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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1323–1326

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fokkelman, Jan P.

Titel/Untertitel:

The Book of Job in Form. A Literary Translation with Commentary. Translated from the Hebrew, Annotated and Introduced.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. X, 335 S. = Studia Semitica Neerlandica, 58. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-90-04-23158-0.

Rezensent:

Markus Witte

Dass das Buch Hiob nicht nur inhaltlich und theologisch zu den tiefgründigsten Texten der Weltliteratur gehört, sondern auch in poetologischer Hinsicht ein Meisterwerk darstellt, ist keine neue Erkenntnis. Seit den Vorlesungen des Oxforder Professors für Rhetorik Robert Lowth De sacra poesi Hebraeorum (1753) und seit Johann Gottfried Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/ 1783; 21787) finden sich in jedem neueren Hiobkommentar Über­-legungen zur formalen Anlage der Hiobdichtung (Hi 3,1–42,6), zu einer strophischen Gliederung, zur Bestimmung des Metrums und zu einzelnen Stilmitteln. Insofern thematisiert das von dem bis 2001 an der Universität Leiden Hebräisch und Aramäisch lehrenden Jan P. Fokkelman verfasste Buch einen zentralen Aspekt der neuzeitlichen Hiobforschung, auch wenn der Vf. den Eindruck erweckt, die Poetik des Hiobbuches sei von der Forschung bisher vollständig übergangen worden.
Dabei handelt es sich bei dem hier anzuzeigenden Werk um die englische Übersetzung der 2009 auf Niederländisch erschienenen Originalpublikation. Die englische Übersetzung der Übertragung des hebräischen Hiobbuches (= Teil 2; 35–193) stammt vom Vf. Die Einführung (= Teil 1; 3–29) und die ausführliche Darstellung der Poetologie und des Gedankengangs des Hiobbuches (= Teil 3; 199–327) wurden hingegen von P. Visser-Hagedoorn übersetzt. Einige Inkongruenzen zwischen den Wiedergaben des biblischen Textes in Teil 2 und in Teil 3 sind offenbar diesem Umstand unterschiedlicher Übersetzer geschuldet. Als eigent­-liche Zielgruppe seines Buches gibt der Vf. einen weiteren Leserkreis an, der, wie vor allem seine Auseinandersetzung mit niederländischen Bibelübersetzungen zeigt, zunächst einmal in den Niederlanden zu suchen ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich wohl auch der weitgehende Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit einschlägiger Sekundärliteratur – so bietet die Ab­schlussbibliographie, abgesehen von Bibelausgaben, gerade einmal elf Titel, unter diesen drei Werke des Vf.s, die mit dem Ansatz des Vf.s vergleichbare Studie von P. van der Lugt, Rhetorical Criticism and the Poetry of the Book of Job (1995) und nur zwei neuere Hiobkommentare, von D. J. A. Clines, Job, WBC 17–18b (1989–2011) und N. C. Habel, The Book of Job, OTL (1985).
Die Besonderheit des Buches besteht darin, dass der Vf. nach einer klaren Einführung in das Zentralproblem des Buches Hiob (»das unschuldige Leiden«) und in Grundbegriffe von Narratologie und Poetologie eine strophisch gegliederte (aber nicht metrisch angelegte) Übersetzung des gesamten Hiobbuches mit einer ausführlichen Interpretation der herausgearbeiteten poetischen Makro- und Mikrostruktur bietet. Ausgangspunkt ist der Masoretische Text in Gestalt der BHS. Zu Textänderungen sieht sich der Vf. nur an 30 Stellen gezwungen. Auf der linken Seite des Übersetzungsteils wird jeweils der MT geboten, auf der rechten die Übersetzung, die aber an den vom Vf. emendierten Stellen eine andere Lesart zugrunde legt, ohne dass dies im Einzelnen kenntlich gemacht ist. Wie es für den vom Vf. seit vielen Jahrzehnten auf vielen tausend Seiten an den Samuelbüchern, den Psalmen und an Hiob vorgeführten literaturwissenschaftlichen und poetologischen Zugang charakteristisch ist, verläuft die Interpretation rein werkimmanent. Literargeschicht­liche Fragen werden, mit Ausnahme der Bestimmung des Hebrä­-ischen des Hiobbuches als »classical Hebrew« und der vagen Datierung in das 5. Jh. v. Chr., ausgeblendet. Den vermeintlichen Irrwegen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft stellt der Vf. ein »close reading« gegenüber, bei dem der Aufweis von numerischen Äquivalenzen der Wörter, Silben, Kola, Verse, Strophen, Stanzen und Teile der einzelnen Kapitel des Hiobbuches die Annahme einer vollständigen literarischen und genetischen Kohärenz dieses als didaktische Literatur in dialogisch-dramatischer Gestalt anzusprechenden opus unterstreichen soll.
