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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1396–1398

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sedmak, Clemens [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freiheit. Vom Wert der Autonomie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012. 285 S. m. Abb. = Grundwerte Europas, 2. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-534-20773-2.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Stekeler-Weithofer, Pirmin: Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes. Tübingen: Mohr Siebeck 2012. IX, 237 S. = Philosophische Untersuchungen, 28. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-152066-2.


Clemens Sedmak, der zugleich am King’s College in London und an der Universität Salzburg lehrt, hat die Initiative zu einer Buchreihe ergriffen, in der die »Grundwerte Europas« Freiheit, Gleichheit, Solidarität interpretiert werden. Den Zweifel daran, ob die an die Parole der Französischen Revolution anknüpfende Auswahl zwingend ist, macht schon die Umschlaggestaltung des hier anzuzeigenden Sammelbandes deutlich. Sie listet nämlich über diese Trias hinaus folgende Werte auf: Menschenwürde, Toleranz, Gerechtigkeit, Friede. Ob in engerer oder weiterer Auswahl: Die Deutung solcher Grundwerte ist für den »übergreifenden Konsens«, der Europa in seiner Pluralität als gemeinsamen kulturellen und politischen Raum prägen kann, von großer Bedeutung. Insofern verdient das Vorhaben Anerkennung.
Der Band ist in vier Teile gegliedert: Begriffliche Klärungen, historische Fundamente, gesellschaftliche Diskurse, Anwendungen im (außer-)europäischen Kontext. Jeder dieser Überschriften sind drei Aufsätze zugeordnet. Dabei geht es nicht so systematisch zu, wie es scheint. So ist den begrifflichen Klärungen ein Beitrag aus den Gesundheitswissenschaften zugeordnet, innerhalb deren sich eine aus der Ergotherapie entwickelte Disziplin namens Occupational Science etabliert hat (Ursula Costa). Dagegen fehlen in diesem Teil juristische Erörterungen ganz; sie tauchen erstaunlicherweise erst in dem abschließenden Teil über »Anwendungen im (außer-) europäischen Kontext« auf. Obwohl der Band im Umkreis der Salzburger katholisch-theologischen Fakultät entstanden ist, fällt besonders auf, dass der Theologie weder bei den begrifflichen Klärungen noch bei der Darstellung der historischen Fundamente eine tragende Rolle zukommt.
Im ersten Teil rahmen zwei philosophische Untersuchungen die schon erwähnte gesundheitswissenschaftliche Studie. Otto Neumaier (»Freiheit, Vernunft und Verantwortung«, 21–50) wählt die moralische Verantwortung als Ausgangspostulat. Da sie Handlungsfreiheit voraussetzt, ist Freiheit ein Implikat moralischer Verantwortung. Von Handlungsfreiheit kann aber nur dort die Rede sein, wo Handlungsalternativen zur Verfügung stehen; sind sie nicht gegeben, so ist die Zuweisung moralischer Verantwortung unangemessen. Das mag im Sinn einer externen Verantwortungszuschreibung richtig sein; dass jemand sich jedoch selbst verantwortlich weiß, auch wenn er gar nicht anders handeln konnte, berücksichtigt der Verfasser indessen nicht.
Mario Claudio Wintersteiger (»Die Freiheiten im Ringen mit der modernen Freiheit. Ein Versuch zur Phänomenologie vormoderner, moderner und postmoderner Liberalität«, 77–94) bringt die drei von ihm unterschiedenen Liberalitätsformen in einen zirkulären Zu­sam­menhang: Das postmoderne Freiheitsverständnis kehrt zur vormodernen Variante zurück. Diese These knüpft an Wolfgang Welschs Überlegungen an, der die postmoderne »Vielheitsoption« mit der spätgotischen Ästhetik verbindet. Würde die rechtliche Ausformung der Freiheit stärker berücksichtigt, so würde man vermutlich Moderne und Postmoderne nicht so stark voneinander absetzen.
Der zweite Teil über »historische Fundamente« beginnt mit einem Aufsatz über Freiheit in der Antike (95–110). In ihm führt Christina M. Kreinecker den römischen Begriff der libertas auf die Unterscheidung von Freien und Sklaven zurück, den Begriff der eleutheria dagegen auf die Gleichstellung der Staatsbürger. Doch so wichtig die Verbindung des griechischen Freiheitsbegriffs mit der attischen Demokratie auch ist – man kann die Bedeutung von eleutheria nicht darauf reduzieren. Vor allem aber vollzieht sich in diesem Aufsatz eine folgenschwere Weichenstellung, indem das an­-tike Freiheitsverständnis nur im Blick auf Athen und Rom, aber nicht im Blick auf Jerusalem erörtert wird. Die elementare Einsicht, dass nur der Blick auf diese drei »Orte« zusammen eine zureichende Einsicht in die »historischen Fundamente« europäischer Werte eröffnet, wird leider vernachlässigt.
