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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1341–1343

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pollmann, Ines

Titel/Untertitel:

Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 261 S. m. Abb. u. Tab. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 98. Geb. EUR 74,99. ISBN 978-3-525-59357-8.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die Dissertation von Ines Pollmann (Heidelberg 2011 bei Gerd Theißen) geht aus von der These, mit der »New Perspective on Paul« sei eine »Abmilderung der Gesetzeskritik des Paulus« verbunden (Einleitung 13–23: 13). Demgegenüber sollen in der vorliegenden Arbeit »die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus, auch sofern sie sich nicht auf die Kritik am Legalismus (Werkgerechtigkeit) be­schränken, als kritische Aussagen ernst genommen werden. Die Gesetzeskritik des Paulus soll als wirkliche Kritik verstanden und historisch plausibel gemacht werden« (15). Zu diesem Zweck werden jüdische Quellen aus hellenistisch-römischer Zeit untersucht, »in denen das Gesetz mit einem (oder mehreren) der paulinischen Gesetzeskritik vergleichbaren Motiv(en) kritisiert wird« (20). Zwei Drittel der Arbeit behandeln frühjüdische Texte (Kapitel 2–5), das letzte Drittel Paulustexte (Kapitel 7–10). Zwischengeschaltet sind zwei Seiten zum »Bewusstwerden des Gesetzeskonflikts des Paulus aufgrund von Damaskus« (Kapitel 6, 181 f.). Am Ende stehen sieben Seiten Auswertung und Zusammenfassung.
Als »Hauptquellen« für gesetzeskritische Stimmen im Frühjudentum werden, einer Auswahl Theißens folgend, in je einem Kapitel Josephus, Ant IV 141–155, 4Esra 8,20–36 sowie Philon, Migr 89–93 und Jos 28–31 herangezogen. Weitere frühjüdische und griechisch-römische popularphilosophische Texte, die zeigen sollen, dass und wie gesetzeskritische Motive im Frühjudentum vor und neben Paulus Resonanz finden konnten, werden ihnen als »Analogien« an die Seite gestellt (Stellenregister: 253–260).
An der Simri-Episode in den Antiquitates des Josephus (Ant IV 141–155, vgl. Num 25), auf die als »Analogie« zu innerjüdischen Konflikten in Jerusalem vor Ausbruch der Makkabäerkämpfe im frühen 2. Jh. v. Chr. verwiesen wird, soll auf diese Weise herausgearbeitet werden, dass Josephus einer Kritik am tyrannischen Gesetz literarisch Stimme verleihe, die mit Argumenten aus der griechischen Sophistik agiere. Josephus habe »den Aufstand des Simri gegen das Gesetz in den philosophischen Diskurs über die Repressivität des Gesetzes hinein(ge)stellt« (65). Der Gedanke der Unerfüllbarkeit des Gesetzes soll an der vierten Esra-Apokalypse illus­triert werden, die von »Sündenpessimismus« bestimmt sei. Hier spreche sich ein skeptischer Apokalyptiker aus, dessen Gesetzes­kritik am Ende »theologisch richtig« zurückgewiesen werde, ob­wohl ihr zuvor reichlich Raum eingeräumt worden war. Als »Analogien« hierzu werden die »Niedrigkeitsdoxologien« der Hodajot aus Qumran benannt, aus der griechisch-römischen Literatur der Topos »keiner ist perfekt« bei Horaz und Plutarch. Aus dem viel diskutierten Abschnitt Philons zu den »radikalen Allegoristen«, die allein die allegorische Torainterpretation gelten lassen (Migr 89–93), wird auf eine Position zur bzw. Praxis des Umgangs mit der Tora in Alexandrien geschlossen, der Philon zwar mit Sympathie gegenüberstehe, deren Konsequenz er aber letztlich ablehne. Analogien zur Position der Allegoristen findet die Vfn. in alexandrinisch-jüdischen Quellen, in Mk 7,15 und in der Darstellung Johannes des Täufers bei Josephus sowie in der Gemeinderegel von Qumran, auf paganer Seite auch bei der Verinnerlichung ritueller Vorschriften, angefangen bei den Vorsokratikern über Cicero bis zu den Sentenzen des Sextus (2. Jh. n. Chr.).
Schließlich wird noch ein weiterer Philon-Text untersucht, in dem das Verhältnis von Naturgesetzen und Staatsgesetzen diskutiert wird (Jos 28–31). Philon vertritt hier mit der philosophischen Tradition der griechischen Antike den Vorrang des Naturgesetzes vor den Staatsgesetzen, freilich mit der Pointe, dass die Tora kein Staatsgesetz, vielmehr mit dem Naturgesetz identisch sei. Nach der Vfn. antizipiert Philon damit mögliche Kritik am jüdischen Gesetz und tritt ihr mit der Überwindung der Antithese von Natur und Gesetz sowie durch Rückbindung der Tora an die »ungeschriebenen Gesetze« entgegen. Auch hier wird ein weites Feld von »Analogien« im Frühjudentum, in der griechisch-römischen Antike und im Neuen Testament eröffnet, woraus sich ergibt, dass Philon mit dem Gegensatz von φύσις und θέσις »verbreiteten antiken Überzeugungen« entspricht (179).
