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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1359–1361

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Benrath, Gustav Adolf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gerhard Tersteegen: Briefe. Bde. I u. II. Hrsg. unter Mitarbeit v. U. Bister u. K. vom Orde.

Verlag:

Gießen: Brunnen Verlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 1268 S. m. 2 Abb. = Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. V, 7,1 u. 7,2. Geb. EUR 199,00/230,00. ISBN 978-3-7655-9409-0 (Brunnen); 978-3-525-55339-8 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Die Edition eines frühneuzeitlichen Briefwechsels stellt einen gleichermaßen hoch anspruchsvollen wie anregenden Beitrag zur Forschung dar. Briefe sind bekanntlich als schriftliche Form von Kommunikation unverzichtbare Quellen historischer Forschung, sei es für die Kirchen- und Theologiegeschichte im engeren Sinne oder für die Alltags- und Kulturgeschichte sowie für die Sozial- und Ideengeschichte. Korrespondenzen gewähren, vor allem als Privatbriefe, Einblicke in die persönlichen Lebensbereiche, in die emotionale wie religiöse und geistige Verfassung, berichten über Exis­tenznöte, Leiden und Befindlichkeiten des Schreibers und zeugen häufig von individueller Unmittelbarkeit und ungeschützten Aussagen. Für die Rekonstruktion historischer Sachverhalte, biographischer wie intellektueller Genesen oder auch für die Interpretation von Literatur oder wissenschaftlicher Theoriebildung können sie entscheidende Hinweise liefern. Briefe ermöglichen zudem Einblicke in solche Lebens- und Alltagsbereiche, für die ansonsten keine anderen Quellen zur Verfügung stehen. Sie erhellen ferner individuelles wie soziales Leben, das sich beispielsweise am Rande der Gesellschaft oder im Verborgenen abspielte. Sie dienen schließlich dazu, die Entfaltung religiöser Ideen und Vergemeinschaftungsformen zu rekonstruieren. Hier seien exemplarisch Briefwechsel aus dem Bereich des Pietismus genannt, die in den letzten Jahrzehnten recht kontinuierlich erschienen sind. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus werden in der Reihe »Texte zur Geschichte des Pietismus« (TGP) Werke bzw. Briefe von August Hermann Francke, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Gerhard Tersteegen, Johann Albrecht Bengel und Fried­rich Christoph Oetinger sowie Texte von Einzelgestalten wie Phi-lipp Matthäus Hahn, Johann Caspar Lavater und Beate Hahn Paulus herausgeben. Die umfangreichen Briefe Philipp Jakob Speners mit ca. 3500 Briefen erscheinen zwar mit Unterstützung der Kommission, aber separat außerhalb der TGP. Die genannten Editionen schreiten sehr unterschiedlich rasch voran.
Eine bedeutsame Edition liegt nun mit den Briefen von Gerhard Tersteegen vor, die der emeritierte Mainzer Kirchenhistoriker Gus­tav Adolf Benrath unter Mitarbeit von Ulrich Bister und Klaus vom Orde veröffentlicht hat. Nachdem Albert Löschhorn und Winfried Zeller 1979 Tersteegens »Geistliche Reden« (TGP V,1) und Cornelis Pieter van Andel 1982 Tersteegens »Briefe in niederländischer Sprache« (TGP V,8) publiziert hatten, erscheinen nun Briefe, die Tersteegen fast ausnahmslos in deutscher Sprache verfasst hatte. Die beiden Bände bieten 750 Briefe. Ihnen liegt als Textbasis eine alte Edition zugrunde, die in vier Teilen in Solingen 1773–1775 unter dem Titel »Geistliche und Erbauliche Briefe über das Inwendige Leben und wahre Wesen des Christenthums von weyland Gerhard Tersteegen. Zum gemeinen Nutz gesammlet und ins Licht gegeben« erschien.
Teerstegen, der 1697 in Moers geborene und 1769 in Mülheim an der Ruhr verstorbene reformierte »niederrheinische Mystiker«, den C. P. van Andel in seiner Biographie als »Grenzbewohner zwischen zwei Welten«, zwischen Quietismus und Pietismus nämlich, bezeichnet hat, zählt nicht zu den bekannteren Figuren der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte, auch wenn er gelegentlich in Gottesdiensten als Liederdichter in Erscheinung tritt. Einige seiner Lieddichtungen wie »Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten« oder »Ich bete an die Macht der Liebe« sind durchaus in gottesdienstlichem Gebrauch. Die vorliegende Ausgabe, die sich um den