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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1392–1394

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. F. Ueberweg. Völlig neu bearb. Ausgabe. Hrsg. v. H. Holzhey. Philosophie in der islamischen Welt. Bd. 1

Titel/Untertitel:

8.–10. Jahrhundert. Hrsg. v. U. Rudolph unter Mitarbeit v. R. Würsch.

Verlag:

Basel: Schwabe 2012. XXXVI, 612 S. Lw. EUR 167,50. ISBN 978-3-7965-2632-9.

Rezensent:

Gregor Schwarb

Mit dem hier zu besprechenden Band eröffnet der Grundriss der Geschichte der Philosophie (hrsg. H. Holzhey, Basel, 1983–) die auf vier Bände angelegte Reihe Philosophie in der islamischen Welt. Wie ambitioniert und pionierhaft dieses Vorhaben ist, kann etwa daran ermessen werden, dass die parallele Sektion in der zwölften Auflage von Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie (Berlin, 1926), dessen Neubearbeitung der Schwabe Verlag mit dem neuen Grundriss anstrebt, auf gerade einmal 30 Seiten beschränkt war (II: 296–325).
Für die Mitarbeit am ersten Band konnten die Herausgeber (U. Rudolph und R. Würsch) nebst ausgewiesenen Fachspezialisten aus dem deutschsprachigen Raum einige prominente Experten aus dem englisch- und französischsprachigen Raum gewinnen, deren Beiträge sie für den vorliegenden Band ins Deutsche übersetzt haben. Als Ergebnis dieser internationalen Kooperation liegt uns nun eine qualitativ hochstehende und umfassend dokumentierte Gesamtdarstellung der frühen Philosophiegeschichte in der islamischen Welt vor, welche sich für die absehbare Zukunft als unangefochtenes Standard- und unentbehrliches Nachschlagewerk etablieren wird. Nicht nur Fachbibliotheken, sondern auch philosophiegeschichtlich interessierten Laien sei die Subskription dieser neuen Reihe nachdrücklich empfohlen. Eine englische Übersetzung der gesamten Reihe ist bereits in Vorbereitung.
Der Band beginnt mit einer lesenswerten Einleitung (I–XXXV) des Herausgebers (U. Rudolph). In einem ersten Teil fasst er die Forschungsgeschichte des Faches zusammen und zeigt sehr deutlich, wie grundlegend sich die Auffassungen über die genaue Abgrenzung des Forschungsgegenstandes seit dem 19. Jh. gewandelt ha­ben. In einem zweiten Teil begründet Rudolph den Philosophiebegriff und die Darstellungsprinzipien, die der vorliegenden Philosophiegeschichte zugrunde liegen. Er betont, dass eine Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt heute nur noch geschrieben werden kann, wenn von einem essentialistischen und kulturalistischen Philosophiebegriff abgesehen wird. Meines Erachtens liegt jedoch der große Schwachpunkt des vorliegenden Bandes genau darin, dass es Rudolph nicht gelungen ist, diese Einsicht umzusetzen. Ich werde nach einer kurzen Inhaltsübersicht auf diesen Punkt zurückkommen.
Das erste Kapitel (3–39) fasst Entwicklungen der spätantiken Phi­losophie zusammen, die für das Verständnis der frühen Philosophiegeschichte in der islamischen Welt unentbehrlich sind, und beschreibt historische Kontexte und Kanäle, die bis zur Jahrtausendwende entscheidend zur Vermittlung und Weiterentwicklung des spätantiken Erbes in der islamischen Welt beigetragen haben. Die christlich-syrische Tradition wird in einem (viel zu) kurzen zweiten Kapitel gesondert betrachtet (40–54). Im dritten Kapitel (55–91) werden die historischen Hintergründe, Phasen und Methoden der griechisch-arabischen Übersetzungsbewegung im