Denn Werner Wolberts Aufsatz zur christlichen Beurteilung der Sklaverei (111–130) kann dieses Manko nicht ausgleichen. Er bleibt der Sklaverei als Gegenbild der Freiheit verhaftet und leitet aus der Beobachtung, dass das Neue Testament noch nicht zu einer prinzipiellen Negierung der Sklaverei vorgedrungen sei, ab, die Bibel sei nicht die letzte Autorität in Fragen der Moral (128). In der Begründung der katholischen Moraltheologie auf Vernunft und Offenbarung wird von diesem Autor also eine klare Vorordnung der Vernunft vor die Offenbarung postuliert. Evangelische Überlegungen zum Schriftprinzip werden dabei gar nicht in Erwägung gezogen. Weder das paulinische Freiheitsverständnis als solches noch dessen reformatorische Rezeption treten in den Blick. Einen Verweis auf Luthers Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« sucht man in dem ganzen Buch vergeblich.
Auch Wolfgang Schmales Aufsatz über »Anfänge und Fundamente des Begriffs der Freiheit in der europäischen Geistesgeschichte« (131–150) bewirkt keinen Ausgleich. Er plädiert dafür, Freiheit als einen relationalen Begriff zu verstehen; treffender müsste man von einem kontextuellen Begriff sprechen. Denn mit einer Reflexion über die Relationalität menschlicher Existenz hat Schmales Sprachgebrauch nichts zu tun. Aus der Geschichtsgebundenheit des Freiheitsverständnisses leitet der Autor ab, dass es einen »absoluten Fortschritt an Freiheit« nicht geben könne. Das kann gar nicht falsch sein; denn ein »absoluter Fortschritt« ist ein Widerspruch in sich selbst, lassen Fortschritte sich doch immer nur im Verhältnis zwischen früheren und späteren Zuständen beschreiben.
Mit dem Teil über »Gesellschaftliche Diskurse« wird die Auswahl der Themen noch etwas willkürlicher und das Niveau der Bearbeitung noch ungleichmäßiger. Daniel Bischur (151–160) vertritt die paradoxe These, Freiheit als moralisches Prinzip sei eine Einschränkung des Geltungsbereichs der Moral. Nur scheint es so, dass er die Paradoxie gar nicht bemerkt. Markus Pausch (161–174) knüpft an die Beobachtung an, dass politische Freiheit und subjektives Wohlbefinden positiv korrelieren. Für politische Freiheit aber sind die Möglichkeiten der Partizipation entscheidend, die der Autor nur unter Bedingungen der direkten Demokratie für gegeben ansieht. Die Internationalisierung politischer Entscheidungen betrachtet er deshalb nicht als eine neue Aufgabe demokratischer Gestaltung; er sieht sie vielmehr im Widerspruch zu ihr. Wieso Christopher Hamiltons Essay über »Philosophie als spirituelle Praxis« (175–198), eine Interpretation zu Nietzsches »Morgenröte«, in diesen Band gehört, bleibt ein Geheimnis des Herausgebers.
Besonders willkürlich ist der letzte Teil des Bandes. Unter der Verwirrungskategorie »(außer-)europäischer Kontext« verbindet er einen Aufsatz zu »Freiheit und Afrika« (Arno Sonderegger, 245–263) mit dem schon erwähnten, hier aber deplatzierten und mit einer Reihe von Fehlern behafteten Aufsatz Christoph Bézemeks über »Freiheit in rechtswissenschaftlicher Perspektive« (199–217) und einer Untersuchung darüber, wie die Personenfreizügigkeit (vom Autor zur Reisefreiheit verharmlost) seit dem Schengen-Ab­kom­men in Europa geregelt worden ist (Helmut P. Gaisbauer, 219–244).
Als ich mich mit dieser Veröffentlichung beschäftigte, erhielt ich einen Glückwunsch zu meiner 50-jährigen Mitgliedschaft in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Den Glückwunsch und das damit einhergehende Buchgeschenk wusste ich zu schätzen; den Band von Clemens Sedmak hätte ich dagegen nicht als Jubiläumsgeschenk verstehen können. Er bleibt leider hinter der Qualität zurück, die Publikationen der WBG im Allgemeinen eignet.

