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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

535–537

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kroeger, Matthias:

Titel/Untertitel:

Friedrich Gogarten. Leben und Werk in zeitgeschichtlicher Perspektive - mit zahlreichen Dokumenten und Materialien, 1.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 424 S. m. 14 Abb. gr.8. Geb. DM 89,-. ISBN 3-17-014979-2.

Rezensent:

Eckhard Lessing

Das Interesse an Gogarten ist seit längerer Zeit erheblich geschwunden. Um so verdienstlicher ist es, daß nun eine detaillierte Biographie vorgelegt wird. Der anzuzeigende Band umfaßt die Frühzeit Gogartens (bis 1922). Zwei weitere Bände sollen folgen. Der zweite wird die Zeit bis 1932, der dritte das Spätwerk Gogartens zur Darstellung bringen.

Kroeger versteht die Aufgabe einer Biographie Gogartens im weiten Sinne. Er will nicht nur seine Entwicklung nachzeichnen, sondern sie in zeitgeschichtliche Zusammenhänge einbetten. Deshalb wird das Umfeld, in dem Gogarten sich bewegt hat, mit dargestellt. Dies erklärt zugleich den ungewöhnlichen Umfang der Biographie.

Gogarten selbst bietet für diese Vorgehensweise die notwendigen Anhaltspunkte. Er war nie ein Fachtheologe im engeren Sinne. Er entwickelte sein Denken zumal in Auseinandersetzung mit Philosophen und Künstlern, wußte sich z. B. in der Frühzeit dem Dürerbund und dem Kunstwart verbunden. Aufgrund ausgedehnter Archivarbeiten kann K. diesbezüglich wichtiges neues Material beisteuern, besonders durch die Auswertung der Nachlässe von Bonus, Buber, Diederichs, Grisebach, Herrigel, Natorp und Gertrud von le Fort. Berücksichtigt wird vor allem der Briefwechsel Gogartens.

Von den Briefen Gogartens her läßt sich auch sein Verhältnis zu ihm (mindestens zeitweise) nahestehenden Theologen genauer bestimmen, zu Troeltsch, zu Ragaz und Kutter, zu Rade, zu den anderen dialektischen Theologen. Diese Briefe lassen zugleich den Ort, den Gogarten in der damaligen theologischen Landschaft eingenommen hat, erkennen.

K. gliedert den ersten Band, Gogartens Selbstzeugnis entsprechend, in "I. Die frühen Jahre", "II. Der Durchbruch", d. h. Anfang der dialektischen Theologie.

Der erste Teil bringt drei über den bisherigen Forschungsstand hinausreichende Ergebnisse. Er verdeutlicht erstens die überaus enge Beziehung zwischen Gogarten und Bonus. Dieser erschließt Gogarten das eigentümliche Wesen der Religion. Zum Schlüsselwort wird das "Schöpferische", das die Kausalitäten des Weltgeschehens zerbricht. Individualität und Irrationalität, mystisches Erleben und sittlicher Wille charakterisieren die lebenskräftige Religion. Bonus ist für Gogarten aber auch deshalb von Bedeutung, weil er ihn in den Kreis um Eugen Diederichs eingeführt hat. Das Profil des Verlages, besonders seine Sparte "Religiöse Kultur", wird von K. in einer schönen Skizze vorgestellt (94 ff.).

Das zweite wichtige Ergebnis besteht im Aufweis der Kontakte zum Schweizer religiösen Sozialismus, zunächst insbesondere zu Ragaz, später mehr zu Kutter. Konvergenzen mit deren Reich-Gottes-Denken ergeben sich aus dem Verständnis der Religion vom Schöpferischen her.

Als drittes Ergebnis sind die Nachweise über Gogartens permanente Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Troeltsch zu nennen. K. kann diese Auseinandersetzung aufgrund seiner Materialien im einzelnen nachzeichnen. Gogartens publizierte Schriften lassen sie zwar vielfach vermuten, gewähren aber keinen genaueren Einblick.

