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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1331–1334

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schipper, Bernd U.

Titel/Untertitel:

Hermeneutik der Tora. Studien zur Traditionsgeschichte von Prov 2 und zur Komposition von Prov 1–9.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2012. XII, 336 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 432. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-027948-1.

Rezensent:

Jutta Krispenz

Die Monographie des Berliner Ordinarius für Altes Testament Bernd U. Schipper greift ein zentrales Thema auf, wenn sie der Frage nachgeht, wie sich die im Proverbienbuch niedergelegten Traditionen zur »Tora« verhalten, die ab der nachexilischen Zeit immer mehr zum wichtigsten Bestandteil der Überlieferung des alten Israel und der aus ihm hervorgegangenen religiösen Gemeinde wurde. In den vergangenen Jahren haben mehrere Untersuchungen verdeutlicht, dass die in der Tora versammelten Traditionen letztlich von einer eher kleinen Gruppe Gebildeter (»Literati«) getragen wurden. Nachdem diese Gruppe mit den Schreibern in Verbindung gebracht wurden, liegt die Frage nahe, wie denn jene Traditionen, die schon lange mit der lese- und schreibkundigen Elite in Zusammenhang gebracht wurde, die Proverbien, sich zur Tora und dem mit ihr verbundenen Anspruch verhalten. Dieser Frage geht S. nach, wobei er sein Hauptaugenmerk auf Prov 2 richtet. Die Arbeit unternimmt, sehr knapp gesagt, den Versuch, Prov 2 in einen Diskussionszusammenhang um die Tora einzuordnen. Prov 2 wird dabei sowohl in seiner eigenen Strukturiertheit gesehen als auch in Bezug zu der ersten Sammlung des Buches der Sprüche (Prov 1–9), zu den übrigen Sammlungen in Prov 10–31 und zu einigen weiteren Texten des Alten Testaments. S. betritt hier ein Gebiet, das unter den Voraussetzungen der neueren Darstellungen zur Entstehung des Alten Testaments ein Desiderat ist. Schon aus diesem Grund hat er ein wichtiges Buch vorgelegt, dem eine breite Rezeption und Diskussion zu wünschen ist. Darum ist aber die Vorgehensweise von besonderer Bedeutung, und deshalb wird dem einleitenden Kapitel im Folgenden besondere Beachtung ge­widmet.
Um die wichtigsten Probleme für das Verständnis von Prov 2 zu benennen, stellt S. im ersten Kapitel (»Einleitung«, 1–36) zunächst die Auslegungsgeschichte des Textes seit dem Ende des 19. Jh.s dar, die in Prov 2 eine Art Zusammenfassung für Prov 1–9 sieht. Zugleich enthält Prov 2 einige Entsprechungen zu anderen Texten, besonders innerhalb der ersten Sammlung des Proverbienbuches, aber auch zu Texten deuteronomisch-deuteronomistischer Herkunft, sowie zu Psalmen und Prophetentexten. S. verweist hier auf eine Studie von André Robert, der diesen Querbeziehungen detailliert nachgegangen ist und sie als das Ergebnis einer »anthologischen Methode« (5) sieht. Das Nebeneinander der Themenkomplexe »Weisheit« und »Tora«, das häufig zu literarkritischen Eingriffen geführt hat, ist ein weiterer wichtiger Punkt, der zu beachten ist. S. formuliert als zentrale Frage: »Inwiefern […] zeigt sich in den Proverbien und konkret im Rahmen um die eigentliche Spruchweisheit eine unterschiedliche Rezeption von Gesetzestraditionen, die womöglich einem Diskurs um das Verhältnis von Weisheit und ›Tora‹ zugeordnet werden kann?« (7)