späten 8. und 9. Jh. dargestellt. Ob es zweckdienlich ist, in diesem Zusam­menhang theologisch geladene Metaphern wie »Wiedergeburt« und »Auf­erstehung« der Philosophie zu bemühen, bleibe dahingestellt. Die hervorragend dokumentierten Kapitel 4–8 sind jeweils herausragenden Vertretern der falsafa-Tradition gewidmet [4) Abū Yūsuf al-Kindī (92–147); 5) Philosophen in der Tradition al-Kindī’s (148–260): Aḥmad ibn aṭ-Ṭaiyib as-Saraḫsī, Abū Zaid al-Balḫī, Ibn Farīġūn, Abū l-Ḥasan al-ʿĀmirī, at-Tauḥīdī, as-Siǧistānī, Abū ʿAlī Mis­kawaih, Ibn Hindū; 6) Abū Bakr ar-Rāzī (261–289); 7) die Bagdader Aristoteliker (291–362): Abū Bišr Mattā, Yaḥyā ibn ʿAdī, ʿĪsā ibn Zurʿa, Ibn al-Ḫammār, Ibn as-Samḥ, Abū l-Faraǧ ibn aṭ-Ṭaiyib; 8) Abū Naṣr al-Fārābī (363–457)]. Das abschließende neunte Kapitel (»Die Verbreitung des philosophischen Denkens«, 458–554) übernimmt die Funktion eines Staubsauger-Kapitels und bietet Unterschlupf für den ganzen Rest. Dazu gehören neben der Po­pularphilosophie insbesondere Ḥunain ibn Isḥāq und Ṯābit ibn Qurra als Repräsentanten der abbasidischen Übersetzungsbewegung, ismā-ʿīli-tische Denker sowie die Enzyklopädie der Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ. Die Einträge zu einzelnen Philosophen oder Gruppierungen sind nach der im Grundriss üblichen Mustervorlage aufgebaut: 1. Primärliteratur; 2. Biographie und Wirkungsgeschichte; 3. thematisch strukturierte Werklisten mit Werkbeschreibungen; 4. Gesamtdarstellung der philosophischen Lehre; 5. Sekundärliteratur. Abgeschlossen wird der Band durch arabische und griechische Glossare sowie Sach- und Personenregister.
Selbst eine detaillierte Darstellung der Philosophiegeschichte in der islamischen Welt, wie sie hier geboten wird, ist nie mehr als eine gründliche Bestandesaufnahme des gegenwärtigen Forschungs­standes. Für den Schwabe Verlag wäre es insofern erwägenswert, zumindest die bibliographischen Teile dieses reich do­kumentierten Bandes auch als Datenbank anzubieten, die von der Forschungsgemeinschaft fortlaufend aktualisiert werden könnte.
Im Folgenden möchte ich, wie angekündigt, auf einige diskussionswürdige Aspekte des vorliegenden Bandes eingehen: Die Entscheidung des Verlages, die arabisch schreibenden jüdischen Philosophen im neubearbeiteten Grundriss zusammen mit der byzan­-tinischen Philosophie im ersten Teilband der Philosophie des Mittelalters zu behandeln, ist nicht nachvollziehbar; diese Ausgliederung kann nur als anachronistisches Relikt einer überholten, obwohl noch bis ins 20. Jh. praktizierten konfessionalistischen Philosophiehistoriographie verstanden werden. Jüdische Denker wie beispielsweise Dāʾūd b. Marwān al-Muqammaṣ, Isḥāq b. Sulaymān al-Isrāʾīlī (Isaak ben Salomon Israeli) und Saadia Gaon hätten unbedingt im Kontext des vorliegenden Bandes detailliert behandelt werden müssen.
Gemäß Rudolphs Einleitung orientiert sich der vorliegende Band an der Einsicht, »dass sich philosophisches Denken in verschiedenen Formen artikuliert und historisch wandelt« (XXIV). Dementsprechend werden zwei elementare Grundannahmen formuliert, welche die Darstellung der Philosophiegeschichte leiten sollen: 1) »die Vielfalt und die innere Differenzierung des philosophischen Feldes« und 2) die Ablehnung eines »in irgendeiner Form kulturalistisch zu verstehende[n] Philosophiebegriff[s]«. Stattdessen soll Philosophie als »eine grundsätzliche Reflexion über die Strukturen des Denkens und des Seins (bzw. des Denkens, wie es an sich und in seinen gegenständlichen Intentionen betrachtet wird) […], die immer auch eine Reflexion über die Strukturen des Handelns einschliesst« verstanden werden (XXV).
