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Ausgabe:

Dezember/2013

Spalte:

1316–1318

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boschki, Reinhold u. Albert Gerhards [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft. Neue Perspektiven für den christlich-jüdischen Dialog.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2010. 349 S. = Studien zum Judentum und Christentum. Kart. EUR 44,90. ISBN 978-3-506-76971-8.

Rezensent:

Walter Homolka

»Die Leiden der anderen nicht aus dem Blick zu verlieren, ihnen die gleiche Priorität und Dignität zu gewähren, wie den Leiden der eigenen Gruppe, und vor allem, die Leidensgeschichten der einen nicht gegen die der anderen auszuspielen, ist die große Herausforderung einer kritischen Erinnerungskultur«, schreibt der Bonner Religionspädagoge Reinhold Boschki in diesem Tagungsband, der die Beiträge einer Studienwoche der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn umfasst. Anders als der Buchtitel ist die Einleitung des Bandes und die Themenstellung der Studien­woche vom November 2007 mit einem Fragezeichen versehen: »Er­innerungskultur in der pluralen Gesellschaft?« Der Religionspädagoge Reinhold Boschki und sein Mitherausgeber und Kollege, der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards, fragen nach den Umrissen und Chancen einer solchen Gedenkarbeit, die unter dem Eindruck der Schoa steht und die die 1965 durch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate angestoßene Entwicklung in der Begegnung mit dem Judentum aktiv und kreativ weiterführen kann.
»Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft« ist ein Kaleidoskop. Es bietet 23 mehrheitlich katholische Perspektiven aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen auf das heutige Verhältnis des Christentums zum Judentum. Auf Grundsatzbeiträge von Reinhold Boschki und Albert Gerhards, Rabbiner Henry G. Brandt, Hans-Hermann Henrix und Josef Wohlmuth folgen Stimmen zu den Konturen einer Erinnerungskultur, zum facettenreichen christlich-jüdischen Verhältnis im 20. Jh. und zu aktuellen Forschungsfeldern im christlich-jüdischen Kontext. Dass mit dem Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland und Max-Dienemann-Professor am Abraham Geiger Kolleg Rabbiner Henry G. Brandt lediglich eine jüdische Stimme unter den Autoren ist, verweist auf die generelle Asymmetrie, unter der das christlich-jüdische Gespräch in Europa leidet. Mit »Sachor – Er­innerungskultur und Dialog aus jüdischer Perspektive« gelingt Brandt gleichsam die Grundlegung für die theologischen Reflexionen seiner katholischen Partner.
Der in der vom emeritierten Bonner Dogmatikprofessor Josef Wohlmuth verantworteten Reihe »Studien zu Judentum und Chris­tentum« erschienene Band bietet vor allem Bestandsaufnahmen. »Im Christentum als Erinnerungsgemeinschaft gibt es also so etwas wie eine Erinnerungsscham, welche Anlass gibt, die christliche Memoria immer wieder zu überprüfen«, beginnt der frühere Aachener Akademiedirektor Hans Hermann Henrix seine Überlegungen zur »moralischen und religiösen Erinnerung«; sein Beitrag geht ebenso wie der von Boschki weit über die Tagung hinaus. Denn Henrix setzt sich mit zwei kirchlichen Vorgängen auseinander, die »durchaus schmerzlich zur Erfahrung« gebracht hätten, dass »Erinnerung passiert«: mit der Veröffentlichung der Karfreitagsfürbitte am 4. April 2008 und des Dekrets zur Aufhebung der Exkommunikation der vier Weihbischöfe der Priesterbruderschaft St. Pius X. am 24. Januar 2009.
