sich wissen lässt, was ihn dazu verleitet, sich in seinen Vorurteilen zu verfangen und das zu übersehen, was nur das Vertrauen sehen kann. Das Vertrauen ist ein Sinn für ansonsten unsichtbare Lebens- und Beziehungsmöglichkeiten, die dem Misstrauischen entgehen, der sich, indem er sich durch Selbstverschließung vor dem mutmaßlichen Verrat schützen will, umso verwundbarer macht.« (238 f.)
Nicht nur im Sprachstil, sondern auch im Duktus der Argumen­tation ist W. damit erkennbar an Jüngel und Dalferth orientiert. Jüngels Gott als Geheimnis der Welt wird denn auch am Ende explizit als Referenz angeführt, wenn auch mit einer entscheidenden Kritik: Während Jüngel das Gottvertrauen zwar mit der Zumutung verbindet, sich ganz auf Gott zu verlassen, und dies als die dem Glauben spezifische Gewissheit bestimmt (vgl. 240 f.), setzt W. im Einklang mit der interdisziplinären Forschung stärker auf den As­pekt der Gefährdung des Vertrauens bzw. auf seine »Nicht-Selbstverständlichkeit« (241). Eher wendet sie sich deshalb (de facto mit Dalferth, in der [anders umschriebenen] Figur von Vertrauen als Kredit auch unausgesprochen mit B. Boothe, vgl. 67 u. a., sowie ebenso ungenannt mit Plessners These der exzentrischen Positionalität, vgl. 83) der Relation von Wirklichkeit und Möglichkeit zu, in­dem sie »Vertrauen als eine Möglichkeit zum Menschsein« (241) be­stimmt, und zwar als eine Möglichkeit, die das Vertrauen nicht als fertige und unverrückbare Größe in sich trägt, sondern als »Frage des Vertrauens« (242). W. nimmt damit einen Gedanken auf, den sie bereits in Kapitel I zu Hiob bzw. zu den Klagepsalmen vorgestellt hat, nämlich den der prozessualen Entwicklung des Vertrauens im Klage- und Gebetsprozess, gestützt auf Janowskis These eines sogenannten »Stimmungsumschwungs«. Das Argument des prozessualen und letztlich nicht abschließbaren Ringens um Vertrauen bzw. dessen Versuchtwerden ist für ihre Studie ohne Zweifel wichtig, aber es ist bedauerlich, dass sie sich an genau dieser Stelle nicht der neuesten Forschung angeschlossen hat. Mit K. Schmid (z. B.: Was heißt Vertrauen?, 2012) und F. Hartenstein (z. B.: »Schaffe mir Recht, JHWH!« [Ps 7,9], 2010) lässt sich Janowskis These nämlich nur noch bedingt halten und tritt vielmehr zurück gegenüber dem As­pekt der Zusage des Heils, auf die sich der Psalmbeter bezieht, in der er Gott geradezu in seine Verantwortlichkeit ruft und sich ihr unterstellt. Mit dieser Neuorientierung der Psalmenexegese hätte sich eine Brücke angeboten zu W.s hervorragender Aufnahme von Ben­yoëtz und dessen aphoristisch-hermeneutischer Poetik (vgl. 233).
Gerade weil Letzteres abschließend in höchstem Maße gewürdigt werden soll, ist die Arbeit insgesamt schwierig zu rezensieren (was neben den Anfechtungen des Lebens zur Verzögerung der Rezension beigetragen hat, für die sich die Rezensentin an dieser Stelle ausdrücklich entschuldigen möchte!): In methodischer Hinsicht ist es bedauerlich, dass die Studie den Eindruck einer möglicherweise allzu zügigen Abfassung macht. Die einzelnen Kapitel stehen etwas unverbunden nebeneinander mit hoch anspruchsvollen, teils jedoch redundanten Passagen (besonders in Kapitel III), weil das Grundproblem zwar gleich bleibt, nämlich »einerseits die Frage nach dem Grund des Vertrauens zu stellen, andererseits aber auf dessen Feststellung oder -legung zu verzichten« (114), diese These jedoch in der interdisziplinären analytischen Betrachtung vielfältig detailliert, zuweilen auch assoziativ (z. B. Kapitel IV/3) betrachtet wird, ohne dass die Theoriekontexte der jeweiligen Positionen erörtert würden.
Nicht immer ist die Referenz der Primärliteratur aus dem gesamten Duktus einsichtig, so z. B. der Bezug auf Kant in Kapitel II/2, während die These der Ambiguität der Subjektivität stattdessen (ohne Kant) auf Aristoteles und Heidegger aufgebaut wird und die Verschiebung vom Subjektbegriff auf jenen des Selbst eine Nennung D. Zahavis erfordert hätte (vgl. 96), oder auch die abschließenden Überlegungen zu Luther und vor allem zu Melanchthon (250-256), die an Präzision vermissen lassen. Insgesamt wirken die einzelnen Kapitel damit ein wenig disparat, vor allem in der sachlich zwar begründbaren, methodisch und stilistisch aber unerwarteten Aufnahme des ökumenischen Diskurses in Kapitel IV zum Dokument Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre (Mohr Siebeck und Lateran Univ. Press 2008) – so unbezweifelbar begrüßenswert und erfrischend scharfsinnig W.s Analyse der zugehörigen Dokumente ist (vgl. be­sonders 134).
Dennoch und andererseits: W. trägt mit dieser Arbeit nicht nur maßgeblich zur aktuellen Diskussion um Begriff und Phänomen des Vertrauens bei, sondern sie tut dem deutschsprachigen Diskurs auch den Gefallen, das Werk von Elazar Benyoëtz ausführlich und als sachhaltigen Gesprächspartner vorzustellen. Die auf sein Werk bezogenen Abschnitte in Kapitel IV und V gehören zu den stärksten der Arbeit, weil in seinen aphoristischen Texten W.s Grundthese des rational nicht fassbaren, stets versuchten und doch immer neu »bewusst geworden und bewusst gewählt[en]« (242) (Gott-)Vertrauens geradezu exemplarisch zum Ausdruck kommt. W. lässt sich – methodisch gewagt, aber höchst kreativ und mutig – auf diesen Aphorismus der Gottessuche ein und findet darüber selbst so schöne Wendungen wie: »Im Gebet verlässt sich das Selbst – auf Gott« (228). Für das Endergebnis sollte die kreative theologische Leistung immer überwiegen, weshalb diese Monographie den Lesern und Leserinnen nachdrücklich empfohlen sein soll.