Der die frühe dialektische Theologie betreffende zweite Teil der Darstellung besticht vor allem durch seine sehr differenzierte Darstellungsweise. Die einsetzenden Lutherstudien Gogartens werden analysiert. Es wird gezeigt, wie Gogarten durch die Dialoge mit Natorp, Grisebach und Herrigel zu schärferem Problembewußtsein geführt wird. Schließlich werden die Gemeinsamkeiten von Anfang an, aber auch die Verschiedenheiten der dialektischen Theologen vorgestellt, wobei auf das Verhältnis zwischen Bultmann und Gogarten besonders geachtet wird. Wichtig ist außerdem die Darstellung der Rezeptionsgeschichte der frühen dialektischen Theologie Gogartens. Hier wird noch einmal deutlich, welch maßgebliche Rolle der Christlichen Welt, ihrem Freundeskreis, besonders aber Martin Rade zukommt. Gerade er sorgte für das Forum, auf dem die Dialektiker ihren Gegensatz vertreten konnten. K. berichtet darüber hinaus über das Echo in weiteren Zeitschriften, u.a. in Tat, Kunstwart und Hilfe. Er weist zeitgenössische Parallelen bzw. Analogien u. a. in der jüdischen und katholischen Reformtheologie sowie in der künstlerischen Arbeit nach. Dies führt hinüber zu abschließenden Überlegungen zum Krisenbewußtsein in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg.

Dieses letzte Kapitel schlägt zugleich noch einmal die Brücke zurück zu der Absicht, die K. bereits im Vorwort erklärt hat und die den Faden des ganzen Buches bildet. K. will zeigen, daß das dialektische Denken Gogartens Kritik und Weiterführung des freien Protestantismus bedeutet, so daß dessen weitere Rezeption ohne die substanziellen Einsichten der Umbruchzeit nicht möglich ist. K. grenzt sich deswegen von einer ideologiekritischen Betrachtungsweise der dialektischen Theologie ab. Er möchte vor allem nachweisen, daß eine konservative Deutung des frühen Werkes Gogartens nicht angebracht ist. Nur einige "Vorboten" (277) weisen auf späteren Konservativismus hin. So sehr dieser Interpretationsversuch im Ansatz zu begrüßen ist, so unklar ist freilich die Durchführung im einzelnen. Seltsam unverbunden stehen insbesonders theologiepolitische Urteile nebeneinander. Gogarten steht links (z. B. 75), oder "links" (z. B. 101), bei der Mittelposition der CW (343), aber letztlich ist er unpolitisch (z. B. 190 f.). Klar soll die Abgrenzung vom theologischen Konservativismus, insbesondere Konfessionalismus (z. B. 344), sein. Aber es gibt doch wieder Berührungen mit ihnen (z. B. 188) sowie den Modern-Positiven (126, aber nicht mit Seeberg [vgl. 344]), in der dialektischen Zeit auch Berührungen mit dem Supranaturalismus der Positiven (244), was dann wiederum eingeschränkt wird (260).

Diese recht unterschiedlichen Urteile sind zwar im jeweiligen Kontext verständlich, aber sie zeigen auch an, daß ein klares Profil der Gogartenschen Position nicht gefunden worden ist.

K. arbeitet mit einem politischen Kategoriensystem, das doch die Eigenart Gogartens gerade nicht erfassen soll. Dieser Eindruck gilt verschärft in bezug auf Gogartens Anfänge. Viele Einzelausführungen zum Religionsbegriff, zum Individualitätsverständnis, zum Irrationalismus, die typisch neuprotestantisch sein sollen, sind doch quer durch die theologischen Positionen, zumal bei der damals jüngeren Generation, anzutreffen. Eine eindeutigere Abgrenzung zwischen Themen, Stimmungen, Reflexionen der Zeit und theologischer Positionalität hätte nahegelegen. Man fragt sich, warum dazu Gogartens Predigten nicht stärker ausgewertet worden sind.

Kritisch muß außerdem bemerkt werden, daß zahlreiche unnötige Wiederholungen, Verweise auf kommende Ausführungen ohne Seitenangabe und manche abrupte Urteile (z. B. Troeltsch ein "Außenseiter" wie Gogarten [219]) die Lektüre beeinträchtigen. Es fehlt eine sorgfältige Endredaktion. Es fehlt ferner ein genauer Archivbericht. Daß aufgrund noch nicht zugänglicher Materialien öfter bloß Vermutungen angestellt werden, ist für sich keine befriedigende Auskunft. Ein nur "kurzes Namensregister" behindert im übrigen die wissenschaftliche Benutzbarkeit.