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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

539–542

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Eickhoff, Jörg

Titel/Untertitel:

Theodizee. Die theologische Antwort Paul Tillichs im Kontext der philosophischen Fragestellung.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-New York-Paris-Wien: Lang 1997. 243 S. 8. Kart. DM 69,-. ISBN 3-631-31704-2.

Rezensent:

Jan Bauke

Wie kaum eine andere Fragestellung hat die Theodizeefrage nach der Vereinbarkeit von Gottes Allmacht, seiner Güte und der Faktizität des Bösen in der Welt das moderne und postmoderne Denken umgetrieben und hält es, forciert durch die mit den Chiffren "Auschwitz" und "Hiroshima" etikettierten Ereignisse des Grauens in und um den Zweiten Weltkrieg, noch immer oder nun erst recht in Atem. Die vorliegende Arbeit von Jörg Eickhoff, eine bei Gert Hummel entstandene Dissertation, klinkt sich in diese "Hochkonjunktur hinsichtlich des Problems der Theodizee" (15) ein, unterscheidet dabei aber, anders als der "mainstream" der gegenwärtigen Diskussion, "[z]wei Seiten ... der Verwendung des Begriffs Theodizee" (ebd.). Die Theodizee, so der Vf., sei zunächst eine "neuzeitliche, theoretische Problemstellung" (ebd.), der es um den "spekulative[n] Beweis der Gerechtigkeit Gottes trotz der Evidenz des Bösen in der Welt" (ebd.) gehe, nicht so sehr um die Bewältigung konkreten und realen Leidens. Diesem "logische[n] Prozeß der Rechtfertigung Gottes" (ebd.), vom Vf. als "Theodizee von oben" (16.17) bezeichnet, setzt der Vf. die lebenspraktische Reaktion angesichts des Leidens gegenüber, vom Vf. "Theodizee von unten" genannt, die Frage des leidenden Menschen nach dem Warum seines Leidens samt des Versuchs, "eine tatsächliche Hilfe zur Kontingenzbewältigung zu geben" (16). Soll und will sich das neuzeitlich-nachneuzeitliche Theodizeeprojekt nicht wieder und wieder im "Denkdrehkäfig" (Peter Handke) der gewöhnlichen und aporetischen "Lösungsvorschläge" verfangen, muß es, so die Forderung des Vf.s, "zu einem Ausgleich zwischen der Theodizee von oben und der Theodizee von unten ... kommen" (18; vgl. auch 23.25). Die "logisch-abstrakte Denkfigur der Theodizee [kann] nur dann tatsächlich geling[en], wenn sie die konkrete Leidsituation des Individuums nicht nur logisch erklärt, sondern konkret dazu beiträgt, diese zu bewältigen" (220). Es ist die These des Vf.s, daß sich die geforderte Bewältigung der Theodizeeproblematik im Werk Paul Tillichs entdecken läßt, eine "Antwort zur Theodizee-Problematik ..., die in der aktuellen Diskussion bislang noch keine angemessene Berücksichtigung gefunden hat" (23).

Der Vf. beginnt die Verifikation seiner These in einem ersten Hauptteil (27-98) mit einem Durchgang durch die wichtigsten Entwürfe neuzeitlicher Theodizeeprojekte (Leibniz, Kant, Hegel, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche), die er - so seine erste Prämisse - aus einer von ihm als christlich bezeichneten Perspektive ("Gott wird als Schöpfer, Erhalter und Erlöser der Welt angesehen, und ihm werden die beiden Eigenschaften Allmacht und Güte zugeschrieben" [23]) heraus beurteilt und - das seine zweite Prämisse - mit Hilfe einer den gezielten Vergleich der einzelnen Theodizee-Entwürfe ermöglichenden "Systematik der Fragestellung" (ebd.) bearbeitet. Die dadurch erzielte Übersichtlichkeit der Darstellung - alle Kapitel sind nach dem gleichen Schema ([1] Ort der Frage der Theodizee im jeweiligen philosophischen System, [2] die Frage, inwieweit die menschliche Vernunft Gott zu erkennen vermag, [3], daraus resultierend: die materialen Aussagen über Gott und seine Eigenschaften, [4] die Herkunft und Existenzermöglichung des Bösen, [5] die Bewältigung der Wirklichkeit des Bösen und [6] Zusammenfassung und Bewertung) aufgebaut - vermag freilich nicht darüber hinwegzutäuschen, daß die Lektüre des Buches streckenweise einer gewissen Monotonie nicht entbehrt und der Vf. die von ihm selbst durch die "Systematik der Fragestellung" intendierte Vergleichsmöglichkeit der einzelnen Theodizee-Entwürfe (23) nicht ausschöpft. Ziel des Durchgangs durch die philosophischen Positionen ist freilich ohnehin nicht ihr dezidierter Vergleich, sondern der Nachweis, daß keiner der vorgestellten philosophischen Theodizee-Entwürfe der Arbeitshypothese des Vf.s genügt (98.219), da zumeist die "logische Rechtfertigung Gottes als abstrakte Denkfigur in den Vordergrund gedrängt und die individuelle Theodizee ... vernachlässigt wird" (219; vgl. 71 f.86).

