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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1364–1366

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Riedel, Julia Anna

Titel/Untertitel:

Bildungsreform und geistliches Ordenswesen im Ungarn der Aufklärung. Die Schulen der Piaristen unter Maria Theresia und Joseph II.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner 2012. XIV, 611 S. m. Abb., Ktn. u. Tab. = Contubernium, 77. Geb. EUR 87,00. ISBN 978-3-515-09911-0.

Rezensent:

Manfred Eder

Die Katholische Reform des 16. Jh.s brachte als neue Ausprägung innerhalb des Ordenswesens die Regularkleriker hervor, unter denen den Jesuiten sicherlich der erste Platz gebührt. Daneben entstand eine Reihe weiterer kleinerer Priestergemeinschaften, so 1602 in Rom die »Armen Regularkleriker der Gottesmutter der frommen Schulen (Ordo Clericorum Regularium Pauperum Matris Dei Scholarum Piarum)«, nach dem letzten Teil des lateinischen Namens kurz »Piaristen« genannt. Das Besondere an diesem heute mit 1400 Mitgliedern in vier Kontinenten verbreiteten Orden ist neben der marianischen und ignatianischen Spiritualität das Sondergelübde der Jugenderziehung und -unterrichtung, wobei die Schulen der im 17. Jh. bald weit über Italien hinaus zu findenden Piaristen das erste Modell unentgeltlicher christlicher Volksschulen in Europa bilden. Auch in einigen Territorien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation konnten sie Fuß fassen, erlangten jedoch aufgrund der geringen Anzahl von Schulen keine große Bekanntheit. Ganz anders in den österreichischen Erblanden und in den Königreichen Böhmen und Ungarn, wo sich der Piaristenorden im 18. Jh. zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz der Jesuiten entwickelte, insbesondere seit Papst Clemens XII. 1731 gestattet hatte, dass in den Piaristenschulen auch die höheren Studien der Philosophie und Theologie absolviert und Zöglinge aus reicheren und adeligen Familien aufgenommen werden durften. So kann es nicht verwundern, dass die Piaristen unter der sie großzügig fördernden Kaiserin Maria Theresia (1740–1780) die größte Ausdehnung und Entfaltung erlangten (zumal 1773 die Jesuiten aufgehoben wurden), ehe unter ihrem seit 1765 bereits mitregierenden Sohn Joseph II. (1780–1790) eine Phase staatlicher Abhängigkeit folgte. Wie die Vfn. in der Einleitung darlegt, behandelt die 2010 von der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommene und von Anton Schindling betreute Dissertation »das Verhältnis des Piaristenordens zu den aufgeklärten Reformen Maria Theresias und Josephs II. im Königreich Ungarn mit dem vergleichenden Blick auf die österreichischen Erblande und übrige Teile der Monarchie. Im Zentrum der Untersuchung von Julia Anna Riedel steht die Verbindung von Schulreform und geistlichem Ordenswesen« (2).
Bevor dies im Kapitel C ausführlich zur Darstellung gelangt, werden im Kapitel A (1–45) u. a. zentrale Begriffe geklärt und der methodische Ansatz erläutert, der sich anlehnt an die fächerübergreifende Forschungsinitiative »Bedrohte Ordnungen« an der Universität Tübingen. Das Kapitel B (47–236) zeigt zunächst den Status quo des ungarischen Bildungswesens zu Beginn des 18. Jh.s auf, gibt dann einen Einblick in die Geschichte des Piaristenordens im Allgemeinen und im Königreich Ungarn im Besonderen, be­schreibt die Lehrart der Piaristen (auch im Vergleich mit den Jesuiten) und führt darauf zum einen in das Verhältnis des Ordens und einzelner Ordensmitglieder zur Aufklärung ein und zum anderen in das Verhältnis des Ordens zu denjenigen seiner Mitglieder, die sich als »bürgerliche« Intellektuelle präsentierten. Im Kapitel C, dem »Herzstück« der Dissertation (237–510), werden zunächst die staatlichen Pläne zur Neuordnung des ungarischen Schulwesens vorgestellt, anschließend unter der Überschrift »Kooperation und Konfrontation« die wechselseitigen Beziehungen zwischen Staat und Piaristen beschrieben und sodann das staatliche Reformwerk »Ratio educationis«, die auf dieser Basis durchgeführte Schulreform von 1777 sowie die Handhabung der staatlichen Schulaufsicht ventiliert. Im Weiteren geht es um die kirchenpolitischen Maßnahmen Maria Theresias und Josephs II. im Spiegel der »Intimata regia«, d. h. der königlichen Verordnungen und Mitteilungsschreiben an die Ordensleitung der Piaristen, und schließlich um die Auswirkungen der Reform auf den Orden sowie dessen Reaktionen und Bewältigungsstrategie, die R. als »Eigeninitiative mit staatlicher Kooperation« (487) charakterisiert.
