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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

556–558

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gansterer, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die Ehrfurcht vor dem Leben. Die Rolle des ethischen Schlüsselbegriffs Albert Schweitzers in der theologisch-ökologischen Diskussion.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lang 1997. 391 S. 8 = Forum interdisziplinäre Ethik, 16. Kart. DM 98,-. ISBN 3-631-31471-X.

Rezensent:

Klaus Otte

Eine theologische Arbeit überzeugt in der Regel, wenn sie wie bei Gerhard Gansterer aus einer Art Wechselbeziehung zwischen behandelter Thematik und persönlich-existentiellem Engagement erwachsen ist. Manch ein schnell-fertiges Urteil über Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" - auch aus dem Munde honoriger Kirchenlehrer - erreicht nicht den spirituell-wissenschaftlichen Level, der beim Vf. der vorliegenden Dissertation zum Schwingen kommt. Immerhin ist es nicht nur das Konzilswort "Gaudium et spes", welches den Doktoranden zur Auseinandersetzung mit dem Problem "Schöpfung und Umwelt" bewogen hat, sondern auch die seit der Kindheit und Jugend dem Urwalddoktor verwandte Naturverbundenheit des Vf.s.

"Warum soll sich der Mensch Wie zur Natur verhalten" (16)? Die so gestellte Leitfrage hebt das wissenschaftliche Bemühen aus dem Bereich auch theologischer Geschwätzigkeit heraus und plaziert es auf dem Feld ethisch-praktischer Rechenschaft vom Glauben. Es geht um die Begründung eines "gelingenden Mensch-Natur-Verhältnisses" aus dem funktionalen Glauben (17). Sachgemäß wendet sich die Studie zunächst einer primären und sekundären Analyse des mit dem Begriff "Ehrfurcht vor dem Leben" bei Schweitzer und seinen Interpreten Gemeinten zu (18). Des weiteren wird die Rezeption dieses Hauptgedankens in der gegenwärtigen Schweitzer-Renaissance nach einer dialektisch-theologischen Epoche untersucht (19). Durch "eine begriffliche Vorklärung" der tragenden Termini "Natur", "Leben", "Umwelt bzw. Mitwelt", "Schöpfung, Welt, Universum und Kosmos" schafft der Vf. eine hypothetische sprachliche Klarheit, die indessen im Laufe der späteren sachlichen Vertiefung und auch thematischen Diskussion ihre eigene präjudizierende Begrenztheit erfahren dürfte (20 ff.).

Biographisch versucht der Vf. Schweitzers wissenschaftliche Maxime in dessen vier Studiengebieten Theologie, Philosophie, Musik und Medizin darzustellen: "Versöhnung von Denken und Glauben" war eine davon (28). Die Einflüsse maßgeblicher Lehrer werden aufgezeigt (37 ff.). "Die Betonung des Lebens als auch die Verbindung von Denken, Erkennen und Erleben" hält die Untersuchung für ein wesentliches Charakteristikum Schweitzers (49). Eine Synthese von Mystik und Rationalismus fände hier statt (50). Indisches und chinesisches Denken zeige sich als Korrelat zu Schweitzers Ethik, insofern er solches aufnimmt und zugleich umwandelt (54). Mit dieser Feststellung tangiert der Vf. ein grundsätzlich hermeneutisches Problem, welches weder von ihm noch von der herangezogenen Sekundärliteratur hinreichend behandelt werden konnte, da es als universales bis heute noch nicht angemessen erkannt worden ist (vgl. etwa Klaus Otte, Identität und Nicht-Identität zwischen den Weltreligionen und Kulturen. In: Weltoffenheit des christlichen Glaubens. Fritz Buri zu ehren. Bern 1987, 155 ff.).

Woher nun aber der Begriff Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben"? War es jenes "Zufallsereignis" am Ogowe-Fluß, wie es dem Urwalddoktor beim Anblick einer Herde von Nilpferden beim Sonnenuntergang zufiel? Oder waren es frühere Ethiker, welche ein solches Denken vorbereitet bzw. ermöglicht hatten? Schweitzers Brief an Fritz Buri hält fest, daß der Schreiber die "Ehrfurcht vor dem Leben" für seine "Neuschöpfung" hielt (58). An grundsätzlichen Beobachtungen in Predigten und Äußerungen des Lebens- und Kulturphilosophen macht G. dies fest (60 ff.).

Der Vf. resümiert: ",Ehrfurcht vor dem Leben’ ist für Schweitzer eigentlich Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben, den der Mensch in sich und außerhalb seiner selbst staunend beobachtet und miterlebend erkennen kann" (92). Damit meldet sich nicht nur das vorher schon angemahnte prinzipielle hermeneutische Problem im Rahmen einer Wirklichkeits-Rezeption im europäischen Subjekt-Objekt-Schema an, sondern auch das fundamentale Schuldigwerden und Schuldigbleiben dessen, der Realität an sich ethisch und noetisch zu greifen versucht (vgl. 116 ff.). "Humanität, Kultur und Friede als Ziele der ,ethischen Weltanschauung’" sind davon betroffen (124).