Das gilt zunächst für Leibniz’ metaphysische Theodizee und ihren Versuch des Nachweises, daß Gott mit Hilfe seines "nachfolgenden oder konsequenten Willen[s]" (34), der an die Gesetze der Kontinuität, Kompatibilität und Kompossibilität (35) gebunden ist, die beste aller möglichen Welten gewählt und ins Dasein gerufen hat. Leiden und Übel erfahren so - mit Blick auf das "Gesamt der Schöpfung" (37; vgl. 41 f.) - zwar eine Sinndeutung (38), eine "existentielle Kontingenzbewältigungshilfe" (43) aber bietet Leibniz’ Theodizee nicht. Kants Theodizeeversuche liest der Vf. vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß Kant die metaphysische Dimension der Leibnizschen Theodizee kappt und die Fragestellung nach der Ursache des Bösen auf den Menschen engführt, der nun die alleinige Verantwortung für das Böse zu tragen hat (52.55). Da Gott so aber aus der Frage des Leidens herausgehalten wird (57), die Theodizee also zur Anthropodizee wird (55.59), scheitert, so die steile These des Vf.s, auch Kants Theodizee-Konzept (57). (c) Im Gegenzug zu Kants anthropologischer Reduktion der Theodizeeproblematik kommt es bei Hegel zu einer "Universalisierung der Theodizee" (59), die Gottes dialektischen Selbstwerdungsprozeß (in dem Gott seine Selbstunterscheidung von sich selbst [63] überwindet und in einem "versöhnenden Entwicklungsgang" [63; vgl. 67] zu sich selbst kommt) in der Weltgeschichte lokalisiert und so die Weltgeschichte selbst als "wahrhafte Theodicee" (59 [Zitat Hegel]) begreift, dabei aber (wie Leibniz), "das Schicksal des einzelnen Individuums" (71) vernachlässigt. (d) Eine größere Rolle spielt die Frage des individuellen Leidens (74) in Schellings (insbesondere im Hauptteil seiner "Freiheitsschrift" entwickelten) "Metaphysik des Bösen" (ebd.), in der Schelling einen von Gott resp. seinem Werden im Weltprozeß (Theogonie) zu unterscheidenden, aber nicht zu trennenden "dunklen Urgrund Gottes" (81) oder anders gesagt: das "was in Gott nicht er Selbst ist" (ebd.; vgl. 84.86), einführt. Die in dieser internen Dualität (77.84.98) angelegte Synchronizität von Gottes Sein (Grund) und Gottes Werden (Existenz) vermag zwar klassische Theodizeeprobleme (insbesondere das des metaphysischen Dualismus [85 f.]) zu vermeiden, reißt aber gleichzeitig einen Hiatus in Gott auf, der, so der Vf., "mit Schellings System nicht zu überbrücken ist" (86), befriedigt also letztlich vor allem logisch nicht: die nicht-dualistisch zu denkende Dualität in Gott sprengt den Gottesbegriff. (e) Bei Schopenhauer und Nietzsche schließlich kommt es zur Destruktion (86) und Stillegung (95) des Theodizeeproblems. Für Schopenhauer sind die Leiden des Lebens Läuterungsprozeß und Ansporn zur Abkehr vom "Willen zum Leben" (88), der als eigentlicher Leidverursacher anzusehen ist (94). Aus der Theodizee wird eine "Pathodizee" (88.92.96). Nietzsche seinerseits ersetzt die Theodizeeproblematik durch einen Nihilismus, der die scheinbare Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und faktischer Realität als Illusion entlarvt (92 f.) und das Dasein im Gegenzug gerade wegen der in ihm enthaltenen Leiden ästhetisch bejaht (88). Da in der Welt stets Chaos und Zufall herrschen, ist das Projekt der Theodizee sinnlos (95).