Josef Wohlmuth fragt in »Veritas Domini in aeternum« (Ps 116 Vulg.), ob das hebräische Wort emet mit aletheia/veritas/»Wahrheit« zutreffend übersetzt sei und ob der jüdisch-christliche Dialog wirklich auf »Wahrheit« im Sinn eines rationalen Wahrheitsbegriffes griechischer und lateinischer Herkunft abziele. Mit Verweis auf die Psalmenauslegung Erich Zengers (1939–2010), dem der Band gewidmet ist, liest Wohlmuth emet so wie emuna als »Treue« und folgert, dass der jüdisch-christliche Dialog in Zukunft dazu beitragen könne, dass »Juden und Christen im Lobpreis der unbeirrbaren Treue Gottes wetteifern, weil sie sich aufgrund dieser Treue im Geheimnis schon nahe sind, ehe sie sich im mühevollen rationalen Diskurs näher zu kommen versuchen«.
Verschiedene Beiträge gehen über die Fragen nach einer heutigen katholischen Erinnerungskultur als Ideal oder in der Realität hinaus und eröffnen den Blick auf die Vielzahl der Forschungsfelder, die der christlich-jüdische Dialog eröffnet. P. Elias H. Füllenbach OP ruft in seinem Text zum katholisch-jüdischen Verhältnis in Erinnerung, dass es bereits vor der Erfahrung der Schoah katho-lische Initiativen gegen den Antisemitismus gegeben hat, und verweist unter anderem auf die wenig beachtete Denkschrift des ehemaligen Leiters der Katholischen Friedensbewegung in Deutsch­land, Pater Franziskus M. Stratmann, von 1937. Der Bonhoeffer-Experte Andreas Pangritz erinnert sich mit dem einzigen protestantischen Beitrag an das Werk Friedrich-Wilhelm Marquardts und an dessen Entwicklung einer »evangelischen Halacha« aus seiner Talmud-Lektüre heraus, während der katholische Staatskirchenrechtler Ansgar Hense unter »Erinnerung als staatliche Verpflichtung« über den Staatsvertrag der deutschen Bundesregierung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland reflektiert. Die Bandbreite ist immens und reicht von der »Sanctity of Life« als biomedizinethischem Begriff (Heike Baranzke) über Gershom Scho­lems Verständnis des Christentums (René Buchholz) bis zu den Einflüssen der Hebräischen Bibel auf die lateinamerikanische Befreiungstheologie (Michael Schulz) – insgesamt eine Fülle guter Belege der Wirkkraft jüdischen Denkens in der heutigen katholischen Theologie.
Boschki und Gerhards ist mit ihrem Sammelband eine vielstimmige Momentaufnahme gelungen, die aus unterschiedlichen Perspektiven aufzeigt, dass eine Öffnung hin zu christlich-jüdischen Fragestellungen für alle Forschungsfelder der christlichen Theologie fruchtbar ist: in Exegese (Heinz-Josef Fabry, Rudolf Hoppe, Frank-Lothar Hossfeld), Dogmatik (Karl-Heinz Menke), Moraltheologie (Gerhard Höver), Kirchengeschichte, Religionspädagogik, Pastoraltheologie (Johann Pock), Kirchenrecht (Norbert Lüdecke) und Liturgie (Peter Ebenbauer, Clemens Leonhard, Julia Niemann).
Dies ist verbunden mit der Forderung nach einer erweiterten Wahrnehmung in diesen Disziplinen, um das Judentum angemessen zu berücksichtigen. Der Religionspädagoge Werner Trutwin be­schreibt, wie sich ein solcher Paradigmenwechsel im didaktischen Bereich bereits vollzogen habe, weil die »fundamentale und bleibende Bedeutung des Judentums für den christlichen Glauben« inzwischen außer Frage stehe. Reinhold Boschki pflichtet ihm bei: »Wir Christen können uns selbst nicht verstehen, wenn wir nicht den jüdischen Weg des Glaubens verstehen«.
Gerade mit Blick auf den 50. Jahrestag der Konzilserklärung Nostra Aetate im Oktober 2015 bietet »Erinnerungskultur in der pluralen Gesellschaft« einen umfassenden Blick auf Erreichtes im christlich-jüdischen Gespräch und formuliert zugleich Maßstäbe für weitere Forschungsfelder als Impulse für die Begegnung mit dem Judentum. »Nostra Aetate ›realisieren‹. Der christlich-jüdische Dialog als Bildungsaufgabe« lautet folgerichtig der Auftrag, den Reinhold Boschki und Albert Gerhards den Lesern dieses Bandes aufgeben, um die lebendige Gegenwart des Judentums in den katholischen Alltag einzubringen.