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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

546–548

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kunstmann, Joachim:

Titel/Untertitel:

Christentum in der Optionsgesellschaft. Postmoderne Perspektiven.

Verlag:

Weinheim: Deutscher Studienverlag 1997. 253 S. gr.8. Pb. DM 49,80. ISBN 3-89271-669-2.

Rezensent:

Christoffer H. Grundmann

Das hier zu besprechende Buch ist die 1996 von der Evang.-theologischen Fakultät in München angenommene Dissertation des Autors, die dieser bei Hermann Timm geschrieben und für die Drucklegung überarbeitet und ergänzt hat. - Der Vf. definiert einleitend kurz den Terminus ,Optionsgesellschaft’ als einen "Orientierungsbegriff ..., der die gesellschaftskulturelle Veränderung mit der gängigen philosophischen Reflexion zu verbinden versucht" (12 f.), um dann seine These zu formulieren, daß der "Durchgang durch eine als Reflexionshaltung bestimmte Postmoderne ... die Wahrnehmung dafür schärft, daß die christliche Religion [sc. in der Gegenwart] nicht ,verdunstet’, sondern sich verändert" und daß der Aufweis dieses für Theologie wie Kirche bedeutungsvollen Wandels dank der postmodernen Reflexionsstruktur "in angstfreier Weise möglich" sei "und zu einem profilierteren, seiner selbst bewußten und gesellschaftsrelevanten modernen Christentum führen kann" (21).

Weil die Diskussion um die Postmoderne zum Fokus "der Auseinandersetzung um die Gegenwart geworden" ist (83), skizziert der Vf. folgerichtig in einem ersten, sachlich wie auch sprachlich brillanten Hauptteil Aufkommen und Entwicklung der "Postmoderne(n) Philosophie" einschließlich der Kritik an ihr (I, 24-85). Diese Skizze, in der neben anderen vor allem die Positionen von J. F. Lyotard, W. Welsch, P. Sloterdijk, U. Eco, F. Jameson, P. Koslowski und, als Kritik, namentlich die von J. Habermas ausführlicher referiert werden, überzeugt nicht nur durch die souveräne Handhabung des Gegenstandes, sondern auch durch das sichere Urteil. Hier dürfte eine wohl noch auf längere Sicht zuverlässige Orientierung zur Sache vorliegen. Die differenzierte Bestandsaufnahme führt der Vf. zum Konstrukt einer "postmodernen Doppelfigur" der Reflexion, nämlich der "spiegelbildlich ineinanderliegende[n] Verabschiedung von Einheitsentwürfen und der Hinwendung zur Pluralisierung", die zwar "keine neuen Inhalte" kennzeichne, wohl aber "größere reflexive Genauigkeit" ermögliche (72).

Die beiden folgenden, deutlich kürzeren Hauptteile (II - Devotio postmoderna, 86-119; III - Ecclesia postmoderna, 120-161), ebenfalls sehr eloquent, fallen gegenüber dem Vorangegangenen spürbar ab. Sie sind wesentlich unkritisches Referat über Aspekte postmoderner Religiosität und Kirchlichkeit. In ihnen wird zu zeigen versucht, daß der radikale Wandel, dem Kirche wie Religion heutzutage unterliegen, "keineswegs einen Zerfall bedeuten" muß, sondern durchaus neue Perspektiven für authentisches Christ- und Kirchesein eröffne, wenn man sich denn der erwähnten ,postmodernen Doppelfigur’ als "heuristisches Instrument" bedient (85); denn nur diese ermögliche "eine angemessene Wahrnehmung" (86). - In der Gegenwart seien Religion und Frömmigkeit in unerwarteter Weise autonom und plural geworden, was sich in religiöser "Patchworkidentität" (H. Keupp), Erlebnisorientierung und Ästhetisierung äußere. Ob sich allerdings darin eine "tendenziell alltagspraktisch ausgerichteten Vergewisserung des frommen Subjekts" und also eine "urevangelische Tendenz" zeigt, die "in gewisser Weise die Frontstellung Jesu von Nazareth gegen jede Form von verwalteter bzw. verwaltbarer Religiosität" wiederholt (118; Hervorhebung im Original), erscheint fraglich; hier hätte dem Systematiker exegetische und historische Behutsamkeit sicherlich gut getan. Ebenso fraglich mutet auch die Behauptung an, daß sich "religiöse Differenzierungs- und Auswahlkompetenz längst etabliert" haben (119).