Nur zwei Seiten später wird dieses nicht-kulturalistische Verständnis des Philosophiebegriffs über den Haufen geworfen, indem das philosophische Feld des 9. und 10. Jh.s auf eine spezifische »kontinuierliche und geschlossene Lehrtradition« und ge­sonderte »epistemische Gemeinschaft« der falāsifa reduziert wird, die sich u. a. durch »die explizite Bezugnahme auf spätantike Curricula und griechische Vorbilder« auszeichnet.
In der Tat ist die Argumentation im dritten Teil der Einleitung nur dann nachvollziehbar, wenn die äußerst problematische Gleich­setzung von »Philosophie« mit falsafa stillschweigend hingenommen wird, denn wo immer hier (XXIX–XXXII) von »Philosophie« die Rede ist, müsste genau genommen falsafa stehen. Mit dieser Gleichsetzung wird die ideologische Selbstbezeichnung und der exklusive Selbstanspruch der falāsifa (mit dem sich die Herausgeber implizit identifizieren) mit der polyvalenten Leitkategorie der Philosophiehistoriographie vermischt, womit der zuvor propagierte offene Philosophiebegriff durch die Hintertür wieder aufgehoben wird. Die Konfusion zweier distinkter Philosophiebegriffe hat mitunter zur äußerst bedauernswerten Entscheidung geführt, den Kalām und insbesondere die Muʿtazila aus dieser Darstellung der Philosophie in der islamischen Welt auszugliedern. Die Argumente, die nach Ansicht Rudolphs den Ausschluss des Kalām rechtfertigen, verdunkeln mehr, als dass sie erhellen, da sie die verzerrende Gleichsetzung von falsafa mit »Philosophie« und von ʿilm al-kalām mit »Theologie« unbegründet voraussetzen und daraus weitreichende Schlussfolgerungen ziehen; sie sind gar sachlich falsch, da die grundlegenden Pfeiler der muʿtazilitischen Lehre (Kosmologie, Gotteslehre, Epistemologie, Handlungstheorie, Hermeneutik usw.) nach explizitem Selbstanspruch ihrer Repräsen­tanten nur offenbarungsunabhängig hergeleitet werden können. Rudolphs Behauptung, die Muʿtazila hätte die Offenbarung als gleichwertige Erkenntnisquelle neben der Ratio akzeptiert (XXX), beruht auf einem groben Missverständnis. Die von Rudolph für seine Zwecke angeführte Studie Gimarets hält denn auch richtig fest, dass für die Muʿtazila Koranzitate [bzw. Bibelzitate im Falle der jüdischen Muʿtazila] »ne peuvent intervenir qu’à titre de confirmation des preuves rationnelles«. Die Tatsache, dass die muʿtazilitische Lehre von außen betrachtet (und insbesondere aus der polemischen Sicht der falāsifa) als »niemals wirklich voraussetzungslos« oder als »der Offenbarung zugeordnet« betrachtet worden ist (XXX f.), ist in dieser Hinsicht völlig belanglos. Niemand würde ernsthaft argumentieren, die aristotelische Kosmologie oder die (neu-)platonische Seelenlehre müsse aus der Philosophiegeschichtsschreibung verbannt werden, weil sie – entgegen ihrem Selbstanspruch – offensichtlich niemals als wirklich voraussetzungslos betrachtet werden kann.
Die Nichtberücksichtigung des Kalām im ersten Band dieser neuen Reihe wird sich zwangsläufig auf die Darstellung der Folgebände auswirken. Es wird eine Philosophiegeschichte mit Prothese sein, da ihr ein Teil ihrer Vorgeschichte fehlen wird, die unentbehrlich gewesen wäre, um eines ihrer wesentlichen Standbeine adäquat zu verstehen.