An Schweitzers Realitätsnähe sowohl in ethischer als auch in sprachlicher Hinsicht scheiden sich die Geister der Interpreten. So scheitert meines Erachtens die positivistische Kritik eines H. Groos am realistischen Anspruch Schweitzers, wenn er etwa in dem "Ineinander von Religion und Philosophie" einen Grund für eine fundamentale "Verwirrung" sieht. "Dehnbar und schwebend" seien Schweitzers Grundbegriffe, kolportiert er, ohne die hierin sich ausdrückende Realitätsnähe zu begreifen (130). Daß bei solchem prinzipiellen Mißverstehen Phänomene wie "Mystik" etc. nicht mehr einzuordnen sind (131), liegt auf der Hand. Die Schubladisierungen der Kritiker und Interpreten verraten daher eher deren eigene "Logik" als die Denkansätze des vor dem Leben Ehrfürchtigen, wenn sie etwa pathetisch von dessen Ethik als "Aufschrei" (Karl Barth) (145 f.), als "Titanischer Drang" (Helmut Groos) (147 f.) oder ähnlich sprechen. Jedenfalls deklariert der Vf. aber solche Ethik auch als in Wahrheit bestehendes "hermeneutisches Problem" (151). Auch eine dergestalte Hermeneutik kann nur den Maßgaben auf der Spur bleiben, welche das "Staunen über das Phänomen des Lebens" hinterläßt (171).

Diese Problematik, welche einerseits kultur- und philosophiegeschichtlich bedingt mit heraufgeführt und andererseits durch das Andrängen der gegenwärtigen Welterfahrung ins Haus steht, bewegt die heutige theologisch-ökologische Diskussion und Praxis. Im zweiten Teil der Studie wendet sich der Vf. deshalb unter dem Titel "Albert Schweitzer wird wieder zitiert" den aktuellen Veröffentlichungen zu (175). Dabei tritt die hermeneutische Offenheit der tragenden Begriffe erneut in der Weise zutage, daß sie niemals in einem lebensnahen Verstehenszusammenhang in eine absolut eindeutige, nicht mehr "dehnbare" Sprache einmünden kann, sondern je nach Sichtweise und Situation für neue Nischen im Sprachspiel der Realisierung von "Ehrfurcht vor dem Leben" anfällig und ansprechbar ist.

Einerseits rückt die gesamte neuzeitliche Thematik unter den Aspekt der "Verantwortung für das Leben" (195 ff.). Dann gewinnt der thematische Bereich "Leben" im Sinne eines sogenannten "Paradigmenwechsels" in und mit der Ehrfurcht das Hauptgewicht (245 ff.). Schließlich fokussiert die Frage nach der "Einheit des Lebens" alle Argumentationen auf das von Schweitzer initiierte unendliche Thema (303 ff.). Was Schweitzer auf den Schultern seiner Lehrer und Kollegen eigenständig angedacht und entwickelt hat, hat eine breite Entfaltung in der heutigen einschlägigen Diskussion bewirkt.

Zusammenfassend sieht der Vf. den gegenwärtigen Stand der Diskussion "Ehrfurcht vor dem Leben" zwischen zwei Grundmodellen angelangt: "Der Mensch als Mittelpunkt" (362) präjudiziert das Verstehen der aktuellen Problematik einerseits und andererseits bestimmt "der Eigenwert der Natur und des Lebens" die heutige Diskussion (363). Die Vermittlung beider Positionen, der physiozentrischen und der anthropozentrischen, verweist zwar in die gegenseitige Ermöglichungsbedingung: Die erste ist nicht ohne die zweite und umgekehrt (366). Wie die sich daraus ergebende Zuordnung von Mensch und Dasein aber auch immer geregelt sein mag, bestimmte Grundkategorien wie Leiden, Korrelation der Widersprüche etc. sind nicht aus der Diskussion auszuklammern. Sie bestimmen direkt oder indirekt die jeweils raum- und zeitgebundene Erfahrung, Reflexion und Aussage (372 ff.).

Auch wenn der Vf. theologisch konsequent die in der Wertfindung und kategorialen Verankerung des weiter prozedierenden Themas "die religiöse Dimension der Ehrfurcht (vor dem Leben)" bemüht (377 f.), bleibt über diesen gründlichen und weitblickenden Entwurf G.s hinaus der Ruf nach einer universalen interkulturellen und interreligiösen Hermeneutik, welche in der Zukunft nicht nur einen Religionsdialog ermöglicht, sondern fundamental Verstehen und Ausdrucksmöglichkeit weltweit schaffen kann. Denn auch und gerade noetische und hermeneutische Vorgänge unter den sich unterscheidenden Kulturen und Mentalitäten unterliegen als Realisationsmöglichkeit der Ehrfurcht vor dem Leben: Auch hermeneutische Prozesse gehören konstitutiv zu dem Leben, vor welchem Ehrfurcht zu pflegen Albert Schweitzer uns gelehrt hat (vgl. dazu: Klaus Otte, Erfahrungen im Haus der Begegnung in Kyoto. In: Dialog der Weltreligionen. Dritte Basler Albert Schweitzer Gespräche. Basel 1991, 54).