Im zweiten (recht unvermittelt einsetzenden) Hauptteil (99-225) sichtet der Vf. Tillichs (theologisches) Gesamtwerk, das er in die - "jeweils durch tiefe biographische Einschnitte voneinander getrennt[e]" (220; s. dazu v. a. 178) - idealistisch geprägte (124.221) Frühphase von 1908-1918 (99-140), die vom existentiellen Denken Kierkegaards beeinflußte (221) Phase vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Emigration 1933 (141-178) und die die beiden vorangehenden Phasen komplementär zum Ausgleich bringende (223) amerikanische Phase von 1933 bis 1965 (179-217) unterteilt, nach seinen impliziten Äußerun-gen zur Theodizeeproblematik (24).

(a) Schon in der Frühphase seines Werks (insbesondere in der sogenannten "Monismusschrift" von 1908 [s. 101 Anm. 2] und der "Systematischen Theologie" von 1913 [s. 106 Anm. 44]) erfüllt Tillich dabei die Forderung nach einer "doppelten" Theodizee: "Die Herkunft des Bösen verortet er in der immanenten Trinität; der Bereich der ökonomischen Trinität ... wird hingegen als Ort der empirischen Wirklichkeit des Bösen ausgemacht" (118). Gleichwohl kommt es nur zu einer fundamental-ontologischen Lösung des Theodizeeproblems, nach der Gott in die Faktizität der Weltwirklichkeit eingeht (105) und am Leiden teilhat (106f.120. 121.221), gleichzeitig aber sein absolutes Recht gegenüber der Welt beibehält (124). "Gott hat Recht vor aller Theodizee. Das ist die wahre Theodizee" (127 [Zitat Tillich]; vgl. 105.106.124 f.). Der leidende Mensch hat dieses Recht anzuerkennen, sich in sein Schicksal zu fügen (106) und "erfährt nur Trost, wenn er sich trotz seines Leids als in der Versöhnung stehend weiß" (126), im Glauben an der in Christus erfolgte Versöhnung partizipiert (170) und auf die endgültige Überwindung des Bösen im Eschaton (122) hofft. Damit ist die "Theodizee-Problemstellung ... global... gelöst, das Problem des Leids ... des konkret leidenden Individuums bleibt hingegen zu bewältigen" (126), droht zum "Scheinproblem" (170) zu werden, eine "Lösung" der Theodizeeproblematik, die durch Tillichs Erfahrungen im Ersten Weltkrieg in eine fundamentale Krise gerät.

(b) In der mittleren Phase des Gesamtwerks Tillichs (der Vf. zieht vor allem Tillichs "Dogmatik" von 1925 bei) wird daher die universale Perspektive der frühen Phase "durch das Einbeziehen der existential-ontologischen Perspektive" (173) modifiziert (vgl. 169). "Der entscheidende neue Begriff dieser Phase ist der Kairos" (171; Hervorhebungen J. B.), den der Vf. vorgängig in einem längeren Exkurs (der chronologische Zeitbegriff [129 f.], der kairologische Zeitbegriff in der griechischen [130 f.] und stoischen Philosophie [131 f.], in der Septuaginta [132] und im Neuen Testament [133 f.], Tillichs [Wieder]Entdeckung des Kairosbegriffs in seiner Hinwendung zum Religiösen Sozialismus [134-139] und seine spezifische Verbindung mit dem Begriff des Durchbruchs [139 f.]) thematisiert: Kairos ist der (einmalige) Durchbruch der vollkommenen Offenbarung Gottes (im Christusereignis) und die seltenen (aber jederzeit möglichen) Kairoi (206; vgl. 148.173) als "Wiederholungen" dieses Kairos. Die darin angezeigte "Erlösung in der Zeit, die wieder und wieder Wirklichkeit wird" (161 [Zitat Tillich]), nach dem Vf. "Element einer originären Lösung des Problems der Theodizee durch Tillich" (ebd.), richtet ihr Augenmerk nicht so sehr auf die endgültige Beseitigung der Faktizität des Bösen (172.176), sondern auf die Bewältigung des Leids im "kairischen Durchbruch des Unbedingten in die kontingente Weltwirklichkeit" (176) und dem ihm korrelierenden Gelingen der Glaubensrelation (175; vgl. 168). Nach dem Vf. ist darin freilich die Überbetonung der universalen Perspektive der Theodizeeproblematik in der ersten Phase des Werks von Tillich lediglich einer Überbetonung der existential-ontologischen Seite gewichen (178).

