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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1389–1391

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Weidner, Daniel

Titel/Untertitel:

Bibel und Literatur um 1800.

Verlag:

München u. a.: Wilhelm Fink 2011. 437 S. = Trajekte. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-7705-5000-5.

Rezensent:

Christian Danz

Die Theologie der Aufklärung ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der theologischen und philosophischen Forschung getreten. In zahlreichen Einzeluntersuchungen und Tagungsbänden wurden oft wiederholte Stereotypen wie das vermeintlich un­historische Denken der Aufklärung oder deren pauschale Subsumierung unter dem Stichwort »Rationalismus« einer Revision un­terzogen. Deutlich wurde, was Kennern wie Wilhelm Dilthey oder Ernst Troeltsch freilich schon lange klar war, dass die äußerst komplexen und sich überlagernden Debattenlagen der Aufklärung nur sehr unzureichend mit derartigen Stereotypen erfasst werden können. In den neueren Debattenkontext über die späte Aufklärung gehört die hier anzuzeigende Studie von Daniel Weidner zum Thema Bibel und Literatur um 1800, die im Jahre 2009 als Habilitationsschrift vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Gegenstand der Untersuchung sind die vielfältigen, sich überlagernden Diskurse über Bibelexegese und Literaturtheorie in der Sattelzeit der Moderne, die in den gegenwärtigen Selbstverständnissen der Disziplinen gern ausgeblendet werden. Die Rückblicke von Bibel- und Literaturwissenschaftlern auf die Geschichten des eigenen Faches neigen allzu oft dazu, spätere Standards und Abgrenzungen in die eigenen Anfänge zu verlagern. Dadurch wird freilich die Unbestimmtheit und Offenheit der Debattenlagen mit einer Aura der Eindeutigkeit versehen, die sich an den Quellen nicht ausweisen lässt. »Stattdessen gilt es, die Trennungsgeschichte als Trennungsgeschichte zu untersuchen, das heißt als Feld und Prozess, in dem eben gerade über die Grenzen von Literatur und Religion verhandelt wird.« (20)
Der Aufbau der Studie resultiert konsequent aus dem Anliegen des Vf.s, die Offenheit der Diskurse und deren Grundlage in ihrem vermeintlich eindeutigen Gegenstand – der Bibel – zu analysieren. Letztere zeigt sich nämlich bei näherer Betrachtung der Kontroversen als höchst unbestimmt. »Gerade weil die Bibel Gegenstand fundamentaler Deutungskonflikte ist, erweist sich das Wissen über sie als unbestimmt und epistemologisch schwer zu verorten.« (412) Dementsprechend skizzieren die elf Kapitel des Buches diverse Diskurskonstellationen, die sich an der Auslegung der Bibel entzündeten und deren Nachwirkungen sich in den literaturtheoretischen Debatten spiegeln und von hier wiederum auf die Lektüren des biblischen Textes zurückschlagen. Auf diese Weise ist es dem Vf. gelungen, anhand des spannungsvollen Verhältnisses von Bibelhermeneutik und Literaturverständnis um 1800 eine umfassende Kulturgeschichte der Debatten um die Auslegung der Bibel in den Wechselwirkungen von Exegese und Literatur vorzulegen.
Die Einleitung (11–22) intoniert das Thema des Bandes: Texte und deren Auslegung spielen in den Religions- und den Kulturwissenschaften eine prominente Rolle, aber sowohl in der Literatur- als auch in der Bibelwissenschaft ist die Geschichte von Problemen hinter das Interesse an der »Vorgeschichte des momentanen Wissenstandes« zurückgetreten. »Was insbesondere die Epoche um 1800 angeht, liegen eine Fülle von historischen Arbeiten über die »Entstehung« der historisch-kritischen Methode vor, deren wichtige Grunderkenntnisse aber kaum in Bezug zu allgemeinen epistemischen Fragestellungen der Zeit gesetzt werden.« (19) Die Auslegung von Texten findet stets in einem kulturellen Raum statt, und sie reagiert auf diverse Probleme, die bestimmte Formen der Interpretation von Texten motivieren.
