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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

553–556

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, u. Werner Krämer [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt: Der Konsultationsprozeß und das Sozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.

Verlag:

Münster: LIT 1997. 301 S. 8 = Studien zur christlichen Gesellschaftsethik 1. Kart. DM 29,80. ISBN 3-8258-3941-3.

Rezensent:

Martin Honecker

Die Veröffentlichung des Sozial- und Wirtschaftswortes der Kirchen "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" im Frühjahr 1997 hat eine Reihe von Kommentierungen und Erörterungen ausgelöst und nach sich gezogen. So haben Marianne Heimbach-Steins und Andreas Lienkamp einen expliziten Kommentar von 285 Seiten insgesamt publiziert ("Für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität", München 1997). Friedhelm Hengsbach-Bernhard Edmunds-Matthias Möhring-Hesse interpretieren das Wort als Dokument eines kirchlichen und politischen Aufbruchs "Reformen fallen nicht vom Himmel. Was kommt nach dem Sozialwort?" Freiburg, 1997. Auch der hier anzuzeigende Sammelband gehört zu diesem Genus der Auslegung und Fortschreibung des Sozial- und Wirtschaftswortes.

Alle drei Sammelbände haben zum Hintergrund jeweils bestimmte Auffassungen von katholischer Soziallehre. Offensichtlich hat es katholische Soziallehre aufgrund ihres Verständnisses von Autorität, Tradition und Lehramt nicht schwer, das Kirchenwort aufzugreifen und für ihr je eigenes Anliegen zu beanspruchen. Sammelbände enthalten freilich Beiträge von unterschiedlichem Niveau, Gewicht und Argumentationsstil. Das gilt auch für die unter der Überschrift "Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt" zusammengestellten 16 Aufsätze. Einig sind sich die Autoren in der Kritik des neoliberalen Marktradikalismus, in der Forderung nach einem sozialen Ausgleich, in der Anknüpfung an die Tradition der katholischen Arbeitnehmerbewegung, also an die Konzeptionen eines sozialen Katholizismus. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die Diskussion der Bedeutung der Erwerbsarbeit angesichts der Massenarbeitslosigkeit und der Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Im Vorwort wird als Grundthese festgestellt, "daß die Verantwortlichen des Kirchenworts die Frage nach der Verfügungsmacht, wer Güter und Dienstleistungen mit welchem Interesse plant, wer sie erarbeitet und wer über sie verfügt, nicht differenziert stellen und daß sie die etablierte Verteilungsstruktur des von vielen erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums nicht in Frage stellen wollen" (9). Dieser Fragestellung folgen die einzelnen Beiträge:

Michael Schäfers, "Der Konsultationsprozeß und das Sozialwort der Kirche" (11-24) zeichnet den Entstehungsprozeß des Wortes nach und fragt, ob und was die "Sozialbewegung von unten" erreicht hat. Der endgültige Text hätte noch stärker "ein ,prophetisches Wort’ mit einer deutlichen Option" werden können (22). Mechthild Hartmann und Hildegard Wustmans äußern sich kritisch zum Konsultationsprozeß aus der Perspektive von Frauen: "Ohne Frauen ist kein Staat zu machen und kein Sozialwort" (25-34). Der Leiter der Arbeiter- und Betriebsseelsorge der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Paul Schobel, stellt fest: "Der prophetische Anlauf ist steckengeblieben": "Parteinahme für die Armen oder gesellschaftlicher Konsens" (35-44)? Bernhard Emunds "Auf der Suche nach einem ethischen Schlüssel für das Sozialwort" (45-68) findet im Kapitel 4, im Bemühen um den "Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft", den "Kern, das Herzstück" des Sozialwortes, und kritisiert von daher das Leitmotiv der Barmherzigkeit im Kapitel 3 als ungeeignet (58 f.) für eine säkulare Ethik wie für die Reform von Strukturen. Werner Krämer fordert ein "Menschenrecht auf Arbeit" (69-92) und betont im Untertitel: "Ohne Revision von Gewinnorientierung und Verfügungsmacht kein Abbau von Arbeitslosigkeit". Er hält die Analyse der Verwerfungen im Arbeitssystem, wie sie das Sozialwort vornimmt, für unzulänglich. Norbert Zöller, "Bündnis für Arbeit" (93-108), fordert von Seiten der Kirche genauso wie Wolfgang Schröder "Kirchen und Gewerkschaften. Zivilisatorische Säulen des deutschen Rechts- und Sozialstaates" (203-213) für die Gewerkschaft ein Bündnis zwischen Kirche und Gewerkschaften mit dem Ziel einer "deutlichen Absage an marktradikale Lösungen des Arbeitsproblems" (97).

