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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1383–1385

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Görgemanns, Herwig

Titel/Untertitel:

Philologos Kosmos. Kleine Schriften zur antiken Literatur, Naturwissenschaft, Philosophie und Religion. Anlässl. des 80. Geburtstages hrsg. v. M. Baumbach u. R. Hirsch-Luipold.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. VIII, 420 S. = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 73. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-151840-9.

Rezensent:

Reinhard Feldmeier

In einer Zeit, in der Geisteswissenschaft immer mehr zu einer sich selbst vermarktenden Verpackungsindustrie zu werden droht, ist der Begriff des Gelehrten nicht von ungefähr außer Mode gekommen. Doch genau um einen solchen Gelehrten im besten Sinne des Wortes, der präzis und unprätentiös sein Leben der Erschließung antiker Traditionen gewidmet hat, handelt es sich bei Herwig Görgemanns, dem Autor des hier zu besprechenden Aufsatzbandes. Dabei wird die im Untertitel angedeutete Breite seiner Forschungen vom Band selbst noch in den Schatten gestellt: Was man da so ganz nebenbei noch zur antiken Musikkultur, zu Rhetorik, Bildung, Ethik, Naturwahrnehmung und manch anderem erfährt, kann man so leicht nicht anderswo finden.
Um diese Vielfalt zu gliedern, wurden drei Hauptkapitel gebildet: Literatur, Philosophie und Naturwissenschaft, Religion und Theologie. Der erste Hauptteil beginnt mit einer Studie zum homerischen Hermeshymnus. Neuere Erwägungen, dass die Auseinandersetzung zwischen Hermes und Apollon soziale Konflikte mythologisch spiegelt, werden von G. dahingehend präzisiert, dass der in den ersten Jahrzehnten des 5. Jh.s entstandene Hymnus von einem »Modernen« verfasst wurde, der neue Erfindungen höher schätzte als Tradition. Die folgende Untersuchung zum Ursprung des im 2. Jh. v. Chr. von alexandrinischen Grammatikern eingeführten Begriffes Lyrik hängt nach G. mit dem Gebrauch der Lyra im Unterricht zusammen; »Lyriker« sind die in diesem Schulfach behandelten Dichterkomponisten. In »Die vier Gesichter des Herodotos« behandelt G. das Problem der Zuverlässigkeit des Historikers. Gegenüber einseitigen Urteilen zeigt er, dass Herodot sich in verschiedenen Diskurswelten bewegt – als Novellist, Geograph, Historiker und Weisheitslehrer –, um zuletzt am Beispiel der Darstellung der Perser darzutun, wie diese verschiedenen personae bei ihm zusammenwirken. »Hektors Entscheidung« analysiert das berühmte Gespräch zwischen Hektor und Andromache im 6. Buch der Ilias unter dem Gesichtspunkt, wie hier zwei Verhaltensideale, die sich sonst ergänzen – das kriegerische der Selbstdurchsetzung und das der Rücksicht auf die Interessen anderer –, einander gegenübertreten, wobei Hektors starre Verhaftung an ersterem zu seinem Untergang führt. Die folgende Studie vergleicht Platon und Isokrates als Exponenten zweier Bildungskonzepte, einer wissenschaftlich-objektivierenden und einer an der Kommunikationsfähigkeit orientierten, wobei sich letztere, die meist wenig beachtete Bildungskonzeption des Isokrates als eine erstaunlich leistungsfähige Alternative zu Platon erweist. Der Beitrag »Wahrheit und Fiktion in Platons Atlantiserzählung« zeigt, dass der Atlantismythos bei aller Fiktionalität auch auf historische Tatsachen Bezug nimmt: die Verbindung Athens mit Sais in Ägypten und die Überlieferung vom großen Invasionskrieg. In »Lob des Mittelmaßes – Horaz, Carmen II 10 und die Geschichte der griechischen Ethik« zeigt G., wie Horaz in gezieltem Rückgriff auf unterschiedliche Traditionen des griechischen Maßgedankens einen Weg zur inneren Freiheit angesichts unberechenbarer Schicksalsschläge führt. Der letzte Beitrag macht den »Bekehrungsbrief Marc Aurels« durch Anspielungen auf den homerischen Achill verständlicher.
