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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1286–1288

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Heinz u. Klaus D. Hildemann [Hrsg]

Titel/Untertitel:

Nächstenliebe und Organisation. Zur Zukunft einer polyhybriden Diakonie in zivilgesellschaftlicher Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 464 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 37. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03108-5.

Rezensent:

Eberhard Hauschildt

»Hybrid« und »Zivilgesellschaft« – »Welche neuen Chancen für die Diakonie ergeben sich aus einer Kombination dieser beiden Konzepte, welche Gefahren sind damit verbunden? Um diesen Fragen nachzugehen«, so das Vorwort der Herausgeber, habe die Sektion Praktische Theologie ein Projekt initiiert. »Der Stand und die (vorläufigen) Ergebnisse sind in diesem Buch zusammengestellt. Es dokumentiert die diesbezüglichen Diskurse aus Theologie, Diakonie-, Sozial- und Rechtwissenschaft, Psychologie und Ökonomie.« (5) Allerdings wird man – so lehrt schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis – vielleicht die Ankündigung nicht zu streng nehmen dürfen. Von den 20 Artikeln gibt es nur zwei, die durch jeweils einen der beiden programmatischen Begriffe bestimmt sind. Und die zusätzliche material gehaltene Einleitung von H. Schmidt plädiert für das »Polyhybrid«.
H. Schmidt setzt historisch bei den Anfängen der christlichen Kirche ein (Organisationscharakter und Nächstenliebe-Ausrichtung), bevor er zur modernen Diakonie kommt. Bei der Rede vom »Hybrid«, so heißt es, »fehlt […] freilich jede genauere Verhältnisbestimmung zwischen den potentiell divergierenden Interessen oder Logiken«; das »reduziert bereits ihre [der Diakonie-Organisationen] Komplexität, weshalb der Untertitel dieses Buches die Diakonie als polyhybrid qualifiziert« (19). Als Charakteristikum polyhybrider Organisationen gilt zugleich, dass »die eigene Wertorientierung« nicht verdrängt wird und »eine ethische Normierung des hybriden Systems für sein Funktionieren im Sinn der Zielsetzung unabdingbar ist« (22).
Der materiale Artikel zur Hybrid-Thematik von J. Eurich folgt freilich Schmidt hier nicht, wie der Begriff des Polyhybrids auch sonst in der Literatur unbekannt ist, auch bei Adalbert Evers, dem wichtigsten deutschsprachigen Autor zu Nonprofit-Organisationen als Hybriden (A. Evers/U. Rauch/U. Stitz, 2002, A. Evers/B. Ewert, 2010 u. ö. ), auf den sich Schmidt und Eurich zentral beziehen. Eurich zeigt im Anschluss an Evers, wie bei Finanzierung, Or­ganisations-Steuerung, Governance/Zielbildung und Corporate Identity in Diakonieorganisationen den »Werten und Logiken« dreier Sektoren (Staat, Markt, Gemeinschaft) gefolgt wird (53). Fazit: Der Hybridcharakter muss für die Diakonie nicht ein Dilemma sein, sondern kann auch als Chance begriffen werden (60).
Der Hybridbegriff hat in der Diakoniewissenschaft in der Tat seine Zukunft noch vor sich. Auf sein Potential für die Diakoniewissenschaft prominent aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst der Herausgeber. Erstaunlicherweise übersehen wurde, dass er in der Praktischen Theologie sonst, und zwar in der Theorie der Organisation Kirche, schon zuvor Verwendung und Beachtung gefunden hatte (vgl. E. Hauschildt, PTh 2007; ders., Hauptvortrag auf der EKD-Synode 2007; und – sehr knapp in einem diakoniewissenschaftlichen Artikel in PTh 2006 – dies jeweils mit Verweis auf Evers und den diakoniewissenschaftlichen Entdeckungszusammenhang für Hauschildt: der Weiterbildungs-Masterstudiengang in Sozialmanagement an der ev.-theol. Fakultät in Bonn und darin die Beiträge des Haushaltsökonomen M. B. Piorkowsky, der bereits 2000 dazu veröffentlicht hat).
Auch der Begriff der Zivilgesellschaft begegnet übrigens schon recht früh und prominent in der evangelischen Kirchentheorie (so bei W. Huber, 1999, um damit die Staatsnähe der Institution Volkskirche zu relativieren). Im Buch rezipiert G. Masers Artikel den common sense zur seit den 1990er Jahren entwickelten Zivilgesellschafts-Perspektive und zielt ansonsten auf die Frage nach dem arbeitsrechtlichen Modell des Dritten Wegs (wobei das wegweisende Bundarbeitsgericht-Urteil 2012 noch nicht berücksichtigt werden konnte).
