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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1369–1371

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Arnhold, Oliver

Titel/Untertitel:

»Entjudung« – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945. 2 Bde.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 2010. Bd. 1: XIV, 454 S. Bd. 2: XII, S. 456–926 = Studien zu Kirche und Israel, 25/1 u. 25/2. Kart, EUR 27,80. ISBN 978-3-938435-00-7.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Seit geraumer Zeit – wenngleich gemessen an den Ereignissen mit jahrzehntelanger Verzögerung – findet die unheilvolle Verqui­ckung neutestamentlicher Forschung in die nationalsozialistische Ideologie des ›Dritten Reichs‹ erhebliche Aufmerksamkeit in der Zeitgeschichtsforschung ebenso wie in der Fachgeschichte (vgl. den Beitrag von O. Merk, »Viele waren Neutestamentler«, ThLZ 130 [2005], 106–120, sowie meine Besprechung zu G. Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945, Heidelberg 2009, in ThLZ 136 [2011], 771–774). Dabei ist zunehmend die herausragende Bedeutung der »Kirchenbewegung Deutsche Christen« herausgearbeitet worden, also der vorwiegend in Thüringen wirksamen DC, die unter den während der 1930er Jahre in sich durchaus differenten Zweigen der kirchlich orientierten deutschchristlichen Bewegungen eine Führungsrolle beanspruchen konnten. Unter ihnen wiederum gehörte der Jenaer Neutestamentler Walter Grundmann zweifellos zu den führenden Köpfen.
Oliver Arnhold, derzeit Religionslehrer am Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium und Fachleiter für Evangelische Religionslehre am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Detmold, hatte sich schon seit Anfang der 1990er Jahre mit diesem Thema beschäftigt und einige kleinere Beiträge dazu publiziert. Nunmehr legt er als Ergebnis seiner langjährigen Studien eine zweibändige Gesamtdarstellung zur deutschchristlichen Bewegung in Thüringen und zum Eisenacher »Entjudungsinstitut« vor, die 2008 am Institut Evangelische Theologie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn als Dissertation angenommen worden ist.
Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert, die auf zwei etwa gleich starke, durchpaginierte Bände verteilt sind: Der erste Hauptteil schildert die Entstehung der »Kirchenbewegung Deutsche Christen« in Thüringen noch vor der nationalsozialistischen Machtergreifung (»Aus dem Wieratal ins Reich«. Die Kirchenbewegung Deutsche Christen von 1928 bis 1933, 41–97). Der zweite, der den Rest des ersten Bandes einnimmt, verfolgt die Geschichte der Thüringer DC bis 1939 (»Durch Adolf Hitler zu Jesus Christus«. Die Kirchenbewegung Deutsche Christen von 1933 bis 1939, 99–454). Der dritte füllt den zweiten Band und konzentriert sich ganz auf das Eisenacher »Entjudungsinstitut« (»Eine freie, echte Forschungsarbeit«. Das ›Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‹, 455–762). Ein »Schluss« (763–782) skizziert Folgerungen und Perspektiven. Der gewichtige Anhang bietet mehr als 300 zum Teil sehr detaillierte Biogramme (785–842), eine Übersicht über die Arbeitskreise und die Forschungsthemen des Eisenacher Instituts (842–851), ein Verzeichnis aller Institutsmitarbeiter einschließlich – soweit möglic h– de­taillierter Angaben über ihre Aktivitäten und Publikationen im Rahmen der Institutsprojekte (852–861) sowie eine umfassende Bibliographie (863–919), gegliedert nach Primärliteratur bis 1945 (da­runter zahlreiche Archivalien und Zeitschriften) und Forschungsliteratur aus der Zeit ab 1945. Ein für ein solches Werk un­umgängliches Personenregister beschließt den zweiten Band.
Während die Darstellung zur Thüringer deutschchristlichen Bewegung und ihrer Vorgeschichte im Rahmen dieser Rezension nicht näher gewürdigt werden kann und dem kompetenten Urteil von Zeitgeschichtlern überlassen bleiben soll, möchte ich im Folgenden etwas genauer auf den zweiten Band eingehen. Spätestens mit dem von Peter von der Osten-Sacken herausgegebenen Sammelband »Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen« (Berlin 2002) waren das Eisenacher »Entjudungsinstitut« und die führende Rolle Grundmanns bei seiner Gründung und in den wenigen Jahren seines Bestehens einer breiteren Fachöffentlichkeit bekannt geworden. Gleichwohl wird durch diese verdienstvolle Publikation lediglich die Eröffnung eines Forschungsfeldes markiert, das in den folgenden zehn Jahren mit zahlreichen Aufsätzen und Buchkapiteln bearbeitet, aber noch nicht durch eine eigenständige Monographie erschlossen worden war.