Abdruck sämtlicher noch auffindbarer Briefe bemüht hat und eine Vielzahl von bislang unbekannten Texten bieten kann, fügt den Briefen knappe, überaus hilfreiche Kommentare und Erläuterungen an, die allerdings gelegentlich etwas ausführlicher hätten ausfallen dürfen. Die Briefe decken den Zeitraum von 1721 bis 1769 ab und wenden sich vor allem an Adressaten in der näheren Umgebung wie Mülheim, Solingen und Barmen. Dem Textcorpus vorangestellt ist eine editorische Einleitung des Herausgebers; die Erschließung der Bände ermöglichen Personen-, Orts- und Bibelstellenregister. Auf ein Sachregister wie auf eine thematische Einführung in die Briefe und ihre historischen Kontexte verzichtete der Herausgeber.
Die Lektüre der Briefe erfüllt einerseits mit hohem Respekt für diese präzise und typographisch ansprechend gestaltete Ausgabe und bietet andererseits Einblick in ein spezifisches religiöses Milieu, in die besondere Frömmigkeit Tersteegens, wie sie beispielsweise in seiner lange Zeit verborgen gehaltenen Verschreibung an Jesus am Gründonnerstag 1724 mit dem eigenen Blut evident wird. Zuvor war der ehemalige Kaufmann, der sich als Leineweber und Bandwirker karitativ engagierte, fünf Jahre auf der Suche nach einer religiösen Orientierung gewesen. Einen Eindruck dieser Lebenskrise vermittelt schon der erste abgedruckte Brief an Adolf Weber aus dem Jahr 1721 mit ausdrucksstarken Worten. Unter den Adressaten befinden sich auch solche separatistischen Reformierten wie Johann Lobach und Gottfried Luther Stetius, die sich mit anderen nach der Trennung von der reformierten Gemeinde in der Wupper wiedertaufen ließen, um damit ein Zeichen ihrer Jesus-Nachfolge zu setzen, und schließlich eine Festungshaft zu verbüßen hatten. Eine »Schwäster« beriet Tersteegen Ende Januar 1739 hinsichtlich der Frage, wie sich denn Frauen in den Versammlungen zu verhalten hätten. Diese in geschlechtergeschichtlicher Perspektive aufschlussreichen Ausführungen differenzieren zwischen sonntäglichen und werktäglichen Zusammenkünften und sehen vor, dass sonntags »das weibliche Geschlecht in einem aparten nebenzimmer zuhörete, und zu solcher Zeit würde ich nicht rathen, das jemand von Weibspersonen mit redete, welche es auch seye«. In der Woche sollten nur »unverdächtige betagte Mannspersohnen« in die Zusammenkünfte der Frauen gelassen werden, um dort ein Gebet oder ein Wort zur Erbauung zu sprechen. Hier sei nun auch der Ort, für ein »kurzes Wort« von Frauen. Sozusagen als Fazit rät Tersteegen »Weibspersonen an das man auch von Geistlichen Sachen nicht zu viel schwätze« (Bd. 1, 429). Neben dieser Schwester gehörten zahlreiche Frauen zu Tersteegens Adressatenkreis. So richtete er auch seinen letzten überlieferten Brief, der schon deutliche Züge des nahenden Lebensende trägt, wenige Tage vor seinem Tod an eine ungenannte »liebe Hertzens schwester«, (Bd. 2, 575). In diesem wie in anderen Briefen wird Tersteegen als Seelsorger greifbar, der umsichtig nicht nur in religiösen, sondern gleichfalls in weltlichen Sachen beriet. Er kümmerte sich überdies um körperliche wie seelische Erkrankungen und vergaß dabei nicht, detailliert über eigene Beschwerden zu berichten. Seine Korrespondenz lässt dabei eine religiös quietistische Grundeinstellung erkennen, wenn es heißt: »Laß GOtt mit dir machen; mache du selbst nicht zu viel, sondern halte seinen inneren Wirckungen kindlich, vertraulich und einfältig stille; dann wird alles gut ge­hen« (Bd. 2, 377). Neben solchen theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich interessanten Aspekten lassen die Briefe weitere Bereiche des alltäglichen Lebens lebendig werden, wenn Tersteegen beispielsweise mit dem Buchdrucker Johann Schmitz in Solingen verhandelt. Sie berichten – um nur einige Beispiele zu nennen – über Lektüren, Literatur und Privatversammlungen, die sich in Mülheim 1750 uneingeschränkter Freiheit erfreuten, sowie über Tersteegens Schwierigkeiten mit der lutherischen Obrigkeit.
Dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern sei abschließend für diese gleichermaßen ergiebige wie anregende Briefedition gedankt, welche zweifelsohne die Erforschung Tersteegens und der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte in hohem Maße bereichert.