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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1347–1352

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Fricke, Michael, u. Matthias Heesch[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Humanist als Reformator. Über Leben, Werk und Wirkung Philipp Melanchthons.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 373 S. m. Abb. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-374-02887-0.

Rezensent:

Corinna Eckhardt/Markus Wriedt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Dingel, Irene, u. Armin Kohnle [Hrsg.]: Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 422 S. m. Abb. = Leucorea-Studien zur Ge­schichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 13. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02747-7.


Der von Michael Fricke und Matthias Heesch herausgegebene Sammelband »Der Humanist als Reformator« dokumentiert die Beiträge einer interdisziplinären Ringvorlesung, gehalten im Wintersemester 2010/11 an der Universität Regensburg. Die einzelnen Vorträge erfassen Werk und Wirkung Melanchthons als Zeitgenosse des Humanismus im Kontext von Theologie, Philosophie sowie der Wissenschafts- und Kunstgeschichte. Immer wieder werden Bezüge zu Regensburg und Bayern hergestellt. Der Band schließt mit einer Einschätzung zu Melanchthons Einfluss auf die interkonfessionelle Ökumene.
Rudolf Keller gibt mit »Melanchthon – Leben, Werk, Bedeutung« eine grundlegende Einführung zur historischen Person. Er reißt dabei die wichtigsten Stationen in Melanchthons Leben, seinen Werdegang, das Verhältnis zu Luther, Wittenberg als Schaffensstätte, den Professor aus Wittenberg als Vermittler unterschiedlicher Positionen, kurz an und schafft über den Reichstag in Regensburg eine Verknüpfung zur Ringvorlesung. Der Beitrag fasst die Forschung zusammen, bietet aber mit seiner Ausrichtung auf die territorialgeschichtliche Wirkung der Wittenberger Reformation durchaus Anregungen zu weiterer Forschung. Ihm folgen einige Vorlesungen, in denen vor allem Melanchthons Beziehungen zu zeitgenössischen Repräsentanten der religiösen Kultur Bayerns und des Alten Reichs bis an die Grenzen der deutschen Sprache thematisiert werden.
Gunther Wenz behandelt in seinem Beitrag »Melanchthon und die Confessio Augustana« die Überarbeitungen der CA und die damit verbundenen reichsrechtlichen Perspektiven vom Augsburger Reichstag 1530 bis hin zum Augsburger Religionsfrieden 1555 und geht abschließend auf den Funktionswandel der CA im 16. bis 20. Jh. ein. Dieser Beitrag wiederholt und ergänzt weitestgehend die ausführliche historische Darstellung in seiner Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften (Berlin 1996) und fokussiert diese im Blick auf die Wirkungsgeschichte der CA. Albrecht P. Luttenberger untersucht in »Philipp Melanchthon« dessen Wirken im Hinblick auf seine humanistische Intellektualität und seine konfessionelle Profilierung. Dabei überprüft er die doppelte Profilierung an religionspolitischen Aktivitäten Melanchthons, die handlungspraktische Relevanz beider Orientierungen beinhalten. Dies ge­schieht sowohl in der Verteidigung der CA als auch in seiner Mitwirkung an der Reunionspolitik des Kaisers 1540/41. Der nachhaltig kontraproduktive Dualismus von Reformation und Humanismus, der von der neueren Me­lanchthonforschung gegen das Werk von Wilhelm Maurer zu überwinden versucht wird, feiert hier fröhliche Urständ. Der Vf. vergibt die Chance, die humanistische Technik in ihrer konfessionellen Adaption und Assimilation zu beschreiben und so den Humanismus nicht als vermeintlich überkonfessionelle Klammer konfessioneller Gegensätze zu beschreiben. Der englischsprachige Beitrag »Calvin in Regensburg« von Alasdair Heron erläutert das Zusam­mentreffen Melanchthons und Calvins anlässlich der Religionsgespräche in Frankfurt 1539, Hagenau 1540 und Regensburg 1541. Anhand von Briefen Calvins an seinen Vertrauten Guillaume Farel in Neuchâtel rekonstruiert er den Verlauf der Gespräche, inhaltliche Übereinstimmungen und persönliche Sympathien der Reformatoren untereinander und beleuchtet dadurch das religionspolitische Geschehen. Der Beitrag beschränkt sich auf die Übersetzung von einschlägigen Briefabschnitten und auf ein paar, teilweise regestenartige Verbindungstexte. Der genderspezifische Beitrag von Andrea König, »Me­-lanch­thon und die Frauen«, erfasst das Verhältnis Melanchthons zu den wichtigsten Frauen in seinem Umfeld. König beginnt chronologisch mit seiner Mutter Barbara Reuter, einer liebevollen und frommen Frau, die auch als tüchtige Hausfrau dargestellt wird. Es folgt die Beziehung zu Ehefrau Katharina Krapp – von den anfänglichen Schwierigkeiten der Ehe über ihre freigiebige und gütige Art bis hin zum liebevollen und durch gegenseitigen Respekt gekennzeichneten Miteinander. Anschließend wird das innige Verhältnis zu seiner für die damalige Zeit sehr gebildeten Tochter Anna beschrieben, wobei auch Melanchthons Leid über deren unglückliche Ehe mit Georg Sabinus und ihr früher Tod thematisiert werden. Zum Schluss stellt König noch die Beziehung zur Nonne Caritas Pirckheimer und zu Luthers Ehefrau Katharina von Bora dar. So wichtig dieser Beitrag in seiner Zusammenstellung ist, so sehr fehlt eine gendertheologische, kirchenhistorisch zugespitzte These, die den überfälligen Diskurs zum Thema hätte initiieren können.