Mit A.s Dissertation liegt nun erstmals eine Gesamtdarstellung vor, deren Wert zunächst einmal darin besteht, das gesamte überlieferte gedruckte und archivarische Ma­terial zum Thema zu erfassen und zu dokumentieren. Darüber hinaus gelingt es A. aber auch, die – gemessen an seiner Wirkung doch extrem kurze – Geschichte des Eisenacher Instituts von den ersten konzeptionellen Planungen und Vorarbeiten im Jahr 1938 und der Institutseröffnung am 6. Mai 1939 (458–489) bis zu Grundmanns Einberufung im März 1943, mit der die Arbeit des Instituts weitgehend zum Erliegen kam (725–750), als einen in sich kohärenten Vorgang darzustellen. Von Anfang bis Ende tritt dabei die herausragende Rolle Walter Grundmanns hervor, der in konzeptioneller, fachwissenschaftlicher, personeller und organisatorischer Hinsicht ganz eindeutig das Heft in der Hand hatte. Ein ausführlicher Exkurs zu Grundmanns Werdegang und seiner Theologie bis 1936 findet sich schon im ersten Band (124–146) im Zusammenhang der Geschichte der Kirchenbewegung Deutsche Christen.
Gleichwohl sind ebenso deutlich die Widerstände erkennbar, mit denen Grundmann ständig zu kämpfen hatte, und zwar so­wohl vonseiten seiner kirchenpolitischen Gegner als auch vonseiten der nationalsozialistischen Partei- und Staatsfunktionäre, die in ihm meistenteils keineswegs einen Verbündeten, sondern eher einen Kämpfer für Kirche und Christentum sahen, die aus Sicht der Partei längst als Ganze abgeschrieben worden waren. Fatalerweise und in gewisser Hinsicht auch tragischerweise muss man feststellen, dass diese Ablehnung durch nationalsozialistische Politiker genau der Selbsteinschätzung entspricht, die Grundmann Jahrzehnte später in seiner Selbstbiographie »Erkenntnis und Wahrheit. Aus meinem Leben« seiner Stellung in den Jahren 1938–1945 gibt (Typoskript, begonnen am 1. September 1969, 97 S., Landeskirchliches Archiv Eisenach, Ergänzung Nachlass Grundmann, NA 92, S. 40–49). Diese rückblickenden Reflexionen sind sicherlich alles andere als distanzierte oder gar objektive Beurteilungen historischer Zusammenhänge und Verhaltenweisen, vielmehr höchst subjektive und auch aktuell interessengeleitete Rechtfertigungsversuche (obwohl Grundmann offenbar nie an eine Veröffentlichung seiner Selbstbiographie gedacht hat). Insofern wäre es verfehlt, von dieser Selbstrechtfertigung Grundmanns her die Konstellationen und Ereignisse in den 30er und frühen 40er Jahren historisch bewerten zu wollen. Umso irritierender berührt es gleichwohl, wie in dieser Hinsicht zeitgeschichtlich dokumentierbare Belege aus dieser Zeit und persönlich-biographische Selbsteinschätzungen aus dem Abstand von drei Jahrzehnten einander nahekommen. Am Ende geht A. auch knapp auf Grundmanns Versuche ein, nach 1945 akademisch und kirchlich wieder Fuß zu fassen (750–759). Auch zwischendurch kommt er immer wieder kritisch auf die innere Spannung zwischen den offenkundigen nationalsozialistischen Überzeugungen Grundmanns und seinen späteren Selbstrechtfertigungsversuchen zu sprechen.
Eigene Hauptkapitel der Dissertation sind der Organisationsstruktur (Satzungen und Finanzierung, Name und Geschäftsführung, Öffentlichkeitsarbeit, 489–547), dem Personal in der Eisenacher Geschäftsstelle und den Mitarbeitern und ihren Arbeitsbereichen (548–592), den Arbeitstagungen von 1939 bis 1944 (593–644) sowie den Veröffentlichungen des Instituts (644–725) gewidmet. In diesem Teil der Arbeit finden sich u. a. ausführliche Darstellungen zur »Botschaft Gottes«, der im Institut (und offenbar weitgehend von dessen Leiter selbst) erarbeiteten ›Evangelienharmonie‹ aus den synoptischen Evangelien, die zusammen mit gezielten Text-bearbeitungen der übrigen Teile des Neuen Testaments im Sinne völkischer und antijüdischer Grundsätze in hohen Auflagen als »Volksausgabe« verbreitet wurde (649–682), zum »entjudeten« deutschchristlichen Gesangbuch »Großer Gott wir loben Dich« (682–703), zum »Volkskatechismus und Lebensbegleitbuch« (703–715) sowie zu Grundmanns Buch »Jesus der Galiläer und das Judentum« aus dem Jahr 1940, das ebenfalls unter den »Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« publiziert worden ist (715–725; bibliographische Angaben zu den Veröffentlichungen Grundmanns im Verzeichnis der Primärliteratur: 871–875).
Die Veröffentlichung der Dissertation von A. stellt die künftige Forschung zur deutschchristlichen Bewegung in Thüringen und insbesondere zum Eisenacher »Entjudungsinstitut« und zu Walter Grundmanns Wirken in nationalsozialistischer Zeit auf eine neue Grundlage. Endlich liegt die umfassende Gesamtdarstellung vor, die es nunmehr möglich macht, auf effektive Weise Einzelforschungen zu konkreten Ereigniszusammenhängen, Gruppen und führenden Persönlichkeiten, Projekten und Aktivitäten einzelner Institutsmitarbeiter und den verschiedenen Themenbereichen der Institutsarbeit durchzuführen, aus denen sich erst ein zutreffendes Gesamtbild dieser wahrhaft fatalen Epoche neutestamentlicher Forschungsgeschichte in Deutschland ergeben kann. Die Zeit kurzschlüssiger und vordergründiger Pauschalurteile sollte nunmehr vorbei sein, und die Arbeit an konkreten Einzelprojekten kann dank A.s Monographie mit weitaus besserer Aussicht auf Erfolg beginnen.