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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1290–1291

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hammel, Tanja

Titel/Untertitel:

Lebenswelt und Identität in Selbstzeugnissen protestantischer Missionsfrauen in Britisch- und Deutsch-Neuguinea, 1884–1914.

Verlag:

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2012. 207 S. = Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, 68. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-3-8300-6213-4.

Rezensent:

Ulrich van der Heyden

In der missionsgeschichtlichen Forschung haben die Auswertungen von Tagebüchern von Missionaren oder diese begleitenden Personen noch nicht die Bedeutung erlangt, die diese historische Quellenkategorie eigentlich verdient. Das liegt vermutlich weniger an den in spärlicher Anzahl vorliegenden persönlichen Aufzeichnungen als an der Tatsache, dass kaum angenommen wird, welch wertvolle historisch verwertbare Informationen sich unter den persönlichen Notizen befinden. Jedoch sollte auch nicht übersehen werden, dass es, zumal für ausländische Forscher, sehr schwierig ist, handschriftliche Aufzeichnungen in einer anderen Sprache zu entziffern. Hinzu kommt, dass die meisten Tagebücher, zumindest diejenigen aus dem missionarischen Bereich, sich im privaten und nicht im Besitz von einschlägigen Archiven befinden.
Dass ein Tagebuch indes mehr sein kann als die meisten Menschen – darunter eben auch Historiker – sich unter einem solchen prototypischen Selbstzeugnis vorstellen, wird bei der Lektüre dieser eingehenden historisch-anthropologischen Untersuchung von je drei englischen und deutschen Diarien deutlich. Sie stammen von Frauen, die in der Zeit der direkten deutschen Kolonialherrschaft von 1884 bis 1914 in Neuguinea lebten und in missionarischem Auftrag versuchten, dort das Christentum zu verbreiten. Trotz aller Unterschiede verfolgen die Tagebuch-Schreiberinnen ein ähnliches Ziel: sich selbst zu thematisieren, sich innerhalb ihrer sozialen Netzwerke zu positionieren und ihre Lebenswelt für interessierte Menschen und Nachkommen zu dokumentieren.
Tanja Hammel hat in ihrer in Basel verteidigten Masterarbeit zwar vordergründig ein missionarisches Thema bearbeitet, jedoch ist es ihr in hervorragender Weise gelungen, dieses in die europäische Kolonialgeschichte einzubetten und darüber hinaus in beide tangierenden historischen Disziplinen, also die Missions- sowie die Kolonialgeschichte, einen »Gender-Blick« hineinzutragen. Natürlich kann man von einer Masterarbeit nicht verlangen, die Thematik in all ihren Facetten zu vernetzen. Aber dennoch ist ein beeindruckendes Ergebnis entstanden, was zuweilen weit über den üblichen Master-Standard hinausgeht.
Neben Einleitung, Schlussfolgerungen, Bibliographie und An­hang ist die Arbeit in vier substantielle Kapitel gegliedert, die jeweils detailliert untergliedert sind. Es beeindruckt die breite Archiv- und Literaturkenntnis der Vfn. Sie hat die einschlägigen Archivbestände der ehemaligen Rheinischen Missionsgesellschaft in Wuppertal, das Archiv der Mission EineWelt in Neuendettelsau, Archive in Australien sowie Privatnachlässe ausgewertet.
Im ersten Hauptteil beschäftigt sich die Vfn. mit der historischen Situation in den Kolonien Deutsch- bzw. Britisch-Neuguinea sowie mit einer sozialgeschichtlichen Analyse der englischen bzw. deutschen Missionsfrauen sowie ihrer Selbstzeugnisse. Im folgenden Komplex werden sehr genau einige wichtige Aspekte der »Lebensweltdeskription«, wie Umwelt, Freizeit, Krankheiten, aber auch die sozialen Netzwerke, inklusive der Beziehungen zur indigenen Bevölkerung untersucht. Im dritten Hauptkomplex wird die (um die Vfn. selbst zu zitieren) »Lebensweltdeskription und Selbstaffirmation in deutschen Tagebüchern« untersucht. Die Vfn. gelangt zu interessanten neuen Einblicken in die konkreten Verhältnisse vor Ort, die unter anderem wichtig für die Diskussionen um das Verhältnis von Mission und Kolonialismus sind. Diese Problematik ist recht ausführlich behandelt. Es fällt auf, dass eine ähnlich grundlegende Analyse für die britische Seite fehlt. Diese wird lediglich im letzten Hauptkapitel thematisiert, wenn die Vfn. sich mit der »Lebenswelt- und Identitätsdeskription« der Missionsfrauen in komparativer Weise beschäftigt.
Quellengestützt und so weit wie möglich eingebettet in die Forschungsliteratur kommt die Vfn. zu folgender Schlussfolgerung über die Motivation von missionarisch arbeitenden Frauen: Die Frauen wuchsen in religiösen Familien des Kleinbürgertums auf, die enge Kontakte mit Missionsgesellschaften pflegten. Der Weg in die Mission war vorgebahnt. Welche konkreten Gründe darüber hinaus eine Rolle spielten, lässt sich zum großen Teil aus den Tagebuchaufzeichnungen entnehmen.
Das Buch befruchtet in vielfältiger Weise die missionsgeschichtlichen Forschungsfragen. Es wäre zu wünschen, dass der Vfn. die Möglichkeit gegeben wird, ihre Forschungen mit er­wei­terten Fragestellungen fortzuführen, denn sowohl in Bezug auf das spezifische, von ihr ausgewertete Quellenmaterial als auch in Anbetracht des komparatistischen Ansatzes, der Gender-Sicht so­wie der in der Missionshistoriographie relativ wenig untersuchten Region und in einigen anderen Fragen hat sie Bahnbrechendes geleistet.