Die folgenden Beiträge sind systematischen Fragestellungen gewidmet. Hans Schwarz untersucht in seiner Vorlesung »Melanchthon als Dogmatiker« die Theologie des Reformators und deren Auswirkungen auf die innerlutherischen Streitigkeiten bis zur Konkordienformel. Rolf Schönberger thematisiert das reformatorische Grundthema der Freiheit »… am Scheideweg« aufgrund eines Vergleichs der jeweils unterschiedlichen Begriffsfüllungen bei Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Dabei ist – zumindest für den Historiker – ein Problem in der behaupteten systematischen Kohärenz gegeben, da durch die stark begriffs- und ideengeschichtlichen Zugangsweisen historische Kontexte und detailliert nachzuvollziehende Entwicklungen im Verständnis von Freiheit nivelliert werden. Kunsthistorisch erläutert Hans-Christoph Dittscheid mit seinem Beitrag »An den Grenzen des Porträts« die Bildnisse von Lucas Cranach d. Ä. und Albrecht Dürers von Luther und Melanchthon im Wandel der Zeit. Er gelangt darin an die Grenzen der künstlerischen Darstellung, insofern es den Künstlern zwar gelingt, das historische Bildnis der Person wiederzugeben, aber nicht die geistige Wirkmacht von ihnen zu repräsentieren. Zu diesem Ergebnis kommt der Autor aufgrund der kunsttheore­tischen Anwendung der ästhetischen Theorie der Rhetorik Melanchthons, die dieser wiederum recht einflussreich in seine Beziehungen zu den zeitgenös­sischen Künstlern eingebracht hat.
Der Beitrag zur Naturphilosophie »Certa Deus toti impressit vestigia mundo« stammt von Christoph Meinel (im Kolumnentitel leider als Hans-Chris­toph Dittscheid wiedergegeben) und stellt die Naturphilosophie und die mathematischen Wissenschaften im 16. Jh. sowie ihre theoretische und didaktische Aneignung durch Melanchthon dar.
Zwei weitere Beiträge befassen sich mit der Pädagogik Melanchthons. »Die Heiligkeit des Lehrens und Lernens« von Michael Fricke erfasst die Bedeutung des Lehrens und Lernens für Melanchthon, der im schulischen Leben das höchste Lob und im Wesen des Lernens das goldene Zeitalter sieht. Daraus ergibt sich die Begründung jeglichen Lernens aus der Erziehung zur Mündigkeit, die eine Voraussetzung für das Wohlergehen eines Landes sei und dem Vaterland zum Schutz diene. Fricke untersucht Melanchthons pädagogische Werke, sein Menschenbild und Melanchthons Relevanz als Vorläufer der Bildungsgesellschaft. Diese Vorlesung stellt etliche, im Einzelnen noch zu überprüfende Kontinuitätsbehauptungen auf. Dass diese nicht mit dem Argument anachronistischer Fehlinterpretation von Historikern übergangen werden, bedarf allerdings einer weit ausführlicheren Würdigung, als das im Rahmen einer Vorlesungsstunde möglich ist. Matthias Heesch vergleicht in »Der Lehrer Deutschlands und die Philosophie des Lebens« Wilhelm Dilthey, als Theoretiker der Geschichtlichkeit des Lebens, und Philipp Melanchthon, als Vertreter einer geschichtsbezogenen Metaphysik. Ziel dieser reizvollen philosophiegeschichtlichen und in hohem Maße systematischen Untersuchung ist es, die für Dilthey wesentlichen Grundgedanken bei Melanchthon zu benennen und auf Gemeinsamkeiten hin zu prüfen. Sowohl Dilthey als auch Melanchthon sehen die wesentlichen Merkmale einer Wissenschaft in Geschichtlichkeit, Ideenbildung und dem praktischen Lebensbezug. Heesch geht auf die jeweiligen Punkte bei beiden ein und vergleicht sie miteinander.