Andreas Lienkamp/Christoph Lienkamp "Die Option für die Armen und die internationale Verantwortung" (109-131) behandeln das Thema der Globalisierung unter dem Stichwort "Gerechtigkeit weltweit". Rolf Siedler "Den ökologischen Strukturwandel voranbringen" (132-140) vermerkt zwar den Fortschritt in der Behandlung der ökologischen Thematik von der Diskussionsgrundlage zum Sozialwort, zeigt aber Widersprüche im Detail auf. Hans Ludwig "Wirtschaft aber ist mehr- auch als öko-soziale Marktwirtschaft" (141-158) erörtert prinzipiell das Verständnis von Wirtschaft, anhand der Bewertung von Gütern und betont die soziale Dimension des Wirtschaftens. Karl Gabriel "Systeme und Netze der Solidarität in einer zukunftsfähigen Gesellschaft" (159-173) untersucht analytisch den Begriff Solidarität; Gabriel äußert sich weniger programmatisch und wertend als die anderen Autoren und kommt so zu einer recht differenzierten Sicht von Solidarität im Prozeß der Modernisierung und Individualisierung. Ein "plurales Solidaritätsverständnis", die Distanzierung von "Zwangssolidaritäten" (165) und ein vernetzter Wohlfahrtpluralismus enthalten Einwände und Widerlegungen gegenüber der oft erhobenen und verbreiteten Klage über "Entsolidarisierung". Matthias Möhring-Hesse fordert "sozialpolitische Reformen nach dem Sozialwort": "Gegen den Trend: ein starker Sozialstaat" (174-202). Er wendet sich nachdrücklich gegen neoliberale Sozialstaatskritik wie gegen marktradikale Modernisierung der deutschen Sozialpolitik und fordert eine globale "good governance" (201).

Bernhard Eder "Die Wahrnehmung von Einwanderern im Bereich der Kirchen" (214-232) legt angesichts eines Oszillierens zwischen "Fremden" und "Migranten" im Sozialwort "bibeltheologisch-sozialethische Anmerkungen" zum Fremdheitsdiskurs vor; er fordert einen Perspektivenwechsel von der Betrachtung der Migranten als Objekte von Schutz und Fürsorge zur Anerkennung als Personen und eigenständige gesellschaftliche Subjekte (227). Gerhard Kruip "Die Chancen der Jugend und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft" (232-242) arbeitet zu Recht das Defizit an jugendbezogenen Aussagen im Sozialwort heraus; es findet sich keine "Option für die Jugend" in ihm. Friedhelm Hengsbach fragt: "Haben die Kirchen dazugelernt?" (243-274) und vergleicht zur Beantwortung seiner Frage die verschiedenen Textentwürfe. Unklar bleibt im Sozialwort gelegentlich, wer jeweils das "kirchliche Subjekt" ist (245 ff.): Die Kirchenleitungen, die kirchliche Organisationen, die "Christen", das Kirchenvolk? In "vier inhaltlichen Facetten" (250-253) und "sechs Fragen zum Verfahren" (253-257) wird die Grundkonzeption des 4. Kapitels zusammengefaßt, die dann auf die "Kirchenwirtschaft" (257 ff.), d. h. die eigene wirtschaftliche Aktivität der Kirche prüfend angewandt wird. Fünf Vergleichswerte (259 ff.): Arbeitszeitverkürzung und Flexibilisierung/ Gleichstellung v. a. von Frauen, berufliche Ausbildung, neue Sozialkultur und Arbeitnehmer-Grundrechte bilden die Parameter. Aussagen z. B. über Kirchensteuern und Staatsleistungen oder das Grundrecht der Koalitionsfreiheit und der betrieblichen Mitbestimmung in der Kirche fehlen allerdings nach Hengsbach im Sozialwort. Der Beitrag von Hengsbach setzt am stärksten grundsätzlich an. Leo Jansen: "Projekt: Das Menschenrecht auf Arbeit und die betriebliche Arbeit der Kirchen" (175-191) fragt nach der Konsequenz aus dem Konsultationsprozeß und fordert das Leitbild einer neuen Arbeits- und Sozialpolitik ein. Er sieht in ihm den Kampf zweier Ökonomien in der Arbeitsgesellschaft beschrieben, nämlich die des Ökonomismus und die des Humanismus, und vermißt im Sozialwort prophetische Kraft und visionäre Kreativität.