Das Grundgerüst der Hiobdichtung bilde, wie auch sonst in der Poesie der Hebräischen Bibel, das aus einem Kolon A und einem Kolon B bestehende Bikolon, das mit einem Vers identisch sei. Lediglich 7,8 % der Verse des Hiobbuches seien Trikola. Als Strophe definiert der Vf. eine aus zwei bis vier zusammengehörenden Versen bestehende poetische Einheit; zwei oder drei Strophen bildeten eine Stanze, mehrere Stanzen dann einen Teil eines Gedichts. Mit Ausnahme von Kapitel 38 f. entspreche die mittelalterliche Kapiteleinteilung des Hiobbuches den Grenzen eines Gedichts. Von den 412 Strophen der Hiobdichtung entfielen jeweils genau 206 auf Hiob und 206 auf die drei Freunde, Elihu und Gott. Durchschnittlich umfasse jedes Kolon acht Silben. Ein Standardvers habe somit 8 + 8 Silben. Überhaupt spiele die Zahl 8 eine zentrale Rolle in der Poetik des Hiobbuches. Nur ein paar Beispiele seien hier genannt:
Im Hiobbuch erscheint der Name des Helden 56 (= 8 x 7) mal. Kapitel 9–10 haben 56 Verse, Kapitel 12–14 560 Wörter, Kapitel 17 und Kapitel 23 jeweils 32 (= 8 x 4) Kola, das Weisheitsgedicht in Kapitel 28 448 Silben, was geteilt durch die Zahl der 28 Verse des Kapitels die Zahl 16 (= 8 x 2) ergibt. Die Elihureden (Kapitel 32–37) und Hiobs Schlussreden (Kapitel 26–31) enthalten jeweils 160 (= 8 x 20) Verse. Eine buchimmanente Begründung für die numerische Analyse sieht der Vf. in der Tatsache, dass Hiob selbst zum Zählen aufrufe (vgl. Hi 31,4.35–37) und dass in der Hiobdichtung achtmal das Wort »zählen« ( spr) und zwölfmal das Wort »Zahl« (mispār) auftauchen.
Die »klassischen« literarkritischen Probleme im sogenannten dritten Redegang (Hiobs Selbstwiderspruch in 24,13–23 und 27,7–23 gegenüber Kapitel 9 und 21; die Kürze der dritten Rede Bildads in Kapitel 25 oder das Weisheitslied in Kapitel 28 als Teil einer Rede Hiobs) erklärt der Vf., wie die vorkritische und neuzeitliche holistische Forschung, aus der Psychologie des Protagonisten oder mittels der Annahme von Ironie und Parodie. Für die Ursprünglichkeit der Elihureden bringt er u. a. die oben genannte numerische Entsprechung in Anschlag sowie die Funktion eines Intermezzos zwischen erster und zweiter Klimax des Buches (Kapitel 29–31 bzw. 38–42). Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit des Prosarahmens und der Dichtung zeige sich u. a. in dem engen Bezug zwischen Kapitel 1–2; 42,7–17 und Kapitel 29–31 als einem Kompendium des Lebens Hiobs in Vergangenheit (These), Gegenwart (Antithese) und Zukunft (Synthese). Das umfassende Unschuldsbekenntnis Hiobs in Kapitel 31, das nicht zufällig 40 (= 8 x 5) Verse aufweise und damit schon auf der Oberfläche des Textes eine Vollkommenheit spiegele, beantworte die Ausgangsfrage aus dem Gespräch zwischen Gott und dem Satan (»persecutor«) in Hiob 1,8: Hiob fürchtet Gott ohne Grund. Nach der aus zweimal zwei Gedichten bestehenden Gottesrede (I: 38,[1].2–38; II: 38,39–39,30; III: 40,[6].7–32; IV: 41,1–26) diene 42,1–6 als »conclusion of the conclusion«. So artikuliere Hiob in seinen letzten Worten einerseits den Verzicht auf die Fortsetzung seines Streitens mit Gott (so in V. 6a in Analogie zu 40,4b), andererseits das Bekenntnis, auch angesichts seiner Vergänglichkeit (»Staub und Asche«) getröstet zu sein (so in V. 6b). Beides gründe in der Tatsache, dass Hiob nun Gott gesehen habe (42,5b). Als Dreh- und Angelpunkt der Dichtung und als Wegbereitung der Gottesreden und der Schlussrede Hiobs fungiere Hiob 13,15 f. Mit der abschließenden Anerkennung von Hiobs Integrität durch Gott, seiner Kennzeichnung als »Knecht Gottes« sowie dem Urteil Gottes über die Freunde, die nicht richtig zu (ʼelaj) Gott geredet hätten (Hiob 42,7–9), beende Hiob bzw. der Dichter auch die Theorie der natürlichen Bosheit des Menschen.
Zu der vom Vf. angeblich zum ersten Mal nun richtig bestimmten Kritik Gottes an den Freunden in 42,7 im Sinne ihres Redens über anstelle zu Gott (319 f.) ist aber bereits auf M. Oeming (»Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob«, in: EvTh 60 [2000], 103–116) und die kritische Diskussion dieser These bei I. Kottsieper (»Thema verfehlt!«. Zur Kritik Gottes an den drei Freunden in Hi 42,7–9, in: Gott und Mensch im Dialog, FS O. Kaiser, BZAW 354/II, 2004, 775–785) zu verweisen.
Auch wer von der ausschließlichen Fokussierung des Vf.s auf die Textoberfläche, von seiner mitunter eigenwilligen poetologischen Theorie und von seiner Art und Weise, Silben im Althebräischen zu zählen, sprachwissenschaftlich nicht überzeugt wird, stößt bei ihm auf eine Fülle bedenkenswerter formaler und inhaltlicher Beobachtungen zum Buch Hiob. So ist sein Werk eine nützliche Ergänzung zu einem literargeschichtlich angelegten Kommentar, der Fragen der Redaktionsgeschichte und der innerbiblischen Be­züge nachgeht. Dabei müssen andere als die vom Vf. vorgestellten Strukturanalysen und Übersetzungen nicht auf die Inkompetenz der bisherigen Auslegerinnen und Ausleger zurückgehen (vgl. 317ff.). Sie gründen vielmehr in der Ambivalenz der Wörter und Sätze sowie der hohen Komplexität von Form und Inhalt des Hiobbuches selbst.
Beigegeben sind dem Buch ein Glossar zu 27 literatur- und sprachwissenschaftlichen Begriffen von »Anapher« bis zu »Vokativ« und ein knappes Sachregister. Die Anmerkungen zu jedem der drei Teile werden jeweils als Endnoten geboten.