Die beiden abschließenden Aufsätze widmen sich der Ökumene. Alfons Knoll arbeitet in seinem Beitrag »Melanchthon aus römisch-katholischer Sicht« die sich wandelnde Betrachtung Melanchthons im Laufe der Zeit heraus. Und Werner Thiede beleuchtet (»Im Aufblick zur himmlischen Kirche«) Melanchthons ökumenischen Einsatz aus evangelischer Sicht.
Insgesamt gesehen ist der Sammelband ein dem Jubiläum von 2010 geschuldetes Werk, das Melanchthon facettenreich in interdisziplinärer Perspektive darstellt. Die einzelnen Beiträge sind freilich nicht überall auf dem neuesten Stand der Forschung und bieten in höchst unterschiedlicher Weise Einblicke in das Wirken Melanchthons, eröffnen aber auch Perspektiven künftiger Beschäftigung mit dem Werk des Praeceptor Germaniae. Sie eignen sich für ein breiteres akademisches Publikum.
Die Frühjahrstagung zur Wittenberger Reformation ist eine inzwischen fest verankerte Einrichtung der theologischen Reformationsgeschichtsforschung (seit dem Tod von Günter Wartenberg unter der Federführung von Irene Dingel, Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, und Armin Kohnle, Reformationshistoriker in Leipzig). Auf ihrer IX. Tagung im Jahre 2010 widmete sie sich ebenfalls der Wiederkehr des 450. Todestages von Philipp Melanchthon. Die in diesem Zusammenhang vorgetragenen Beiträge werden in einem stattlichen Band der Leucorea-Studien, gegliedert in drei Abteilungen, der Öffentlichkeit präsentiert.
Die erste Abteilung ist überschrieben mit »Melanchthon als Freund – Vermittler – Gegner« und bietet insgesamt sieben Aufsätze zum sozialen Umfeld des Wittenberger Reformators. Irene Dingel befasst sich mit den zahlreichen freundschaftlichen Beziehungen Melanchthons, die sie unter dem Aspekt des sich ständig wandelnden Begriffes von Freundschaft betrachtet, und benennt die sich dramatisch verändernde Beziehung Melanchthons zu Johannes Agricola im Jahre 1527 sowie zu Matthias Flacius. Aus Schülern und geförderten Mitstreitern wurden entschiedene Gegner der Theologie und Politik Melanchthons. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn schon vor dem Tod des Praeceptor Germaniae dessen Freunde und Schüler seinen Ruf zu schützen und auch nach seinem Ableben in ehrenden Biographien der Nachwelt das »rich-tige« Bild einer der Leitfiguren der Wittenberger Reformation zu zeichnen versuchten. Der Beitrag verbindet neuere Forschung mit einem Blick auf die Biographie Melanchthons anhand seiner Fremdbeziehungen. Viel Bekanntes erscheint so in einem neuen Licht.
Der nächste Beitrag von Christine Weide untersucht den Briefwechsel zwischen Georg Spalatin und Philipp Melanchthon in den Jahren 1518 bis 1525. Die Autorin konzentriert sich damit auf die einflussreiche Zeit des fränkischen Hofrates und späteren Pfarrers von Altenburg und seine Bedeutung für die wichtigen Anfangsjahre der Reformation unter der Regierung von Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, genannt der Weise. Trotz der häufig räumlich geringen Distanz sind 93 Briefe erhalten, wohl aber dennoch weitere 61 verloren gegangen. Die Briefe enthalten nur wenige Elemente des persönlichen Austausches oder Hinweise auf konkrete theologische Themen. Melanchthon sieht in Spalatin vielmehr einen Ansprechpartner am kurfürstlichen Hof und einen Vorgesetzten.