Die Diskurse über die Ambivalenz der Zeichen thematisiert das erste Kapitel Bedeutsamkeit und Tiefe: Weissagung und Typologie (25–61) im Ausgang von Anthony Collins Kritik an der christologischen Lektüre des Alten Testaments und verfolgt sodann die Kontroversen über den alttestamentlichen Typos und den neutestamentlichen Antitypos bei William Warburton und Johann Gottfried Herder. Der Erfindung des Textes ist das zweite Kapitel Ein Neues Testament: Textkritik und Edition (65–95) gewidmet. Es verfolgt die zahllosen Bemühungen der Gelehrten um die Erstellung der textlichen Grundlagen des Neuen Testaments seit dem 17. Jh. Der Vf. erörtert ausführlich das Editionsprojekt von Richard Bentley sowie die textkritischen Arbeiten von Johann Albrecht Bengel. Während beide bei ihren Bemühungen um den ursprünglichen Text sich an dem textus receptus, der auf Erasmus von Rotterdam zurückgehenden Stephanus Edition, orientieren, produzierte der Schleiermacher-Schüler Karl Lachmann einen nach philologischen Maßstäben konstituierten Text. Das von Bengel in die Debatten eingeführte Kriterium der lectio difficilior (vgl. 81–83) driftet in Lachmanns reiner Philologie nicht nur ins Absurde. Seine Edition des Neuen Testaments, welche den Anspruch erhebt, auf jegliche Interpretation zu verzichten, wird zugleich zum »Gründungsakt« einer Philologie, die »sich von der Theologie verabschiedet« und »dementsprechend ihre theologischen Vorgeschichte« vergessenhat (94).
Die weiteren Abschnitte des Bandes diskutieren kenntnisreich das »menschlichste aller Bücher« als »Paradigma für Literatur und Geschichte« sowie als »Schauplatz von Verhandlungen darüber, was Geschichte und Literatur bedeuten« (13): Das Verständnis des Hebräischen als »lebendig-toter Sprache« bei Johann David Mi­chaelis und Johann Gottfried Herder bildet die Folie, um den Zusammenhang von Sprachtheorie und Hebraistik in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s darzustellen ( III. Die menschlichste Sprache: Hebraistik und allgemeine Sprachtheorie, 99–122). Behandelt werden die Kontroversen über die Glaubwürdigkeit der biblischen Texte (IV. Radikale Fälschung: Authentizität und Glaubwürdigkeit, 125–166), die Einführung der Urkundenhypothese in die Bibelwissenschaft durch Jean Astruc, Johann Jakob Griesbach und Johann Gottfried Eichhorn (V. Tableau, Struktur, Gewebe: Textmodelle der höheren Kritik, 169–200), der politische Horizont der Bibellektüren bei Johann David Michaelis, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (VI. Gesetze und Wissen: Politische Theologie und Religionsphilosophie, 203–245), die Paradoxien der Bibelübersetzungen bei Johann Lorenz Schmidt, Johann David Michaelis und Johann Gottfried Herder (VII. Doppelte Übersetzung: Paradoxien der Übertragung des Alten Testaments, 249–284), die Adaption der Kainsgeschichte von Friedrich Gottlieb Klopstock, Salomon Gessner, Samuel Coleridge und Lord Byron (VIII. Nachahmen und Darstellen: ›Bibeldichtung‹ und neues Dichtungsverständnis, 287–314), die Hermeneutik Schlei. ermachers (IX. Grenzen des Verstehens: Schleiermachers Hermeneutik und die Bibel, 317–337) und schließlich die Rezeption der Bibel im Werk Friedrich Schillers und Johann Wolfgang Goethes (X. Die Schrift zitieren: Biblische Intertextualität und ›Säkularisierung‹, 341–376) sowie die Homiletiken von Karl Philipp Moriz, Jean Paul und Heinrich Heine (XI. Parodie und Reflexion: Literarische Predigten, 379–401).
Der spannend zu lesende Band endet mit einem Blick auf die Kontroversen über das Leben Jesu von David Friedrich Strauß sowie die Bearbeitung der Evangelienfrage durch Bruno Bauer in der Zeit des Vormärzes (Absolute Kritik und biblische Resonanzen: Schluss und Ausblick, 403–413).
Es ist im Rahmen dieser Besprechung nicht möglich, die von dem Vf. luzide geführten Diskurse im Einzelnen vorzuführen. Dem Leser erschließen sich Problemkonstellationen, die ein interessantes Licht auf die Zusammenhänge von Bibelauslegung und Literaturtheorie um 1800 werfen. Auf diese Weise werden die Fragen und Probleme in Erinnerung gerufen, die zu den Wissensbeständen führten, welche in den gegenwärtigen Debatten präsent sind, aber deren Vorgeschichte meist vergessen ist. Eine überaus gelungene Studie liegt damit vor, der man eine breite Leserschaft wünschen möchte.