Sicherlich, diese werden wie selbstverständlich in Anspruch genommen, ob aber ,kompetent’, das sei dahingestellt. - Ähnlich strittig dürfte die These sein, daß die durch Funktionalität, Marktverhalten, normierungsfrei ästhetische (d. h. sinnlich wahrnehmbare) Sinnstiftung und Pluralisierung beschriebene ,Ecclesia postmoderna’, nicht "dem reformatorischen Verständnis von Kirche" widerspreche, sondern sich "im Gegenteil gerade aus ihm heraus ableiten und begründen" lasse, sei doch "die Reformation in gewisser Hinsicht der neuzeitlichen Moderne voraus und postmodern verstehbar bzw. zumindest mit postmodernem Denken vereinbar" (124; Hervorhebung im Original). Reformatorische Ekklesiologie kann zweifellos postmodern interpretiert werden. Doch um derart weitreichende Konsequenzen legitimer Weise zu ziehen, dazu bedürfte es eines ausgewiesenen historischen wie systematischen Differenzbewußtseins, das in den Anmerkungen zumindest hätte angedeutet werden müssen, wenn denn diese Aussage mehr als eine bloß oberflächliche Assoziation sein soll. Offensichtlich ahnt der Vf. selbst die Kühnheit seiner These, worauf nicht nur die auffällige sprachliche Unsicherheit an dieser Stelle verweist, sondern der etwas überraschende, mahnende Schluß dieses Teils ebenso, demzufolge nämlich die "Pluralisierung des Angebots und jegliches Experimentieren um der Sache willen" zu geschehen habe und "nicht die Beliebigkeit des Machbaren suggerieren" dürfe; denn wenn "die Kirche individuelle Spiritualität wahrnehmen und fördern möchte, wird sie gerade die ,Kompetenz im Heiligen’, also religiöses Profil haben müssen" (161). Fällt der Vf. damit nicht hinter seinen eigenen Ansatz zurück, zumal er auch die Antwort auf die alles entscheidende Frage, wie denn diese ,Kompetenz im Heiligen’ zu gewinnen sei, schuldig bleibt?

Der wieder umfangreichere, an das Niveau des ersten Teils anknüpfende letzte Hauptteil beschäftigt sich mit der "Postmoderne in der Theologie" (IV - 162-229). Anliegen ist nicht der Nachweis von "Vielheitsfähigkeit der Theologie, sondern grundsätzlich ihre Wahrnehmungsfähigkeit" (162). Beginnend mit einer Übersicht über die entsprechende nordamerikanische Diskussion bei Mark C. Taylor, C. E. Winquist, G. A. Lindbeck, D. R. Griffin, J. B. Cobb, D. Tracy, H. Cox, E. v. McKnight, D. Allen, H. Smith, T. C. Oden u. a. konstatiert der Vf. im Blick auf die Verwendung des Postmoderne-Begriffs innerhalb der deutschsprachigen Theologie einerseits dessen überwiegend etikettenhaften Mißbrauch, der nicht nur "das Durcheinander" widerspiegele, das er beklagt, sondern sich "auch einer theologischen Chance" hinsichtlich der "Neuwahrnehmung von Religion" begebe (179). Andererseits wird aber auch zugleich festgestellt, daß sich dieser Begriff im Sinne einer "achtenswerten Postmoderne" (J. Track) daneben mittlerweile "als dauerhafter Suchbegriff etabliert" habe (180). Weil nun die "umfassende Rezeption postmodern-philosophischen Denkens und seine Umsetzung in Theologie ... bisher nur in Ausnahmefällen" anzutreffen ist (202), darum muß sich der Vf. auf eine mühsame, hauptsächlich Aufsatzliteratur sichtende Spurensuche begeben, die ihn vor allem in der veränderten theologischen Hermeneutik wie bei I. U. Dalferths den Postmoderne-Begriff bewußt vermeidender "kombinatorischen Theologie" und, neben anderen, bei T. Rendtorff, R. M. Bucher, M. Honecker, H. M. Barth, W. Nethöfel, H. J. Luibl, H. Timm, R. Löw fündig werden und zu dem Schluß kommen läßt, daß "der postmoderne Blick auf die christliche Tradition ... als ein Weg selbstkritischen Verstehens eingeführt werden" und so "die christliche Theoriebildung in deren eigenstem Sinne" fortgeschrieben werden kann (229).

Im neunseitigen Schlußkapitel unter der durchaus etwas ironisch gemeinten Überschrift "(Post)postmodernes Christentum" (230-239) werden die gewonnenen Untersuchungsergebnisse dahingehend gebündelt zu zeigen, daß das, "was nach dem Danach kommt, ... oft das ganz Alte" sei "- jetzt freilich ... in neuer Perspektivierung und in einem veränderten Bewußtsein" (236); denn der christliche "Traditionsprozeß ... ist reformatio perennis, dauernde und je verschiedene Neu-Einzeichnung ins Jetzt aus dem Rückgang zum Ursprung", etwas, das "im Grunde nie völlig anders" gewesen sei, weshalb es ebenso für das, "was hier postmodern genannt ist" Gültigkeit habe (235). Als "neue Themen, die zur Bearbeitung nach dem Durchgang durch die Postmoderne anstehen" (236) werden Begrenzung, Bildung und Spiritualität genannt, Themen, die theologische wie kirchliche Aufgaben indizieren, "profilierte und freibleibende Angebote in evangelischem Geist zu machen" und zugleich "auf die uneinholbare Kompetenz des Christlichen" verweisen, "die es unter veränderten Bedingungen neu wahrzunehmen" gelte (239).

Bei all seinen anregenden, oft scharfsichtigen Beobachtungen und Überlegungen geht der Vf. von dem expliziten Grundaxiom aus: "Das Christentum kann und soll nicht postmodern werden" (23). Das kennzeichnet Größe und Grenze dieser wichtigen Studie - Größe insofern als hier eine selten erreichte, differenzierende theologische Reflexion der postmodernen Gegenwart durchgeführt ist, Grenze insofern als diese Reflexion vor einem defensorisch-apologetischen Hintergrund erfolgt. Neben dem intellektuellen und durchaus auch sprachlichen Genuß dieser Studie erfreut das angenehme, nur selten durch Druckfehler getrübte Schriftbild die Leser, die sich gelegentlich allerdings etwas aussagekräftigere Fußnoten wünschten.