(c) Gelungen ist die Theodizee in dem vom Vf. geforderten Sinne (215) schließlich in Tillichs amerikanischer Phase (also insbesondere in Tillichs Hauptwerk "Systematische Theologie"), in der das universale (in der Diktion des Vf.s: die "Theodizee von oben") und das existentielle (in der Diktion des Vf.s: die "Theodizee von unten") Moment der Theodizeeproblematik in gelungenem Gleichgewicht zu einander stehen (217): "Fragmentale, antizipatorische Theodizee im Kairos und universale Theodizee der vollendeten Erlösung im Eschaton stehen in harmonischer Komplementarität" (224): Das Böse, dessen Existenzermöglichung Gott als conditio sine qua non geschöpflichen Seins (212. 214) "billigend in Kauf zu nehmen" (214) hat, wird im ewigen Leben endgültig überwunden (215). Die Vermittlung dieser "ewige[n] Überwindung des Negativen" (215 [Zitat Tillich]) in die Existenz des nach Gottes Gerechtigkeit angesichts des Bösen fragenden Menschen erfolgt erneut über den Begriff des Kairos: im Kairos wird die Überwindung des Negativen "auch immanent in der kontingenten Geschichte erfahrbar" (ebd.).

Was aber, so läßt sich kritisch fragen, ist mit dieser Aussage eigentlich gewonnen? Eine verklausulierte und auf Tillichs "Privatsprache" rekurrierende (und banale?) Auskunft, daß das Böse dort bewältigt ist, wo es zu "je und je neuen und je meinigen Vergegenwärtigungen der Christusoffenbarung" (222) kommt, wo Gott also heilsam eingreift? Das freilich wäre nun erst recht eine Scheinlösung der Theodizeeproblematik. Denn der eigentliche Stachel im Fleisch der Theodizeefrage macht sich in aller Regel gerade dort bemerkbar, wo es nicht zu diesem Eingreifen Gottes kommt. Nachgewiesen ist so nach der Darstellung des Vf.s lediglich, daß Gott heilsam eingreifen kann (215.224 f.; vgl. 219.220), nicht aber, daß er tatsächlich eingreift, wie es Tillichs Auskunft: "Der paradoxe Charakter des Glaubens an die Vorsehung ist die Antwort auf die Frage der Theodizee" (179.209 [Zitat Tillich, Syst. Theol. I, 309]; vgl. 152 f.172) suggeriert, tatsächlich eingreift. Daß Tillichs Theodizee-Entwurf (wenn es denn überhaupt einer ist) zur konkreten Bewältigung konkreten Leidens, so der Vf. eigene Forderung (220), beiträgt und, so der vollmundige Schlußsatz des Vf.s, "ein richtungsweisender Schritt [ist], der es ermöglicht, der aporetischen Ausgangslage der philosophischen Fragestellung nachdrücklich standzuhalten und die Erfahrbarkeit Gottes in der kontingenten Welt tragfähig neu zu akzentuieren" (225), ist folglich immer noch aufzuweisen. Bis dahin aber reihen sich auch Tillichs Darlegungen zur Theodizeeproblematik in den "Kontext der philosophischen Fragestellung" ein und bieten wie diese, um noch einmal die - meines Erachtens nicht glückliche- Differenz des Vf.s aufzugreifen, eine (überwiegend mit traditionellen Argumenten operierende) "Theodizee von oben", kaum aber eine "von unten".