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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1381–1382

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Erne, Thomas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchenbau.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 364 S. m. zahlr. Abb. = Grundwissen Christentum, 4. Kart. EUR 49,99. ISBN 978-3-525-56852-1.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Der Herausgeber Thomas Erne stellt in seiner Einleitung fest, dass nicht nur Studenten der Architektur und Kunstwissenschaft, sondern auch Studenten der Theologie »oft ratlos vor den Werken der abendländischen Kunst und Architektur, die in erheblichem Ausmaß vom Christentum beeinflusst sind« (13), stehen. Dazu gehören auch die Kirchenbauten. Darum will dieser Band elementare Kenntnisse über den Kirchenbau als Teil des christlichen Grundwissens darbieten, um das »kulturelle Erbe des christlichen Kirchenbaus in Europa besser zu verstehen« (12).
Dieses Vorhaben ist mit Blick auf die Studierenden dieser (und auch anderer) Fächer durchaus gelungen. Zumal das Buch ebenso für Nicht-Studierende geeignet ist, die sich – aus welchen Gründen auch immer – für die Geschichte des christlichen Kirchenbaus in­teressieren. Gelungen ist es auch deshalb, weil hier ein hilfreiches interdisziplinäres Gemeinschaftswerk vorliegt. So ergeben sich mehrere Perspektiven: die Ob­jektgeschichte der Kirchen aus architekturhis­torischer (Kerstin Wittmann-Englert) und die Nutzerperspektive aus religionspraktischer Sicht (Thomas Erne). In die jeweiligen Epochen ist theologisch-religionsphilosophisch (Jörg Lauster) eingeführt wor­den; nach dem ge­schichtlichen Durchgang endet das Buch mit einem eher systematisch angelegten Essay zu Architektur und Kirchenbau (Paul Kahlfeldt).
Der Plan zu diesem Buch sah vor, für die in zwölf Epochen eingeteilte Kirchenbaugeschichte je eine Kirche als Exempel auszusuchen und dazu ähnlich relevante Kirchen als Erweiterung des Grundwissens Kirchenbau einzubeziehen. Das ist nicht immer ganz geglückt, weil man sich aufgrund der architekturhistorischen und religions­praktischen Grundperspektive nicht immer auf ein Bauwerk einigen konnte.
Die zwölf Epochen der Kirchenbaugeschichte werden in drei Großbereiche eingeordnet; der erste Bereich: »Warum gibt es Kirchen? Jerusalem – Rom – Konstantinopel«. In diese Problematik – ob der christliche Glaube überhaupt ein Kirchengebäude braucht – wird zunächst theologisch-religionsphilosophisch eingeführt, um dann den Jerusalemer Tempel, die Grabeskirche, Santa Sabina in Rom und die Hagia Sophia in Konstantinopel architekturhistorisch und religionspraktisch zu behandeln. Im zweiten Bereich geht es um die Geschichte von der Romanik bis zum Barock.
Unter der Überschrift »Unsere besten Jahre« wird zunächst in den Kirchenbau als Ausdruck des geschlossenen Weltbildes des Mittelalters eingeführt, dann werden für die Romanik St. Benoît sur Loire, für die Gotik zwei Kirchen, nämlich Notre Dame in Reims und die Elisabethkirche in Marburg, für die Renaissance St. Peter in Rom und für den Barock Sant’Ignazio in Rom architekturhistorisch in den Blick genommen. Religionspraktisch wird St. Benoît als Pilgerkirche gewürdigt, Reims als Krönungskirche, die Elisabethkirche für die Heiligenverehrung, St. Peter für die Wiedergeburt der Antike aus produktiver Zerstörung und Sant’Ignazio wegen seiner barocken bzw. ästhetisierten Religion.
