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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

558–560

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Müller, Eckart:

Titel/Untertitel:

Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft und die Möglichkeiten ihrer Rezeption durch eine evangelische Wirtschaftsethik.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. XII, 372 S. gr.8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1645-2.

Rezensent:

Stefan Streiff

Was in Deutschland 1948 durch die Währungs- und Wirtschaftsreform gleichzeitig eingeführt wurde, scheint gegen Ende des Jahrhunderts beides in Frage gestellt: Die Deutsche Mark wird wohl durch den Euro ersetzt werden. Die Soziale Marktwirtschaft - ein deutsches Erfolgsmodell - ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten und droht schleichend von einer Wirtschaftsform unterlaufen zu werden, die von der einen Seite als flexibler und effizienter gelobt, von der andern als Turbokapitalismus verschrien wird (vgl. C. C. von Weizsäcker: "Alle Macht den Aktionären", in: FAZ Nr. 146, 27. Juni 1998, 15).

Wie ist es um die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft bestellt? Muß diese erfolgreiche Wirtschaftsform gänzlich ökonomischen Prinzipien angelsächsischer Provenienz weichen? Wie läßt sich ein wirksamer Sozialstaat in geistiger Offenheit gegenüber amerikanischen und englischen Modellen aufrechterhalten, wenn doch die kulturellen Hintergründe auf Europas Kontinent an wichtigen Punkten entscheidend anders gelagert sind?

Nicht, daß die Arbeit von Eckart Müller direkt auf solche Fragen eingehen will. Mit der Darstellung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft bietet das Buch jedoch wichtige Voraussetzungen dafür, daß Antworten auf diese Fragen gefunden werden können. Das Buch verdient in dieser Hinsicht öffentliches und nicht bloß theologisches Interesse.

Der Vf. fragt, ob und inwiefern die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft aus der Sicht der Evangelischen Wirtschaftsethik rezipierbar, das heißt akzeptabel, sinnvoll, hilfreich, konstruktiv sei. Folgerichtig beginnt er mit einer umfassenden Abklärung dessen, was die Gründerväter unter Sozialer Marktwirtschaft verstanden. Als Vater dieser Wirtschaftsform gilt auf politischer Ebene der langjährige Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard. Unabdingbare theoretische Vorarbeit leisteten aber die Ökonomen Walter Eucken, Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack. Der Analyse ihrer Arbeiten ist - nach einem einführenden Teil - der ganze zweite Teil des Buches gewidmet. Ausführlich stellt der Vf. die ökonomischen, anthropologischen, sozialpolitischen (und auch theologischen) Voraussetzungen dar, die bei der Formulierung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft im Hintergrund standen und würdigt diese kritisch. Dabei geht es dem Vf. darum, zu zeigen, daß Soziale Marktwirtschaft mehr war und ist als freie Marktwirtschaft plus Sozialstaat.

Entgegen einem weitverbreiteten Mißverständnis, wonach "die Soziale Marktwirtschaft in erster Linie ein identitätsstiftender und Differenzen überspielender Terminus [sei], der inhaltlich nicht mehr besagt, als daß wir ja alle gerne sozial sein wollen (7)", weist die Darstellung auf eine Definition der Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsgestaltungskonzept hin. Dieses Konzept versucht, das Prinzip der Freiheit mit dem Sozialen Ausgleich zu verbinden, die Mechanismen von Wettbewerb und Markt einzubeziehen und dem Staat nur subsidiäre Aufgaben mit dem Ziel einer stabilen Ordnung zuzuweisen. Soziale Marktwirtschaft ist demnach ein ordnungspolitisches Konzept zur Gestaltung der Wirtschaft, das auf ethisch verantworteten, liberalen Grundsätzen beruht. "Hat die Marktwirtschaft den Vorteil, ein selbsttätiges wirtschaftliches Organisationsmittel zu sein, so ist dies nach Müller-Armack nicht dahingehend mißzuverstehen, daß die Marktwirtschaft auf keine Regulierung von außen angewiesen ist. Sie bedarf vielmehr einer Steuerung von außen durch ein Rahmengefüge, das die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik bereitstellen muß. Das einzige Kriterium, das die Politik zu berücksichtigen hat, ist, daß alle organisatorischen Maßnahmen zur Strukturierung und Ausgestaltung der Marktwirtschaft marktkonform sein müssen" (146).

Die Teile drei und vier können weniger einem öffentlichen als vielmehr einem theologisch-systematischen Interesse entgegenkommen. Im Hinblick auf die grundsätzliche Frage, ob die Soziale Marktwirtschaft durch eine Evangelische Wirtschaftsethik rezipierbar sei, bringt der dritte Teil eine Begründung für die Notwendigkeit von Ethik für den Menschen, eine wissenschaftstheoretische Standortbestimmung und eine Darstellung von fünf Ebenen wirtschaftsethischer Argumentation. Ob diese in sich stimmigen Abschnitte das erklärte Ziel des Vf.s einlösen können, damit einen wirtschaftsethischen Ansatz vorzulegen, darf - im Vergleich mit den existierenden Ansätzen - hinterfragt werden.

Der vierte Teil wendet sich - die Positionen der Sozialen Marktwirtschaft wie auch der Evangelischen Wirtschaftsethik sind hier gut dokumentiert beschrieben - der Frage der Rezipierbarkeit zu. Der Vf. kommt zum Schluß, daß aus der Sicht Evangelischer Wirtschaftsethik "das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft auch weiterhin als realistisches Gestaltungskonzept für die deutsche und europäische Wirtschaft" (354) tauglich ist und aufgrund der vom Konzept berücksichtigten ethischen Prinzipien wie Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Solidarität berechtigt vertretbar ist.

Die Stärke des vorliegenden - gegenüber der 1996 abgeschlossenen Dissertation leicht überarbeiteten - Buches liegt am ehesten in der hilfreichen Analyse dessen, was Soziale Marktwirtschaft in der Nachkriegszeit hieß. Damit sind auch für heutige Fragen Leitlinien gegeben, deren wichtigste wohl dahin deutet, daß die Soziale Marktwirtschaft unter der Bedingung der Rückbesinnung auf ihre Wurzeln zukunftsfähig bleibt. "Man wird ... in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht darum herumkommen, den Wohlfahrtsstaat wieder zum Sozialstaat zurückzubauen, mit klaren Prioritäten, mit gezielter Hilfe, basierend auf den Prinzipien der Subsidiarität und der Effizienz. Diese Rückkehr zu den Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft führt nicht zu einer weniger sozialen Gesellschaft, im Gegenteil; sie führt aber zu einer Gesellschaft, in der das Soziale wieder stärker im Individuum verankert ist" (G. S.: "Demontage eines deutschen Erfolgsmodells", in: NZZ Nr. 140, 20. Juni 1998, 21).