Was sind die wesentlichen Ergebnisse dieser sehr detailliert ge­gliederten und flüssig zu lesenden Untersuchung, die neben ungedruckten Quellen aus acht Archiven (Budapest, Rom, Wien) auch die einschlägige ungarische Literatur (mit deutscher Übersetzung aller Buch- und Aufsatztitel) in großer Breite einbezieht? Da der Piaristenorden einer gemäßigten Aufklärung nicht abgeneigt war, bot er sich »als Partner für die reformfreudige Regierung in Wien an« (512). In diesem Zusammenhang betont die Vfn., dass die habsburgischen Herrscher keineswegs eine Abkehr von der katholischen Kirche oder gar eine Säkularisierung im Sinne einer Entchristlichung ihrer Lande intendierten, sondern »eine nach Maßgabe reformkatholischer Ideen erneuerte katholische Kirche« (513), die als »Kitt« in diesem Vielvölkerstaat fungieren konnte. »Aus dieser Perspektive entsprangen selbst die Klosteraufhebungen Josephs II., die im Dienste dieser Bemühungen standen, keinem antikatholischen oder areligiösen Geist« (ebd.). Dagegen habe sich sehr wohl eine Säkularisierung im Sinne einer Verweltlichung vollzogen. »Der Blick auf die Schulreformen im 18. Jh. zeigte die Absicht der weltlichen Gewalt, die gestaltende Rolle der Kirche im Bereich Erziehung und Bildung zu übernehmen und das Schulwesen aus seiner bisherigen Bindung an die Kirche herauszulösen« (ebd.). Zwar wurde die kirchliche Trägerschaft von Schulen nicht ange­-tastet, aber – wie erwähnt – eine staatliche Schulaufsicht eingeführt. Erklärtes Ziel der Reformer im Königreich Ungarn war nicht nur die Förderung des Elementarschulwesens, sondern auch die Vermehrung der Zahl der Gymnasien, wobei die inhaltliche Ausrichtung der gymnasialen Bildung (mit Schwerpunkten auf Religion und Latein) im traditionellen Rahmen verblieb. Allerdings wurden die Lehrpläne durch einige »nützliche« Lehrfächer wie Buchführung und Rechnungswesen ergänzt, galt es doch auch, zukünftige Staatsbeamte auf ihre Aufgaben vorzubereiten.
Wurden die Neuerungen im schulischen Bereich von den Pia­-ris­ten, die nach 1773 einige jesuitische Bildungseinrichtungen übernahmen, mitgetragen, so riefen die Eingriffe Maria Theresias und Josephs II. in die Ordensstrukturen und -belange, so z. B. durch das Verbot des ordensinternen Studiums oder die vorübergehende Aufnahmesperre von Novizen, heftige Kritik hervor. Auch die schlechte Finanzlage des Ordens, die zu Versorgungsengpässen (sogar bei Lehrutensilien) führte und notwendige Gebäudereno­vierungen verhinderte, ließ ernsthafte Klagen laut werden, z. B. seitens der Pester Piaristen, die 1788 eine von 35 Klerikern unterzeichnete Petition an die Statthalterei schickten (vollständig abgedruckt: 550–552). Aus der misslichen Lage des Ordens resultierten außerdem die private Lehrtätigkeit vieler Ordensgeistlicher und nicht zuletzt zahlreiche Ordensaustritte, die die Mitgliederzahl in der ungarischen Ordensprovinz von 423 im Jahr 1783 auf 321 im Jahr 1790 schrumpfen ließ (vgl. 480, Graphik 2). Die relative Armut des Piaristenordens war auch einer der Gründe dafür, warum er nicht aufgehoben wurde: Es lohnte sich einfach nicht. Überdies war er aber angesichts eines akuten Lehrermangels in Ungarn im Schulbereich auch nicht ersetzbar, so dass es zweifellos taktisch klug war, wenn die Piaristen in ihren Beschwerdeschreiben immer wieder als Alleinstellungsmerkmal hervorhoben, dass sich der Orden vornehmlich der Jugenderziehung widme und dadurch unablässig dem Wohle der Allgemeinheit diene.
Eine ausführliche deutsche Zusammenfassung (511–524) und kürzere Resümees in englischer und ungarischer Sprache (525–529 bzw. 530–534) sowie ein siebenteiliger Quellenanhang und ein (allerdings in sehr kleiner Schrifttype gesetztes) Orts- und Personenregister vervollständigen und beschließen die profunde und ansprechend bebilderte Studie, die sowohl eine differenziertere Sicht als bisher auf die Ordensgeschichte der Piaristen in Ungarn als auch auf die Bildungsgeschichte Ungarns zur Aufklärungszeit ermöglicht.