Der dritte Bereich beginnt mit der Klassik und endet mit der jüngsten Vergangenheit. Theologisch-religionsphilosophisch wird überlegt, ob es sich um eine stillose Moderne handelt. Begann diese Epoche doch mit der aufgeklärten Klassik und der gefühlsbetonten Romantik, dann folgte der Historismus mit der Wiederbelebung mittelalterlicher und antiker Stile. Aber keiner dieser Stile kann heute überzeugen, wenn in der Moderne Kirchen gebaut werden, die der Transzendenz Raum und Form verleihen sollen. Gewürdigt werden die von Schinkel erbaute Friedrichwerdersche Kirche in Berlin für die Klassik, die Rundkirche in Essen von Bartning (die in dieser Form gar nicht erbaut wurde) für den modernen evangelischen, St. Fronleichnam in Aachen von Schwarz für den modernen katholischen Kirchenbau; danach für den Kirchenbau im 21. Jh. Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp von Le Corbusier und das ökumenische Kirchenzentrum Maria Magdalena in Freiburg vom Architektenbüro Kister, Scheithauer, Gross, da diese beiden Kirchenbauten sich nicht mehr an tradierte oder vorgegebene Formen halten, sondern neue Bauformen und Bautechniken verwenden. Zu den architekturhistorischen Ausführungen stellt die religionspraktische Perspektive fest, dass es vielleicht aufgrund der veränderten Atmosphäre, die diese Kirchen erzeugen, auch zu einer veränderten Religionspraxis komme.
Das mag vielleicht für die Wallfahrtskirche in Ronchamp weniger gelten als für das ökumenische Kirchenzentrum in Freiburg, weil in Freiburg innerhalb eines Kirchengebäudes zwei Gottes­diensträume vorhanden sind, die durch eine Taufstätte miteinander verbunden wurden. Die aus Beton bestehenden Trennwände zwischen den Gottesdiensträumen lassen sich sogar zur Seite schieben – was durchaus auch symbolisch verstanden werden kann –, so dass ein großer, ökumenischer Gottesdienstraum entsteht. In diesen beiden wegweisenden Kirchentypen geht es jedenfalls darum, eine Art transzendente Atmosphäre zu erzeugen.
Die vorgestellten typischen Kirchen und die anderen wichtigen Kirchen der jeweiligen Epoche, die mit ihnen im Zusam­menhang stehen, werden mithilfe schwarz-weißer Abbildungen an­schaulich gemacht, was insbesondere für die architekturhisto­rischen Ausführungen notwendig ist, um sie nachvollziehen zu können. Die Fachbegriffe werden in einem Glossar erklärt. Alle er­wähnten Kirchen sind in einem Kirchenregister aufgeführt. Zudem gibt es die üb­lichen Register (Literatur, Bildnachweise, Personen, Autoren).
Der den Band beschließende eher systematisch angelegte Essay wurde von Paul Kahlfeldt verfasst, der eine Professur für Grundlagen und Theorie der Baukonstruktion innehat. Der markante Titel »Kirchenbau ist Architektur und Architektur ist Kirchenbau« er­klärt sich aus folgender Annahme Kahlfeldts: »Die baukünstlerische Betrachtung des Kirchenbaues offenbart die zentrale Fragestellung nach dem Wesen von Architektur.« Zeigt sich das Wesen darin, dass ein Raum »die Hülle für Handlungen zur Verfügung stellt« (303), oder wirkt ein Raum auf Verstehen und Empfinden ein, so dass ein Bautyp eine Ausdrucksform von Kultur ist? Kahlfeldt geht der Baugeschichte auch aus der Sicht der Bedingungen der Baukonstruktion nach und gibt seinem Essay 14 Bautypen als Grundrisse bei, die zeigen, dass eine Kirche zu bauen mehr bedeutet als »einen berechtigten Ausdruck der Realität heutiger Gebrauchsbezogenheit« (311). Denn Kirchenbauten sollen der Allgegenwärtigkeit göttlichen Seins einen räumlichen Ausdruck verleihen, in dem sich architektonisch das Ziel, das himmlische Jerusalem, verkörpert. Daher kritisiert Kahlfeldt den modernen Kirchenbau: »Heute sehen Kirchen aus wie Sporthallen, Autoreparaturwerkstätten oder schlicht wie Kisten. Das missverständliche Gleichsetzen von Ab­straktion und Vereinfachung mit gestalterischem Weglassen hat zu baulichen Er­scheinungen banalster Form geführt.« (311)
Nicht nur diese deutlichen Worte, sondern auch andere Ab­schnitte von Kahlfeldts Essay lassen sich als kritische Auseinandersetzung mit den vorausgehenden Interpretationen verstehen – ganz im Sinne eines interdisziplinären Projekts, das die Diskussion über das Material und seine Deutung nicht unterdrückt oder verschweigt, sondern daran teilhaben lässt und auch die Leser ermutigt, sich dazu eigene Gedanken zu machen.
Der letzte Satz des Essays kann aber für das ganze Buch gelten: »Architektur zeigt also nicht, was ist, sondern ihre Aufgabe besteht darin, anzudeuten, was sein könnte.« (311)