Melanchthons Rolle als Diplomat der Reformation untersucht Armin Kohnle anhand der Bündnisverhandlungen mit Frankreich und England 1534 bis 1536. Melanchthon fungierte hierbei als politischer Ratgeber, der grundsätzlich allerdings kein Politiker war. Es wird deutlich, wie für die Monarchen die theologischen Verhandlungen lediglich instrumentelle Bedeutung hatten, während für die Theologen die bekenntnismäßige Übereinstimmung als Basis für ein Bündnis galt. Insofern nimmt es nicht wunder, dass die theologischen Verhandlungen faktisch von politischen Interessen dominiert wurden.
Christine Mundhenk, Leiterin der Melanchthonforschungsstelle in Heidelberg und Mitherausgeberin der Briefedition, widmet sich Melanchthons Briefen vom Regensburger Reichstag 1541. Angesichts der politischen Lage im Reich, die durch den Einigungswillen des Kaisers wegen der drohenden Expansion des osmanischen Großreiches geprägt war, wird die höchst komplizierte Verhandlungsposition Kursachsens deutlich. Durch die theologische wie politische Billigung des Fehlverhalten Philipps von Hessen geschwächt, wurde Melanchthon mit detaillierten Instruktionen zur Verhandlung am Rande des Reichstages entsandt. Über diese heikle Mission berichtete er u. a. in Briefen an Luther, Camerarius und Bucer, in denen er in drastischen Bildern über den Reichstag sprach.
Des Weiteren erläutert Luka Ilic die Beziehung Melanchthons zu den südost-europäischen Regionen anhand seines Briefwechsels mit dem Kroaten Matthias Garbitius und dessen Landsmann Matthias Flacius, genannt Illyricus. Chris-tian Peters rekonstruiert aufgrund der Gedächtnisrede Jakob Heerbrands (1521–1600) auf Philipp Melanchthon ein Bild des sogenannten Philippismus. Ulrike Ludwig, Historikerin aus Leipzig, erläutert die verschiedenen Ausgestaltungen, die das Bild Melanchthons in Kursachsen in den Jahren 1576 bis 1580, mithin der konsensorientierten Phase der Einigung der lutherischen Parteien nach der ersten Vertreibung der sogenannten Krypto-Calvinisten, erfahren hat.
Die letzten beiden Aufsätze gehen schon über die historische Rekonstruktion des sozialen Umfeldes von Melanchthon hinaus und beschäftigen sich mit der Ausdifferenzierung seines Andenkens. Die damit verbundene rezeptionsgeschichtliche Analyse steht im Mittelpunkt der elf Beiträge zur Bedeutung Melanchthons als Lehrer Deutschlands und Europas, die die zweite Abteilung des Bandes bilden.
Matthias Dall’Asta untersucht im Anschluss an Claudia Brosseders Arbeit über die Astronomie und Naturwissenschaft in Wittenberg die Ausdrucksverwendung der Zirkel oder Kreise, die sich auf Melanchthon beriefen. Dall’Asta zufolge handele es sich bei der Bezeichnung Zirkel schlicht um einen Übersetzungsfehler, der zur Konstruktion eines Wissenschaftsmythos geführt habe.
Ähnlich wie im Falle der Naturwissenschaften knüpften sich an Melanchthon und seine Schriften auch Rezeptionsstränge im Bereich der Theologie. Knotenpunkt dieser Melanchthon-Rezeption sind seine 1521 erstmalig veröffentlichten Loci communes. Zwei Beiträge widmen sich zunächst der Verbreitung dieses program­matischen Textes: Ulrich Köpf, langjähriger Inhaber des Lehrstuhls für Spätmittelalter und Reformation in Tübingen, erfasst die Be­deutung der Loci communes im Hinblick auf die wachsende Ausdifferenzierung der Theologie in ihre verschiedenen Disziplinen. Er beschreibt dazu die Entstehung der Loci und vergleicht ihre verschiedenen Fassungen von 1521, 1535 sowie 1559 miteinander und deutet die lebenslangen Überarbeitung Melanchthons durch die Einbeziehung des gesamten Bibeltextes als Entwicklung von einem Leitfaden zum Studium hin zur ersten evangelischen Dogmatik.
Der verstorbene Leipziger Doyen der Lutherforschung Helmar Junghans rekonstruiert die Loci communes als Lehrbuch. Neben den Vorlesungen zur Ausgabe Melanchthons, die von verschiedenen Schülern gehalten wurden, vergleicht er die Statuten unterschiedlicher Universitäten und sucht nach der verpflichtenden Lektüre des ersten protestantischen Lehrbuches.
