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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1356–1357

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Saarinen, Risto

Titel/Untertitel:

Weakness of Will in Renaissance and Reformation Thought.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2011. VIII, 248 S. Lw. £ 42,50. ISBN 978-0-19-960681-8.

Rezensent:

Markus Wriedt

Der Inhaber des Lehrstuhls für Ökumenische Theologie an der Universität Helsinki Risto Saarinen ist für sein großes Engagement für die finnische Lutherforschung in wörtlich zu nehmendem ökumenischen Horizont seit der Mitte der 1980er Jahre international hoch angesehen. Übersehen wurde bei der Rezeption seiner systematisch-theologischen Arbeit häufig, dass er auch ein ausgewiesener Kenner der Philosophie, insbesondere des Mittelalters und der frühen Neuzeit ist. Bereits 1994 legte er eine Studie zur Frage der Willensschwäche in der scholastischen Philosophie des Hochmittelalters vor. Jetzt folgen die Früchte langjähriger Studien zum gleichen Thema allerdings im Zeitraum der Renaissance und Re­formationszeit.
Trotz des großen zeitlichen Abstandes zum historischen Entstehungszeitraum der behandelten Traktate wohnt dem Thema eine große Aktualität inne. Nicht nur Historiker, sondern vielfältig am Diskurs zu Willensfreiheit, Neurodeterminismus und postmoderner Partikularisierung Interessierte und Beteiligte werden den Band mit großem Interesse zur Hand nehmen. Zahlreiche den heutigen Lesern kaum mehr bekannten Autoren bringen Argumente, die den letzten Zeitschriftenartikeln gegenwärtiger Provenienz entnommen zu sein scheinen. So etwa, wenn der Augustinische Voluntarismus mit Fragen des Intentionalismus aristotelischer Herkunft befragt wird oder wenn Gelehrte wie Albert der Große oder Johannes Buridanus zu spekulativen Synthesen im Sinne moderner Dialektik neigen.
Ausgehend von dem antiken Befund zum Wort- und Themenfeld der akrasia bei Platon und Aristoteles, in der Stoa, bei Paulus und Augustin geht S. der Aufnahme dieser Probleme zunächst bei den Vertretern der Hochscholastik nach – für die Aristoteliker nennt er Thomas von Aquin und Walter Burley, für die Volunta­risten Walter von Brügge und Heinrich von Ghent sowie als Vertreter einer pragmatischen Synthese Albert den Großen und Johannes Buridanus. In der Renaissance werden Petrarca als augusti­nischer Voluntarist, Donato Acciaioli als modifizierter Thomist, Johannes Versor und Virgilius Wellendorffer als Vertreter des deutschen und französischen Thomismus, Faber Stapulensis und Johannes Clichtovius als Humanisten, die dem Platonismus nahestehen, John Mair als repristinierter Buridanschüler und schließlich Francesco Piccolominis Verbindung der verschiedenen Traditionen erläutert. In zwei weiteren Kapiteln skizziert S. die Aufnahme des Erbes in der lutherischen Tradition – gemeint ist damit vor allem die Wittenberger Rezeption bei Luther – und notiert das befremdliche Ergebnis: ohne Befund bei Melanchthon, Camerarius, Golius und Heider. In calvinistischer Tradition wird das Akrasia-Motiv bei Calvin selbst, sodann bei Zwinger, van Giffen, Lamert Danaeus, Case und Keckermann umrissen. Das fünfte Kapitel fasst die Ergebnisse des diachronen begriffsgeschichtlichen Durchgangs zusammen und öffnet in zwei Epilogen den Blick ins 17. Jh., wenn einerseits Shakespeare und andererseits Descartes, Spinoza und Leibniz auf ihre Akrasia-Motive hin untersucht werden.
Das Werk entstammt einer inzwischen schon klassisch zu nennenden begriffsgeschichtlichen Tradition und verdankt sich in Größe und Grenze ebendiesem methodischen Ansatz. Wohl vermag S. in engem Rahmen und in zur knappen Kürze neigender Skizze die Begriffsverwendungen in einer stattlichen Zahl an Quellen aufzuspüren und zu notieren. In begrenztem Maße erlaubt ihm das semantische Bezüge und – ebenfalls nur in Ansätzen – eine Wortfeldanalyse. Freilich reißt er diese zur historischen Semantik ausweitenden Perspektiven sozial- und geistesgeschichtlicher Provenienz, der In- bzw. Exkulturation der Begriffsverwendung in den zeitgenössischen Diskursen und ihren Agenten nur an. Zweifellos deutet sich in Wandel und Beharrlichkeit hier ein interessanter Strom von der Antike bis (mindestens) in die Zeit der Frühaufklärung an, der als historisches Pendant der modernen Diskussion allemal wert ist, gelesen zu werden. Gern wüsste man allerdings mehr und erführe beispielsweise etwas über den »Sitz im Leben« dieser Diskurse, ihre Bedeutung innerhalb der philosophisch-theologischen Anwendung, etwa im Bereich der christlichen Ethik, und ihre Anweisungen zur Bewältigung alltäglicher Handlungshemmnisse.
Diese Fragen überfordern die vorgelegte Studie und tragen ge­wissermaßen fremde Perspektiven an S.s Überlegungen heran. Gleichwohl kann das auch als Anregung und Chance verstanden werden, die Texte nicht nur im Staunen über deren anachronistische Aktualität wahrzunehmen, sondern als Teil eines umfassenden Wirklichkeit interpretierenden und Handlungen stimulierenden Diskurses zu verstehen, der auf Persistenzen, Abbrüche und weitere Verbindungen im Laufe der Zeit verweist.