Der Sammelband repräsentiert insgesamt eine Position der Katholischen Soziallehre: Die Autoren wollen das Sozialwort zwar aufgreifen und fortschreiben, insgesamt interpretieren sie es aber mit Hilfe ihrer Kritik in eine Richtung, nämlich in die Richtung der Ablehnung eines neoliberalen Marktradikalismus. Andere Interpreten, beispielsweise in der von Wolfgang Ockenfels OP herausgegebenen Zeitschrift "Neue Ordnung", setzen dagegen andere Akzente in Darstellung und Kritik. Auffallend ist außerdem, was in dem Sammelband nicht angesprochen wird, z. B. Währungspolitik, Geldmarkt, die Auswirkungen des Euro, die europäische Integration, der Welthandel, die Vermögensverteilung ("Reichtumsbericht"), aber auch die Familienpolitik oder das Gesundheitswesen. So bleiben wichtige Lücken in der Debatte.

Der die Weiterarbeit anregende und die Diskussion kontroverser Themen aufgreifende Sammelband stimuliert eine notwendige und gerade auch von den Kirchen mitzubedenkende Debatte um die künftige Sozialkultur. Der evangelische Betrachter fragt sich dabei, weshalb die Rezeption des Sozialwortes und die Auseinandersetzung mit den Vorschlägen des Wirtschafts- und Sozialwortes der Kirchen im katholischen Umfeld so viel intensiver, engagierter und rascher vor sich geht als im evangelischen Bereich. Liegt dies nur an unterschiedlichen Kirchenstrukturen? Katholische Soziallehre basiert nämlich immer schon auf offiziellen kirchlichen Äußerungen. Oder ist die Tradition katholischer Soziallehre offener für die Beachtung struktureller Probleme des Arbeitsmarkts, des Sozialstaats, der Sozialpolitik? Oder sind es vielleicht sogar nur vordergründige wissenschaftsorganisatorische Ursachen und Gründe? Die katholische Soziallehre oder Gesellschaftslehre ist als eigenständiges Fach in Lehre und Forschung innerhalb der katholischen Theologie fest verankert und etabliert, während die Sozialethik in der evangelischen Theologie nach wie vor immer noch nur ein Rand- und Teilgebiet der Systematischen Theologie bildet. Mit Theologumena allein, d. h. ohne gesellschaftliche Analyse und sozialwissenschaftliche Kenntnisse und deren kritische Erörterung, ist "kirchliche Sozialverkündigung" heute jedoch nicht mehr möglich. Auch diese Einsicht kann man aus den katholischen Publikationen zum Konsultationsprozeß und Sozialwort ziehen.