Die Untersuchung ausgewählter Paulustexte in den Kapiteln 7 bis 10 ist äußerst skizzenhaft. Die Auswahl und Anordnung der behandelten Stellen (meist nur einzelne Verse) folgt den Gesichtspunkten, die schon in den vorangehenden Kapiteln zu den frühjüdischen Texten leitend waren (so auch die Überschriften: »Das tyrannische Gesetz« [zu Gal 3,24; 2Kor 3,13; Röm 7,11]; »Das unerfüllbare Gesetz« [Röm 3,10–18; 7,14–25]; »Das ritualistische Gesetz« [1Kor 7,19; Röm 2,25–29; 4,9–12; Phil 3,3]; »Das sekundäre Gesetz« [Gal 3,19; Röm 5,20]). Zusammenhängende Exegesen der paulinischen Argumentationsgänge werden an keiner Stelle geboten. Bisweilen werden die Stellen nur nach deutschen Bibelübersetzungen zitiert und pauschal charakterisiert. Kriterium für die Auswahl und Interpretation der Paulustexte ist nicht ihr Ort und ihre Funktion innerhalb der Briefe, sondern ihre Passfähigkeit für den Vergleich mit einer zuvor aus den frühjüdischen Belegen konstruierten gesetzeskritischen Strömung. Die Berücksichtigung der Sekundärliteratur ist äußerst selektiv. Leitend für die Interpretation der paulinischen Aussagen zum Gesetz ist die psychologische Deutung, die Gerd Theißen dezidiert gegen die jüngere Paulusforschung ins Feld geführt hatte (Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983). Dass damit die aktuelle Diskussion kaum zureichend repräsentiert ist, wird allen, die sich daran in jüngerer Zeit beteiligt haben, deutlich sein.
So klar die These der Dissertation formuliert und mit Hilfe der herangezogenen frühjüdischen und paulinischen Texte belegt wird, so problematisch erscheint sie, wenn man sich von den mit ihr gesetzten Prämissen löst und die Quellen zunächst einmal (jeweils als ganze!) für sich sprechen lässt. Weder die frühjüdischen Texte noch die paulinischen Briefe kennen eine Kategorie »Gesetzeskritik«, wie sie die Vfn. ständig benutzt, ohne sie je zu definieren, zu diskutieren oder gar zu problematisieren. Ständig redet sie von »dem Judentum«, »dem Gesetz« und »der Gesetzeskritik« bei Paulus und fällt damit weit hinter die inzwischen erreichten, un­hintergehbaren Differenzierungen in der Paulusforschung wie in der Forschung zum antiken Judentum zurück. Hier werden ganz verschiedene frühjüdische Quellen mit ihren je eigenen Intentionen und historischen Kontexten in einer Weise über den Kamm paulinischer Theologie geschoren, die angesichts der Forschungen der letzten drei Jahrzehnte merkwürdig berührt.
Methodisch basiert die These der Vfn. darauf, aus Kritik an Geboten der Tora, die in den Quellen von literarischen Personen, Gruppen und Positionen geäußert wird, auf historische Personen, Gruppen oder Positionen zu schließen, die zu einer gesetzeskritischen Strömung im Frühjudentum zusammengeführt werden, welche wiederum die gesetzeskritischen Aussagen des Paulus plausibel werden lassen soll (krass in der Zusammenfassung, 239: »Die vier Motive [sc. das tyrannische, unerfüllbare, ritualistische, sekundäre Gesetz] können in breitere Mentalitätsströme im Judentum eingebettet und damit als repräsentativ und resonanzfähig erwiesen werden.«). Das ist ein klassischer Fall von ›mirror reading‹, von dem sich die jüngere Paulusforschung zu Recht verabschiedet hat. Im Blick auf das Frühjudentum spricht allein schon das äußerst breite chronologische und geographische Spektrum, aus dem die Quellen stammen, gegen eine solche Vorgehensweise.
In den Kapiteln zu den frühjüdischen Texten finden sich in der vorgelegten Arbeit im Einzelnen durchaus weiterführende Beobachtungen und anregende Interpretationen, insbesondere bei Berücksichtigung der herangezogenen Vergleichstexte aus der hellenistisch-römischen Literatur. Für die Paulus-Exegese kann nach dem Urteil des Rezensenten daraus aber nur sehr begrenzt Nutzen gezogen werden, und die Gesamtdeutung sowohl der frühjüdischen Zeugnisse als auch der paulinischen Aussagen erscheint in methodischer Hinsicht und mit Blick auf die theologischen Konsequenzen problematisch.