Eine Adaption der melanchthonischen Lehrweise findet Alexander Bartmuß in den Loci von Johannes Manlius, bei denen es sich eher um ein historisches Werk handele, das aber trotz tatsächlich vorhandener Mängel eine wertvolle Quelle für die Entwicklungen des Bildes von Melanchthon darstelle. Stefan Michel aus Jena erörtert die Bedeutung von Melanchthons Sonntagsvorlesungen, die er zwischen 1522 und 1560 hielt. Die Rezeption Melanchthons im Blick auf die Entstehung des protestantischen Kirchenwesens im Nordosten des Reiches analysiert Volker Gummelt mit einem Vergleich zwischen Mecklenburg und Pommern. Der Beitrag von Hans-Peter Hasse zur Zensur theologischer Bücher greift auf die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift von 2000 zurück und verdeutlich anhand von einigen Beispielen, wie Melanchthon auf die Zensur theologischer Schriften eingewirkt hat. Herman J. Selderhuis untersucht Melanchthons Einfluss auf das Kirchenrecht. Hartmut Kühne befasst sich gleichsam in hagiographiekritischer Absicht mit Äußerungen über den Wunderbrunnen von Pyrmont im Briefwechsel Melanchthons. Günter Frank, langjähriger Kustos des Melanchthonhauses in Bretten, beschreibt die konfessionsspezifischen Profile der Loci anhand der Wittenberger Loci von Melanchthon, der Loci von Wolfgang Musculus und Pietri Vermigli auf Seiten der Reformierten und die Fassungen von Johannes Eck und Melchior Cano auf der römischen Seite. Johannes Hund geht der vieldiskutierten Frage nach, inwiefern Melanchthonschüler mit dem Calvinismus sympathisiert haben.
Die dritte Abteilung des Sammelbandes befasst sich mit Melanchthons Bedeutung als Vertreter der Wittenberger Reformation. Marion Bechtold eröffnet die Zusammenstellung von insgesamt sieben Beiträgen mit einer Analyse des Verhältnisses von Humanismus und Reformation, die als unabhängige geistige Bewegungen in der Person Melanchthons zusammenfallen. Diese – freilich durchaus diskussionswürdige – theoretische Voraussetzung wird im Blick auf über 2500 Empfehlungsschreiben des Wittenberger Reformators überprüft. Neben einer geographischen Differenzierung zeichnet Bechtold interessante Konturen humanistischer Netzwerke in Europa. Johannes Wischmeyer fügt diesem Bild Überlegungen zum Wissenstransfer zwischen Melanchthon und dem Königreich England hinzu.
Hans-Otto Schneider rekonstruiert in seinem Beitrag zur Rezeption der Gutachten Melanchthons zum Interim vom 16. Juni 1548 die Gründe für deren schnelle Verbreitung in englischer Sprache. Otfried Czaika skizziert die Melanchthonrezeption im Schwedischen Reich während des 16. Jh.s und konturiert, inwiefern die dünnbesiedelten Flächenländer im europäischen Nordosten zentrale Kulturmuster repräsentieren. Gleichsam der Windrose im Uhrzeigersinn folgend erläutert Kestutis Daugirdas die Nachwirkungen Me-lanchthons im polnischen-litauischen Gemeinwesen. Markus Hein fährt mit einer Skizze von Melanchthons Bedeutung für die Reformation in Ungarn fort und verdeutlicht die engen Verflechtungen zwischen der Confessio Pentapoli­tana und der Confessio Augustana. Und Lothar Vogel zeigt Nachwirkungen der Reformation in Italien auf. Der langjährige Bearbeiter und Herausgeber des Melanchthon-Briefwechsels Heinz Scheible fasst, nicht zuletzt aufgrund persönlicher Bekanntschaft mit zahlreichen Gelehrten, 50 Jahre Melanchthonforschung zusammen und gibt einen brillanten Überblick zur Forschung der Nachkriegszeit.
In dem mit über 400 Seiten recht stattlichen Band finden sich neben einem guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung zahlreiche Hinweise auf noch laufende und verheißungsvolle Vorhaben. Fokussiert auf das Wirken und die Rezeption Melanchthons erweist sich der Band als anschlussfähig an die ge­genwärtig meinungsleitenden historiographischen Trends, auch wenn manche Forschungshypothesen als überholt gelten und revidiert werden müssen. Das soll jedoch die Leselust nicht einschränken. Vielmehr ist der Sammlung eine intensive Lektüre und Diskussion zu wünschen.