Ein zweiter, erheblich längerer Abschnitt in der Einleitung des Buches ist methodischen Überlegungen gewidmet (»Zur Methodik: die Frage nach textueller Kohärenz«, 8–34). S. diskutiert hier zuerst diejenigen Begriffe, die in erklärender Absicht auf das Phänomen der Übernahmen in Prov 2 angewendet wurden. Die Vorgehensweise Roberts empfindet S. als zu wenig transparent hinsichtlich ihrer Kriterien, und damit auch die Bezeichnung »anthologische Methode«. Zwei weitere Bezeichnungen sieht S. in unmittelbarer Nähe zu Roberts Terminus: Das ist zum einen der Begriff »Midrasch« und zum anderen der der »innerbiblischen Exegese«. Für beide nennt S. aus der Forschungsgeschichte Rahmenbedingungen, die für das Phänomen gegeben sein müssen und somit die Entstehungsbedingungen eingrenzen. Weiter nennt S. verschiedene Weisen der Aufnahme vorliegender Traditionen, denn oft liegen in den Texten nicht einfach Zitate vor, sondern Transformationen vorgegebener Texte. Die Aufgabe angesichts solcher Transformationen besteht darin, die unterschiedlichen Gestalten, in denen ein Gedanke auftritt, zu erfassen, als Transformationen eines bewusst übernommenen Gedankens zu erweisen und die relative Chronologie der einzelnen Transformationen zu erheben und damit ihre Beziehung zueinander zu erfassen. Besonders die Frage, bis zu welchem Grad an Ähnlichkeit noch mit bewusster Aufnahme oder Anspielung auf einen konkreten (uns vorliegenden) Text gerechnet werden kann, beschäftigt S. in diesem Zusammenhang. Tatsächlich liegt hier wohl die größte Schwierigkeit solcher Untersuchungen. Gewissheit wird man in dieser Frage nicht in allen Fällen erwarten können.
S. arbeitet sich in Auseinandersetzung mit weiteren exegetischen Arbeiten (von R. G. Kratz, H. Donner, T. Willi, K. Brockmöller, U. Bail, G. Steins, B. Trimpe, S. Sandmel, D. Dimant, P. C. Beentjes, M. A. Lyons, M. Seidl, B. M. Levinson) an Kriterien heran, die es erlauben sollen, eine bewusste Aufnahme zu identifizieren. Ein Zwischenergebnis formuliert in fünf Punkten, wie in biblischen Texten zitiert worden sein kann. Dabei rechnet S. mit Zitaten, die lediglich auf der Textoberfläche verändert sind (durch Umstellung, Austausch von Wörtern durch Synonyme sowie Erweiterung oder Kürzung), aber auch mit Modifikationen, die sowohl gleichsinnig sein können als auch inkongruent hinsichtlich des Kontextes. S. unterscheidet von diesen Möglichkeiten der Zitierung die »konzeptionelle Abhängigkeit« (24), bei der eine Kenntnis des ursprünglichen Gedankens beim Leser vorausgesetzt wird, und die »interpretative Entfaltung« (24). Bereits hier deutet S. eine Ablehnung des Begriffs »Intertextualität« an, weil er »[…] aufgrund seiner vielfachen Verwendung und seiner Referenz zu modernen literaturwissenschaftlichen Modellen, die nur bedingt auf antike Texte applizierbar sind […]« problematisch sei. Freilich bezieht sich die Ablehnung Lyons’, auf den S. sich hier beruft, gerade nicht auf die breite Verwendung des Begriffes – etwa in der Ägyptologie trotz einschlägiger Bedenken durch J. Assmann –, sondern allein auf die auch in den Literaturwissenschaften sehr strittigen Arbeiten von Julia Kristeva. Deren Arbeiten wiederum fußen auf Arbeiten des russischen Begründers der Semiotik, Michail M. Bach tin, der in einer ganzen Reihe von Aufsätzen gerade antike Texte in seine Überlegungen mit einbezog. Es ist verständlich, wenn Exegeten neben der Aufarbeitung der umfangreichen exegetischen Literatur die Diskussion literaturwissenschaftlicher Theorien gerne hintanstellen wollen; S. diskutiert ja auch die alttestamentliche Literatur zu Prov 2 intensiv. Für die Exegese als Ganze ist das weniger hilfreich, weil sie damit von der allgemeinen Diskussion über Texte nicht mehr profitiert und in dieser Diskussion nicht mehr vertreten ist.