Den zweiten Hauptteil eröffnet die Studie »Biologie bei Platon«, die zeigt, wie Platon in seinem Spätwerk die Dynamik der Wirklichkeit vor allem über eine erweiterte Deutung des Seelenbegriffs in seine Philosophie integriert, die im Timaios zu einer von G. eindrücklich skizzierten biologischen Konzeption des Kosmos führt. Der Beitrag »Zur Deutung der Szene am Ilissos in Platons Phaidros« erhellt den unerwarteten Zusammenhang zwischen dem oft als gefährlich erfahrenen »Draußen« der Natur und der gerade an einem solchen Ort erfolgenden Korrektur der Erosrede des Lysias durch die sokratische Rechtfertigung des Eros als μανία. Dem Eros bei Platon ist auch der Beitrag »Sokratischer Eros in Platons Symposion und die Krisis der attischen Knabenliebe« gewidmet. G. liest dort die fünf großen Reden über den Eros, die im Symposion der Sokrates/Diotima-Rede vorangehen, als Panorama attischer Erostheorien zur Knabenliebe, um auf diesem Hintergrund die sokratische Rede als Verdrängung der sexuellen Erotik durch eine kulturell-erzieherische zu interpretieren. Das wird in »Die Rede des Pausanias in Platons Symposion« im Blick auf den sexuellen Eros noch einmal näher analysiert. Als Herausforderer Platons wird Cicero in »Die Bedeutung der Traumeinkleidung im Somnium Scipionis« profiliert. G. zeigt hier, wie der der akademischen Skepsis verpflichtete Cicero durch seinen Rationalismus bewusst den mantischen Charakter des Traumes geopfert hat, um stattdessen in Form eines persönlichen Bekenntnisses das Gestalt gewinnen zu lassen und dem Leser nahezubringen, was Scipio als innerste Überzeugung bestimmt hat. »Dem Verlust an divinum steht also ein Gewinn auf der Seite des humanum gegenüber.« (213) Direkt in die »griechische Aufklärung« und ihre Entzifferung der mathematischen Rationalität des Kosmos führt der Beitrag »Sonnenfinsternisse in der antiken Astronomie«, ein faszinierender Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaften. Den Abschluss dieses Hauptteiles bildet eine Rezension zu Sven-Tage Teodorssons Kommentar über Plutarchs Tischgespräche, in der G. an einigen Punkten wei­terführende Erklärungen bietet.
Den ausführlichsten Teil bildet der dritte Abschnitt »Religion und Theologie«, der mit einem Überblick über »Religiöse Philosophie und philosophische Religion in der griechischen Literatur der Kaiserzeit« beginnt. Ausgehend vom Schwinden der klassischen Polis-Religion und dem zunehmenden Einfluss universalistischer Religionsformen bietet G. einen luziden und höchst aufschlussreichen Überblick über die religiösen Motive der verschiedenen Philosophenschulen sowie von Religionen wie Orphik, Gnosis und Hermetik, die sekundär mit philosophischen Motiven verbunden werden, gipfelnd im Neuplatonismus, mit dem »eine neue Ära der Philosophiegeschichte« beginnt, insofern auf »platonischer Grundlage […] ein umfassendes System aufgebaut« wird, das die Inhalte der anderen Schulen, die allmählich verschwinden, integriert (265). Dem entspricht spiegelbildlich die Transformation des Christentums in eine philosophische Religion. In »Jenseitsfurcht und Jenseitshoffnung bei den Griechen« verfolgt G. die Entwicklung vom ethisch indifferenten homerischen Hades zur moralischen Polarisierung des Jenseits in »Himmel« und »Hölle«, wie sie »im Umkreis eines dionysisch-orphisch-pythagoreischen Jenseitsglaubens« (282) entwickelt und dann bei Platon zur vollen Entfaltung kommt, dessen Weiterwirken in der Spätantike zuletzt noch anhand des Johannesbriefes von Synesios von Kyrene gezeigt wird. Gleichsam das Pendant zur Eschatologie bildet der Beitrag »Kosmologie – Kosmogonie – Schöpfung. Entwicklung der Grundkonzepte im griechischen Denken«, der im Durchgang durch die griechische Kultur Besonderheiten derselben herausarbeitet: die Vielfalt der Konzepte (vor allem in der klassischen Zeit), die Zurückhaltung gegenüber der Vorstellung eines personhaften Schöpferwesens und die geometrische Konstruktion des Kosmos. Der Beitrag »Philosophie, Ge­setz und Vorbild. Zu einigen Abschnitten des 4. Makkabäerbuches« analysiert das recht unterschiedliche Verhältnis der einzelnen Teile des frühjüdischen Buches zu griechischem Denken, während »Eros als Gott in Plutarchs ›Amatorius‹« Plutarchs Schrift als platonisch geprägtes Enkomion auf den Liebesgott deutet, der als Führer zur Schau transzendenter Schönheit und Wahrheit beschrieben wird. Die letzten beiden Beiträge befassen sich mit Origenes. Im Blick auf Fr 32 von De principiis IV 4,1, in dem Christus als Geschöpf bezeichnet wird, weist G. überzeugend nach, dass sowohl aus formalen Gründen wie aufgrund der sonstigen Aussagen des Origenes (vor allem zu Prov 8,22) das problematische Wort κτίσμα (Geschöpf) eine Interpolation darstellt, die entweder von falschen Anhängern oder böswilligen Gegnern stammt. Gegenüber Hans Blumenbergs These, dass christliche Theologen der ersten Jahrhunderte durchgehend Bedenken gegen die curiositas hatten, wird Origenes als prominenter Vertreter einer theologischen Neugierde profiliert, ohne welche die Entwicklung des frühen Christentums nicht zu erklären ist.