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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1372–1373

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, u. Heinz Duchhardt[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die europäische Integration und die Kirchen II. Denker und Querdenker.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. IX, 169 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 93. Lw. EUR 34,99. ISBN 978-3-525-10115-5.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der Band dokumentiert eine Repräsentativität beanspruchende Auswahl an Vorträgen, die im Studienjahr 2010/11 auf Einladung des am Mainzer Institut für Europäische Geschichte angesiedelten, DFG-geförderten Graduiertenkollegs »Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung ›Europa‹« gehalten wurden. Die dabei versammelten Fallbeispiele und thematischen Überblicke, die in zeitlicher Hinsicht vom letzten Drittel des 19. Jh.s bis auf die Schwelle zur Gegenwart reichen und mehrheitlich, aber nicht ausschließlich, den deutschen Geschichtsraum fokussieren, sollen, wie es die Herausgeber einleitend formulieren, lediglich »Anregungen geben und zu­gleich auf die große Fülle der noch bestehenden Forschungslücken aufmerksam machen« (IX). Dem darin erhobenen bescheidenen An­spruch genügt das schmale, substanzhaltige Bändchen vollauf.
Die dargebotenen Vorträge wurden um eine kleinere Studie des Mitherausgebers und damaligen Sprechers des Graduiertenkollegs Heinz Duchhardt vermehrt. Sie erinnert an den vergessenen, aber erinnernswerten sächsischen »Querdenker« Eduard Baltzer (1814–1887), der als Pfarrer in Delitzsch begann, dann aber alsbald in Konflikte mit den Kirchenleitungen geriet, daraufhin die Freie Protes­tantische Gemeinde Nordhausen ins Leben rief, später sogar zum Ersten Präsidenten des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands aufstieg und sich gegen Ende seines Lebens als Lokal- und Nationalpolitiker engagierte. Nach einer instruktiven biographischen Skizze porträtiert Duchhardt zwei interessante Schriften Baltzers zum Europa-Diskurs. Dessen Broschüre »Unter dem Kreuz des Kriegs«, 1871 erschienen, entwirft unter dem unmittelbaren Eindruck des deutsch-französischen Krieges das Konzept eines friedenssichernden europäischen »Völkerareopags« (4), den er auf eine zweifache Grundlage gestellt wissen wollte: Zum einen müsse das deutsche Volk (und also nicht etwa der deutsche Herrscher) die Initiativfunktion wahrnehmen, zum anderen habe man sich »an den religiösen Gemeinden der ersten Christen [zu] orientieren«, deren friedvolles Dasein in einer »freie[n] Weltgemeinde« (5) zu globaler Vollendung gebracht werde. Gegenüber dieser realitätsfernen Utopie votiert die zweite Friedensschrift Baltzers wesentlich realistischer. Sie entstand um 1885, kam jedoch erst in der ganz anders gelagerten politischen Konstellation der frühen 1930er Jahre zum Druck: zunächst, kaum beachtet, in der »Vegetarische[n] Warte« (1930), im Folgejahr dann unter dem Titel »Die Europäische Union« in der damals weit verbreiteten Zeitschrift »Die Friedens-Warte«. Mit diesem Text entwirft Baltzer die Umrisse eines politisch vereinten Kontinents, der sich auf Einladung des Deutschen Kaisers durch Zusammenschluss der sieben großen Staaten Europas (Deutsches Reich, England, Frankreich, Italien, Österreich-Un­garn, Russland, Spanien) konstituieren und danach weiteren Beitrittsaspiranten offenstehen soll. Die Regularien dieser künftigen europäischen Union finden sich bis in Detail konzipiert – so legt Baltzer etwa als gemeinsame Verhandlungssprache das Englische nahe, regt einen jährlichen Wechsel des Vorsitzes zwischen den sieben europäischen Großmächten an oder unterbreitet präzise Verfahrensvorschläge für den Fall misslingender Einstimmigkeit. Diese gewiss randständige Initiative erscheint nicht allein als Indikator eines im Wilhelminischen Zeitalter subkutan sich regenden transnationalen Europagedankens interessant, sondern ebenso in ihrem offensichtlichen, durch die erst in der dramatischen Spätphase der Weimarer Republik einsetzende Rezeption dokumentierten Anachronismus.
Nicht minder, obschon in ganz anderer Weise aufschlussreich ist der »Protestanten in der CDU und die Europaidee nach 1945« betitelte Beitrag des jüngst emeritierten Marburger Kirchenhistorikers Jochen-Christoph Kaiser. Im Blick auf den vorrangig auf Betreiben des oldenburgischen Kirchenjuristen und Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers 1952 organisierten Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU führt Kaiser vor Augen, dass dort der Kampf gegen eine faktische oder vermeintliche katholische Dominanz der Partei einen ungleich höheren Stellenwert einnahm als der Entwurf eines eigenständigen Europa-Konzeptes, wodurch sich in der Alternative zwischen einem zur politischen Neutralität tendierenden Streben nach deutscher Wiedervereinigung und dem Ziel der die Wiederbewaffnung einschließenden westeuropäischen Integration der Bundesrepublik Deutschland kaum eine den Kurs Konrad Adenauers konterkarierende protestantisch-konfessionelle Eigenoption zu artikulieren vermochte.
In seiner den katholischen Geschichtsschreiber Johannes Janssen (1829–1891) würdigenden gelehrten Studie macht Andreas Holzem einleuchtend nachvollziehbar, dass und weshalb für das durch Janssen repräsentierte Konfessionsmilieu »ein weitgehendes Nicht-Verhältnis überdurchschnittlich gebildeter katholischer Krei­se des Kaiserreichs zum Thema und Problem ›Europa‹« (46) zu konstatieren ist. Auf dieser Folie gewinnt die für die zweite Hälfte des 20. Jh.s angestellte Untersuchung »Der Heilige Stuhl und die europäische Integration« des Aachener Politologen Ralph Rotte zusätzlichen Reiz. Weitere Beiträge gelten »Karl Barth als Europäer und europäischer Theologe« (Gregor Etzelmüller), dem im Umfeld des Kreisauer Kreises agierenden protestantischen Widerstandskämpfer Harald Poelchau (Friedrich Weber), dem europatheoretisch noch immer unterschätzten oder verkannten Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau Wolfgang Sucker (Holger Bogs unter Mitarbeit von Stefan Schmunk und Marcus Stippak) sowie, als Längsschnitt und Fallbeispiel besonders instruktiv, dem themenzentrierten Blick auf die Geschichte Estlands im 20. Jh. (Riho Altnurme).
Als ein wertvolles Nebenprodukt des Mainzer Graduiertenkollegs wird dieser Band nicht allein die dort weiterhin zu leistenden Forschungen stimulieren, sondern zugleich auch das allgemeine Bewusstsein für die gleichermaßen historiographische und politikstrategische Relevanz der Frage, welche Rolle den Kirchen im Prozess der europäischen Integration bislang zukam und welche Aufgaben und Interessen sie dabei künftig wahrnehmen sollten, sensibilisieren und schärfen können.