S. begründet seine eigene Vorgehensweise – die sicher auch literaturtheoretisch fundiert werden könnte und dann an Transparenz und Prägnanz gewönne – durch den Verweis auf externe Evidenz in Gestalt von Traditionsphänomenen in der Literatur des pharaonischen Ägypten. Nachdem dort die Texte aufgrund ihrer physischen Überlieferung zeitlich klarer verortet werden können, lassen sich dort auch Übernahmevorgänge besser nachzeichnen. S. führt hier eine ganze Reihe von überzeugenden Beispielen an und skizziert die Bedingungen und Formen der Textübernahmen: Die Texte wurden in einem engen Kreis von schulisch Gebildeten tradiert, die Schule war der eigentliche Ort dieser Überlieferung. Die Kanonisierung der Schulliteratur machte es nötig, diese »à jour« zu führen, um sie in der jeweiligen Situation verständlich zu halten. An dieser Stelle führt S. den Begriff der »textuellen Kohärenz« ein, den er von Jan Assmann übernimmt. S.s Darstellung dieses Zusammenhangs erscheint der Rezensentin missverständlich: Assmann bezeichnet mit dem Begriff eine Art, wie eine Kultur ihre Identität bewahrt. »Textuelle Kohärenz« ist, ebenso wie »rituelle Kohärenz«, eine Form der »kulturellen Kohärenz« einer Gesellschaft. An einem bestimmten Punkt der Entwicklung gehen manche Gesellschaften dazu über, ihre Identität nicht mehr so sehr über gemeinsame Rituale und die ihnen inhärenten symbolischen Narrative zu konstituieren, sondern definieren ihr Zentrum über Texte, die dann fast notwendig zu einem verbindlichen Kanon und einer Auslegungskultur führen. Die »textuelle Kohärenz« ist die Voraussetzung für das Entstehen dieses Umgangs mit Traditionstexten, für die dann »Intertextualität« wohl die neutralste Bezeichnung wäre. Bei Assmann ist »textuelle Kohärenz« jedenfalls keine antike Methode der Überlieferung oder Bezugnahme auf zentrale Texte einer Kultur.
S. verfolgt im Hauptteil seines Buches die intertextuellen Spuren in Prov 2 vor dem Hintergrund einer gegebenen Auslegungsgeschichte, die dieses Kapitel in großer Nähe zu deuteronomisch-deuteronomistischen Texten sowie einiger weiterer Texte sieht. S. untersucht dabei zuerst die interne Struktur des Kapitels (»Text­-analyse: Die Lehrrede von Prov 2«, 37–79): Prov 2 bringt die beiden Themen »Tora« und »Weisheit« unter Bezug auf weitere Texte in einen neuen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist das An­liegen des Kapitels, das aus diesem Grund dem Sprüchebuch ursprünglich vorangestellt war. Diese Bezugstexte werden in Kapitel 3 (»Zur Traditionsgeschichte von Prov 2«, 81–154) ausführlich und genau untersucht. S. unterscheidet dabei, wie gewiss Bezüge der Texte zu Prov 2 einzuschätzen sind, und ordnet die untersuchten Texte zeitlich ein. Betrachtet werden dabei Texte aus dem Buch Deuteronomium, die schon länger zu Prov 2 in Beziehung gesetzt wurden, einige Psalmen, die S. aufgrund ihrer Datierung teils in die Vorgeschichte von Prov 2 einordnet, teils in die Wirkungsgeschichte, sowie einige »spätprophetische Texte«. Anschließend kommen die Verbindungen in den Blick, die Prov 2 mit anderen Texten des Sprüchebuches teilt (»Prov 2 im Kontext des Proverbienbuches«, 155–219). Dabei werden Abschnitt für Abschnitt zuerst die Bezüge zum ganzen Buch dargelegt, dann folgen Überlegungen »Zur Komposition von Prov 1–9 im Kontext des Proverbienbuches« (178–213) und schließlich wird als Ergebnis aus diesen Untersuchungen die Rolle von Prov 2 in der Redaktionsgeschichte des Buches dargestellt. Prov 2 stellte originär eine Einleitung zu den ursprünglich eigenständigen Lehrreden in Prov 1–7 zusammen mit Prov 8 dar. Dieser Ausgangstext erhielt später durch einen komplizierten Prozess der Umstellung und Erweiterung seine heutige Form. Die Redaktion nahm dabei in Prov 1 kritisch Stellung zu Prov 2, Prov 9 stellt eine Art »Scharnier« zur Sentenzensammlung Prov 10–22,16 dar.