Die anderen Artikel des Bandes behandeln in lockerer Folge andere Thematiken. So ist die Programmatik des Vorworts mehr als ein Lesehinweis aufzunehmen. Ihm sei hier, unter Konzentration auf die Hybridperspektive, für den Überblick über die weiteren Artikel gefolgt: Dabei gehe ich davon aus: Das Hybrid-Konzept kann einerseits die Pluralität von Spannungen in einer begrenzten(!) Zahl von Logiken (vgl. die Drei Sektoren-Theorie und Verortung der Diakonie im intermediären Bereich) strukturieren und andererseits sich von einer kohärenten Supertheorie der Diakonie verabschieden, dabei gleichzeitig plausibel machen, dass in der Praxis, etwa im Handeln diakonischer Organisationen und ihrer Leitung, dennoch Integration und Synthese durchaus gelingen und eine Vielzahl von Varianten im Mix erscheinen.
Wie gehen, an der Hybridperspektive gemessen, andere Artikel des Bandes vor? 1. Einige Artikel arbeiten ohne Strukturierung in mehrere konträre Logiken. Th. Zippert strukturiert zur Diakonie im Gemeinwesen das Feld in vier einander ergänzende »Ebenen«; B. Städtler-Mach bleibt beim Dual von personaler »Beziehung« und »Wirtschaft«; Th. Schlag beschränkt sich auf die klassischen institutio­nellen Leistungen von Öffentlichkeit und Integration. 2. Es gibt Artikel, die die Kontradiktionen der Hybrid-Logiken für weniger ge­wichtig halten. Bei G. K. Schäfers Artikel lässt sich beobachten, wie der Autor inzwischen auch bei der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Diakonie Pluralität als ergänzend schätzt. Andere Artikel versuchen, dem Trend der 1990er Jahre entsprechend, die theologisch-institutionellen oder theologisch-gemeinschaftlichen Phänomene in eine ökonomisch-organisatorische Sicht zu überführen (R. Ziewas zur Diakonischen Identität, W. Neubauer zum Relationship-Management bei – auch religiöser – Pluralität, H. H. Hinterhuber zur Teamkultur). Bei H.-St. Haas werden aus Dienstleistern »Service-Intermediäre«. Andere Artikel verbuchen die kirchliche Seite der Diakonie als Ressource (A. Manzeschke zur »Nächstenliebe«; B. Weyel u. a. zu Psychohygiene durch Kirchengemeinden). 3. Manche Artikel verfremden durch die Zuführung einer anderen als der gängigen Logik die Sicht auf das Phänomen produktiv, so R. Hoburgs Rückfrage nach Inklusion und Exklusion bei antiken Sozialvorstellungen und christlicher Nächstenliebe und R.-Chr. Amthors Übersicht zur historischen Vielwurzligkeit der sozialen Berufe. 4. Manche Artikel sind der Hybridthese entgegengesetzt. Eine Logik wird zum Dach und soll gegen die anderen durchgesetzt werden. Be­sonders ausgeprägt ist das bei M. Linzbach, der auf eine »eindeutige Diakonie« zielt, die durch das kirchliche Recht gesetzt und durchgesetzt wird und abweichende Träger ausschließt (70; anders hingegen St. J. Giebel, der nach rechtlichen Spielräumen innerhalb des Labels Gemeinnützigkeit fragt). Eine andere, aus der älteren Debatte bekannte Argumentationsstrategie bietet K. Hildemann, der die eigene Sicht (hier eine tiefenpsychologisch-theolo­gische Anthropologie der Individuen) als grundsätzliche Einklammerung aller Or­ganisation in Stellung bringt. Der Verfasser »reklamiert da­mit auch für einen Theologen, der er ja auch [neben dem Psychologen] ist, eine grundlegende Freiheit für sich, anerkannte und erfolgreiche Theorien und Erkenntnisse in Frage zu stellen, weil er um die Vorläufigkeit und Vergänglichkeit menschlichen Wissens weiß und zuversichtlich der noch bevorstehenden Wahrheitsfülle entgegen sehen kann« (6). 5. Schließlich gibt es auch Artikel, die implizit das Hybrid abbilden, so M. Büschers Trias von Corporate, Public und Social (Ethical) Governance. A. Schröer setzt auf eine Balance aus feldspezifischen, nonprofit-spezifischen und ökonomischen Führungskompetenzen als Ziel der Ausbildung für Führungskräfte. M. Horstmann plädiert für eine handlungsfeldbezogene diakonische Reflexion.