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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1366–1369

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wiedenroth, Ulrich

Titel/Untertitel:

Krypsis und Kenosis. Studien zu Thema und Genese der Tübinger Christologie im 17. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XV, 676 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 162. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150873-8.

Rezensent:

Walter Sparn

Diese preisgekrönte Dissertation von Ulrich Wiedenroth bringt die seit einem halben Jahrhundert betriebene Erforschung der nachreformatorischen schwäbischen Christologie zu einem (vorläufigen) Abschluss. Von J. Brenz auf den Weg gebracht, schon bald revidiert aber nach der Formula Concordiae (FC) wieder diskutiert und im Streit zwischen der Tübinger und der Gießener Fakultät 1619/1624 (»Kenosis-Krypsis-Streit«) schließlich in eine neue Gestalt gebracht, wurde diese Christologie bis ins 20. Jh. weithin als spekulativer Exzess eingeschätzt, weitab von frommem Nutzen und auch konfessionspolitisch destruktiv. Meinte nicht schon seinerzeit der Dresdner Hofprediger Hoe von Hoenegg, dass es sich um ein »hochärgerlich Gezänke« handle?!
Der Vf. weiß, dass er einen »erratischen« Gegenstand gewählt hat, wie das die ältere Forschung belegt, die Teil A (1–38) sichtet. Gleichwohl sieht er sich durch die neuere Forschung, deren sukzessive Erschließung des Terrains er sorgfältig nachzeichnet (vor allem Th. Mahlmann, der Rezensent, J. Baur, M. Matthias, H.-Chr. Brandy), ermutigt, den problemgeschichtlichen Ort und das Thema der seit 1619 vorgetragenen Tübinger Christologie in volles Licht zu stellen (18 ff.). Der Vf. folgt dabei nicht historiographischen Trends (»Frömmigkeitskrise«, »Konfessionalisierung«), sondern un­ternimmt eine quellenorientierte Rekonstruktion der » intrinsisch motivierte[n] Entwicklungen eines ›Diskurses‹ sui ge­neris« (27 ff., zit. 36). Er nennt das »synchrone und diachrone Kontextualisierung«; tatsächlich ist seine Untersuchung ein Muster dessen, was – übrigens für eine andere Tübinger Neuorientierung (Schelling, Hegel usw.) – D. Henrich als »Konstellationsforschung« etabliert hat. So setzt die Untersuchung mit einer anfänglichen Rekonstruktion des Themas ein, so dass ein klarer Bezug auf vorlaufende und gleichzeitige Positionen möglich wird, deren Profil eine präzisierte Analyse der Tübinger These erlaubt (37 f.).
Teil B (39–113) exponiert den 1616–1618 laufenden Streit in Gießen, der sich an einer neuen Definition der praesentia divina durch B. Mentzer entzündete, die dann der Anstoß für die Tübinger Neuorientierung wurde. Mentzer legte eine ›rein‹ biblisch begründete Definition der göttlichen Gegenwart als actio vor, und entsprechend verknüpfte er die Gegenwart Christi nicht mit dessen Personsein, sondern allein mit seinem Amt (67 ff.). Der Vf. bekräftigt die frühere Beobachtung eines über Chemnitz auf Melanchthon zurückbiegenden Voluntarismus und ergänzt sie durch den Aufweis der Aporien der 1617 erzwungenen Selbstkorrektur Mentzers, wie sie in J. Feurborns neuer These von Graden der Annäherung der göttlichen Substanz zum Ausdruck kam (91 ff.). Aus Platzgründen können die oft stupend transparente Rekonstruktion der Argumentationen hier und in den folgenden, materialreichen Hauptteilen nicht im Detail gewürdigt werden, nicht die zahlreichen Ausgriffe auf umliegende Themen und Akteure und auch nicht die Gespräche mit neueren Interpretationen.
Nach einer ersten Zwischenbilanz (108 ff.) und ausgehend von der Tübinger Intervention in Gießen führt Teil C (114–275) die Tübinger Christologie in statu nascendi (1619) vor. Ihre These Logos factus est Christus besagt, dass die personale, perichoretische Einheit von Gott und Mensch in Christus den Logos und die von ihm angenommene Menschheit neu bestimmt; hier steht daher die theopaschitische Frage an (131 ff.). In der Detail-Analyse der Texte von Th. Thumm, Th. Wegelin und Lc. Osiander, hier speziell des Begriffs der Präsenz, notiert der Vf. Kontinuität und Diskontinuität der Debatten (152 ff.) und pointiert die Reichweite der These mit den Titeln »Ensarkose und Theogenese« (198 ff., Letzteres missverständlich). Nachdem die Konstellation auf A. Osiander, J. Schegk und J. Kepler (!) erweitert worden war, wird sie nun durch problemgeschichtliche Profile vervollständigt (215 ff.): J. Brenz’ ubi Deus ibi homo (und seine Mängel); der den kenotischen Streit vorwegnehmende Streit mit den Helmstedtern ab 1585 (in der die Württemberger eine Mentzersche Position vertraten!, 231 ff.); Ä. Hunnius’ nochmalige Transformation des gemäßigten Ubiquitismus mit der These einer (weltlosen!) praesentia intima der göttlichen und der menschlichen Natur Christi zueinander (256 ff.). Hier ist noch nicht erkannt, dass Erniedrigung Christi nicht der Ausnahmefall des Vollzugs der unio personalis ist, sondern deren »Ernstfall« (251.254 f.568 ff.). Wie problematisch die vom Apathie­axiom gesteuerte These Hunns im Blick auf die »theopaschitische« Herausforderung war (262 ff.), ist dem Rezensenten erst jetzt aufgegangen. Eine Herausforderung liegt allerdings auch im durchgehenden Gebrauch dieses Teminus (für die Teilnahme der Gottheit am Leiden der Menschheit) durch den Vf.