In diesem Abschnitt fällt auf, dass S. zwar die Bezüge von Prov 2 zu den sogenannten »älteren Sammlungen« in Prov 10–29 untersucht, nicht aber diejenigen der anderen Kapitel in Prov 1–9, die Prov 2 ja zum Teil vorliegen. Die fast wörtliche Übereinstimmung von Prov 18,22 und Prov 8,35 wird beispielsweise nicht erwähnt. So erscheint Prov 2 und damit auch die erste Sammlung des Buches bei S. möglicherweise erratischer und in sich abgeschlossener, als sie es tatsächlich ist. S. verweist den Leser für die Redaktionsgeschichte von 10–31 auf eine eigene Untersuchung. Aber bedeutet die Aufnahme der Texte aus Prov 1–8 in ein um Prov 2 programmatisch erweitertes Werk nicht, dass diese aufgenommenen Texte mitsamt ihren Anspielungen Teil des Werkes sein sollten? Oder anders gefragt: Ist es sinnvoll ein Buch redaktionsgeschichtlich zu analysieren und dabei die mutmaßlich ältesten vorhandenen Bestandteile unbeachtet zu lassen? Die Tradenten der Texte – das ist S.s zentrale These aus der Einleitung – erkannten jede noch so kleine Anspielung, weil sie mit den einschlägigen (Schul-)Texten vertraut waren. Müssten diese dann nicht auch den Verstehenshorizont für die Exegese bilden?
Im fünften Kapitel kommt S. unter dem Titel »Hermeneutik der Tora« (221–279) zur Darlegung seiner These, dass die Diskussion, die in Prov 2 im Zusammenhang der Intertexte und im Zusammenhang der Redaktionsgeschichte sichtbar wird, um die Tora kreist, obwohl diese in Prov 2 nicht erwähnt wird. Vor dem Hintergrund der (durchweg späten) Vergleichstexte ergibt sich für Prov 2 eine Stellung in der Diskussion um das Verhältnis von Tora und Weisheit als verbindlicher Größen und um die Frage nach den menschlichen Möglichkeiten der Erkenntnis. Prov 28 und 30 f., die das rahmende Gegenstück zu Prov 1–9 bilden, setzen einen anderen Akzent als Prov 2, indem sie der Tora gegenüber der Weisheit höheres Gewicht beimessen: Es »behält am Ende, wenn man so will, die Tora die Oberhand, denn die Weisheit ist eine menschliche Kategorie und keine göttliche oder übermenschliche, die zu einer besonderen Gotteserkenntnis verhelfen könnte« (264). Die Traditionslinie beginnt bei Texten im Deuteronomium und führt von dort aus ins Proverbienbuch – jedenfalls, wenn man den Blick zuerst auf dessen jüngste Bestandteile richtet. Sozial verortet S. die Texte in einer Gruppe von »Literati«, die er im Umfeld des 2. Tempels vermutet.
Das letzte Kapitel formuliert das »Ergebnis« (281–289), das auch in englischer Übersetzung geboten wird (»English Summary«, 291–299).
Die Arbeit bietet eine interessante und mit vielen Textbezügen belegte These, die verdeutlicht, dass die Proverbien ursprünglich durchaus kein randständiger Bereich in der Literatur des Alten Testaments waren. Die herangezogenen Textbezüge sowie andere Details werden sicher ebenso diskutiert werden wie die von S. entworfene Redaktionsgeschichte. S. ist sehr zu danken, dass er diese Diskussion mit einem so gewichtigen und fundierten Beitrag begonnen hat. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Stellenregister vervollständigen den Band.