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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1357–1358

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schäufele, Wolf-Friedrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Marburger Artikel als Zeugnis der Einheit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 212 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-374-03080-4.

Rezensent:

Christopher Spehr

Das Marburger Religionsgespräch von 1529 gilt gemeinhin als Fehlschlag. Weder führte es zu einer Verständigung in der Abendmahlslehre zwischen den verfeindeten evangelischen Lagern noch konnte es die Voraussetzung für ein politisch-militärisches Bündnis aller Protestanten schaffen. Weil sich sowohl Luther als auch Zwingli als Sieger des vom 1. bis 4. Oktober 1529 auf dem Marburger Schloss abgehaltenen Kolloquiums ausgaben, Luther zudem noch dem Straßburger Reformator Martin Bucer die Bruderhand ausschlug und sich fast zeitgleich der sächsische Kurfürst Johann mit Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach in Schleiz auf die lutherischen Schwabacher Artikel als Bündnisgrundlage verständigten, schien die politische Strategie Philipps von Hessen, die er mit dem Marburger Gespräch verfolgte, gescheitert. Ein gesamtprotestantisches Bündnis unter Einschluss der Schweizer kam aufgrund des Dissenses im Abendmahl nicht zustande.
Der vorliegende Tagungsband greift die bisherigen Interpretationen und Forschungsdiskurse zu »Marburg 1529« auf, bietet aber einen neuen, reizvollen Ansatz. Statt die trennende Uneinigkeit hervorzuheben, ruft der von Wolf-Friedrich Schäufele herausgegebene Band die in Marburg bezeugte Einheit in Erinnerung. Realisiert wurde dieses Projekt auf einem eintägigen Symposium in Marburg am 29. Oktober 2011 durch die dortige Universität und die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck anhand der Marburger Artikel. Die Konzentration auf die 15 Artikel, die von Luther unter Rückgriff auf die Schwabacher Artikel formuliert und von den anwesenden Reformatoren unterzeichnet worden waren, ist sinnvoll, stellen sie doch das einzige von Schweizern und Wittenbergern gemeinsam verantwortete Bekenntnis dar. Brennglasartig ermöglichen die Artikel die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Glaubensauffassungen zwischen den verschiedenen reformatorischen Richtungen darzustellen, zu analysieren und – so die Intention des Bandes – zur heutigen Beschreibung des Wesens evangelischen Glaubens fruchtbar zu machen.
Bevor die Analyse der Artikel in Form von sechs Aufsätzen namhafter Kirchenhistoriker und Systematischer Theologen durchgeführt wird, leitet S. in die Text- und Überlieferungsgeschichte der Marburger Artikel ein. Es folgen ein Abdruck des Autographs der Artikel aus dem Hessischen Staatsarchivs Marburg sowie eine vorbildliche Transkription dieses Textes, welcher durch die Zusätze aus dem Zürcher Exemplar ergänzt wird. Dieser schließt sich eine neuhochdeutsche Übertragung an. Eine Synopse der Schwabacher und Marburger Artikel macht die textlichen Zusammenhänge und Unterschiede der beiden Bekenntnisse anschaulich. Nach diesen wertvollen philologischen Grundlegungen, bei denen bedauerlicherweise auf eine Zeilennummerierung verzichtet wurde, interpretiert S. unter dem Motto »Bündnis und Bekenntnis« die Marburger Artikel »in ihrem dreifachen historischen Kontext« (43–67): dem Marburger Religionsgespräch, der protestantischen Bündnispolitik und der reformatorischen Bekenntnisentwicklung. Eindrücklich wird hierbei die »diametral entgegengesetzt[e]« Strategie des kursächsischen und des hessischen Fürsten anhand der beiden Bekenntnisse vorgeführt (57): Während die Marburger Artikel auf eine Integration der Schweizer und Straßburger zielten, setzten die letztlich bündnispolitisch wirksameren Schwabacher Artikel auf deren Exklusion.
Der historischen Einführung schließt sich die Analyse der Artikel an, welche sowohl die Übereinstimmungen als auch die Gegensätze der reformatorischen Positionen berücksichtigt. In seinem instruktiven Beitrag »Das Erbe der Alten Kirche. Gott und Christus« (69–103) untersucht Peter Gemeinhardt die trinitätstheologischen und christologischen Implikationen der Artikel 1–3. Den Bogen zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) schlägt André Birmelé in seiner ökumenischen Analyse der Artikel 4–7 unter dem Titel »Das reformatorische Evangelium. Sünde und Rechtfertigung« (105–114), der auf den Marburger »Konsens in der Botschaft des Heiles« (111) hinweist. Martin Sallmann, der diesen Konsens in seiner lesenswerten Abhandlung über die Artikel 8–9 und 14 zu Recht relativiert, betont unter der Überschrift »Glaube als Ge­schenk. Predigt und Taufe« die »Zuordnung von Wort und Geist als Dreh- und Angelpunkt der Marburger Artikel« (115–135). Die Artikel 10–13 profiliert Jan Rohls sachgerecht im Horizont von »Glaube und Leben. Die evangelische Ethik« (137–149). Der in Marburg un­verglichene Abendmahlsartikel 15 – genauer die Frage nach der leiblichen Gegenwart Christi im Mahl – wird in zwei Beiträgen bear­beitet. »Die lutherische Position« (151–174) analysiert minutiös Athina Lexutt, während Peter Opitz »die reformierte Perspektive« (175–196) erkenntnisfördernd einträgt. Beide kirchenhistorische Vertreter stimmen in ihrer kritischen Einschätzung überein, dass die Marburger Artikel als »Dokument des gescheiterten Einheitszeugnisses« (195) und fehlender »Kircheneinheit« (174) zu werten sind. Gleichwohl eröffnen die Artikel eine Perspektive, die Martin Hein in seinem abschließenden Aufsatz »Der bleibende Auftrag von Marburg 1529« unter der Frage »Was heißt heute ›evangelisch‹?« (197–207) erörtert. Als diese Perspektive notiert er den »Streit um die Wahrheit«, das »Gebet für die Einheit« und »die Gestaltung von Vielfalt und Individualität« (199). In dieser aktualisierenden Sichtweise können die Marburger Artikel dann in der Tat als »Zeugnis der Einheit« dienen.