Nach einer zweiten Zwischenbilanz (272 ff.) zeichnet Teil D (276–470) die multas novationes in Tübingen bis 1610 nach: die Revision der FC seit J. Heerbrand, M. Hafenreffer, S. Gerlach, M. Schaefer, Th. Wegelin und J. Hoecker; die sächsische Alternative, vor allem B. Meisner, und S. Gesners erstmals grundsätzliche Kritik an der nur asymmetrischen Idiomenkommunikation (356 ff.). Gesners Einsicht, dass die Person Jesu Christi nichts Drittes zur Kommunikation der (an sich und bleibend disparaten) Naturen Christi hinzufügt, sondern »nur« in ebendieser Perichorese besteht (so dass es keine Mitteilung von Eigenschaften der Naturen an die Person gibt, was die FC wie alle Vertreter einer suppositalen Union unterstellte) – das ist der eigentliche Progress (370 ff.). Der Vf. nennt diesen extrem dynamischen Personbegriff »reduktiv«, gibt damit aber dem Vorwurf, er sei flach und leer (so die an substanzieller »Persönlichkeit« Interessierten), m. E. noch zu sehr nach.
Das neue Niveau wird sprachlogisch (konkret/abstrakt, Luther folgend, gegen Chemnitz, 378 ff.) und ontologisch, in einem strikt relationalen oder kommunikativen Personbegriff realisiert (415 ff.); auch von Meisner (437 ff.478 ff.), der jedoch, ähnlich wie J. Gerhard, eine dritte, zwischen Tübingern und Gießenern vermittelnde Option ausbildete (177 ff.568 u. ö.).
Eine dritte Zwischenbilanz markiert, dass diese Christologie nicht von der Frage nach der Allgegenwart des erhöhten Gottmenschen, sondern von der Frage nach dem Leiden des sich irdisch entäußernden Gottmenschen motiviert ist. Ihre logische und ontolo­-gische Klärung ist mitnichten »rationalistisch« (H. E. Weber), sondern dient vielmehr dazu, »die Passions-Geschichte Christi als Geschichte Gottes selbst zu verstehen« (460 ff., zit. 468).
Teil E (471–556) führt zunächst sprachlogische und ontologische Dissoziationen im Vorfeld des kenotischen Streits vor, vor allem die Debatte um die praedicationes personales und über deren Voraussetzung, dass die perichoretisch doch ineinander existierenden Naturen Christi nach wie vor disparaten Wesens sind (471 ff.495 ff.). Der Vf. analysiert dann die Schriften des Kenosis-Streits 1620–1624, vor allem die Th. Thumms (502 ff.), und evaluiert deren Erkenntnisse im Blick auf die Konkreta und Abstrakta der Christologie, auf die klar als kontinuierlich und symmetrisch erkannte Perichorese der Naturen und ihrer Propria, ohne die vermeintliche »Ausnahme« im status exinanitionis, (schon 242 ff.), d. h. auch im Handeln des Christus homo (!) bzw. in der Realität der Entäußerung des totus Christus indivisus, also auch des Logos (528 ff.554 ff.). Die Sicht der Entäußerung des irdischen Christus auf bloße »Krypsis« des Majestätsgebrauchs festzulegen, widerspricht der (richtigen) Tü­binger Selbsteinschätzung: Damals verzichtete Jesus Christus auf den Majestätsgebrauch zu eigenen Gunsten, er entäußerte sich dessen real um seines hohepriesterlichen Amtes willen (544 ff.).
Unter dem (missverständlichen: 543) Titel Unum omnia stellt Teil F (557–582) die Tübinger Christologie als Korrektur, aber auch als Konsequenz des Brenzschen Ansatzes dar, attestiert ihr, nicht zwischen »Systemanspruch und Schriftbezug« hängen geblieben zu sein (vgl. aber 147.560) und hält abschließend nochmals fest, »wozu solche disputationes dienen«: um das in den Evangelien erzählte Leben Jesu nicht nur als divina humanitas, sondern schon als humana divinitas, als Gottes eigene, bis in sein inneres (trinitarisches) Leben reichende Geschichte zu begreifen (568 ff.). Der Vf. will damit Hinweise auf Perspektiven einer weiter detaillierten (!) Interpretation geben – so schnell wird sich dafür niemand finden! Vielleicht aber für die auch vom Vf. für sehr wünschenswert erachtete »i. e. S. historische Aufarbeitung der Debatte« (28 f.582), d. h. ihre vielleicht nicht »integrale«, aber doch z. B. frömmigkeitsgeschichtliche Kontextualisierung? Eine weitere Aufgabe dürfte dem Vf. auch vor Augen stehen: Die Tübinger Explikation des Lebens Jesu »im dogmatischen Begriff« (577) stand »unter den Bedingungen der klassischen Inkarnationschristologie« (582) – wie lässt sich der konsequent nicht-essentialistische Personbegriff der Tübinger explizieren, wenn seine Voraussetzung, die massiv essentialistische Differenz von »Naturen«, nicht mehr gegeben ist und man sich mit »Göttlichem« und »Menschlichem« (566) bescheiden muss?
Ein exzeptionelles Buch, für das ein umfassendes Verzeichnis der Quellen (585 ff.) und der Sekundärliteratur (626 ff.), das Register der Bibelstellen, Personen und Sachen (661 ff.) und ein so gut wie fehlerfreier Druck selbstverständlich sind.