BerlinWolfgang Huber




Das Buch des in Leipzig Theoretische Philosophie lehrenden Pirmin Stekeler-Weithofer argumentiert in einer doppelten Frontstellung: einmal gegenüber theologischen Vorannahmen der christlichen Schöpfungslehre und Anthropologie und zum anderen ge­genüber dem naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Im Kon­text der Philosophie des Geistes (philosophy of mind) muss er die eigene Position mithin gegen die Annahme einer unsterblichen Seelensubstanz einerseits und die Reduktion des Geistes auf bloße Gehirnfunktionen andererseits exponieren (59.64 ff.92). Dabei spielt die Auseinandersetzung mit der gegenwärtig dominierenden Ideologie des »physikalistischen Empirismus« (154) die weitaus größere Rolle. Die entscheidende Weichenstellung des Vf.s besteht darin, die theoretische Geistphilosophie sozusagen »vom Kopf auf die Füße« zu stellen, indem gegenüber allem Theoretisieren an die schon in der Antike vertretene Auffassung wieder erinnert wird, dass der Begriff des Geistes »die Traditionen und kulturellen Entwicklungen gemeinsamer humaner Institutionen und Kooperationen, samt der individuellen Kompetenz an ihrer Teilnahme überschreibt« (220). Die Philosophie des Geistes wird mithin aufgrund des Primats »einer immer schon kulturell und normativ geprägten gemeinsamen Praxis« (157, vgl. 143) begründet und »Geist« als ein sozialer Gegenstand (der menschlichen Kooperationsgemeinschaft) aufgefasst: »Wenn wir über unseren Geist […] sprechen, re­den wir über die besondere soziale Lebensform des Menschen« (61).
Diese Überlegungen sind in drei Teilen mit zahlreichen Unterabschnitten entfaltet. Im ersten Teil »Von Heidegger über Hölderlin zu Heraklit« (1–75) wird zunächst an Heideggers »Was heißt Denken« (1954) angeschlossen, um die Defizite der durchschnittlichen Naturwissenschaft aufzeigen zu können, womit immer zugleich auch die Frage verhandelt wird, was eigentlich das philosophische Denken über die Einzelwissenschaften hinaus heute noch vermag (36 ff.49 ff. 58 ff.). Der Vf. übernimmt Heideggers These, dass der Normalbetrieb der Wissenschaften keine Reflexion über das Ganze des menschlichen Tuns zulässt (34). Dagegen ist auf die sozial, kulturell und insbesondere durch die Sprache vermittelten Praxisformen abzuheben, in deren Rahmen sich auch die neuzeitlichen Wissenschaften be­wegen, ob sie das nun wissen oder nicht (74 f.).
Der zweite Teil expliziert die zentrale These des Vf.s, dass nämlich »der Geist des Menschen sein Ethos« ist (77–157). Heraklits durchaus dunkle Sentenz »Ethos dem Menschen Daimon« (77) wird interpretiert im Sinne von: »Was wir für unsere ureigenste Persönlichkeit … halten, ist im Wesentlichen unser Stand in der sozialen Welt und unsere Stellung oder Haltung zu einer Lebensform.« (89) So ist es nicht überraschend, dass dem Personbegriff eine Schlüsselrolle in den Erwägungen des Vf.s zukommt (101 ff.137.160), denn jener artikuliert die Partizipation »an kooperativen Praxisformen, die es schon vor mir gab« (103). Entsprechend sind im Fortgang insbesondere Ursachen in allerdings immer nur begrenzt möglichen Kausalerklärungen, z. B. für menschliche Handlungen, begrifflich exakt zu un­terscheiden und damit auch die Frage nach freien Handlungen zu klären (110 ff.161 ff.192 ff.). Danach lässt sich im leidigen Streit um Gehirn und Geist bündig klarstellen: »Nicht das Gehirn denkt, sondern ich denke, falls ich denke« und dies eben als Teilnehmer »einer kooperativen Sprach-, Urteils- und Handlungsgemeinschaft« (138).
Entsprechend werden im dritten Teil die meist zu »flache[n] Theorien der Intentionalität und Evolution« (159–221) eingehend kritisiert, weil die reduktionistischen Theorien der Gegenwart noch gar nicht vom »Geist« sprechen, sondern bestenfalls biologische und animalische Verhaltensschemata darstellen, so dass sie im naturalistischen Fehlschluss die Differenz von Mensch und Tier nivellieren müssen (217 ff.). In diesem Zusammenhang sind insbesondere die nicht-teleologischen »Darwinerklärungen« mit ihrem begrenzten Geltungsumfang von überbordenden Evolutionstheorien und dem im kulturellen Bereich zu verankernden Entwick-lungsgedanken zu differenzieren (205 ff.). Bei all diesen erhellenden und einleuchtenden Ausführungen zu einer praktisch angelegten und gewiss kontrovers zu diskutierenden Geistphilosophie fragt man sich, ob der Vf. sich und seinen Lesern einen Gefallen damit getan hat, dass er seine Überlegungen gerade im Eingangsteil mit komplizierten Auslegungsfragen zu Heidegger und Hölderlins Gedichten befrachtet hat.